Sterbehilfe: "Am besten so lassen, wie es ist"

Foto: Lilith Becker
Palliativmedizinerin Angelika Berg und Medizinethiker Kurt Schmidt auf der Palliativstation im Markuskrankenhaus Frankfurt am Main vor einem Gemälde von Achim Ripperger mit dem Titel "Dreifaltigkeit": "Am besten wäre kein Gesetz zur Sterbehilfe."
Sterbehilfe: "Am besten so lassen, wie es ist"
Wie wollen wir leben - wie sterben?
Palliativmedizinerin Angelika Berg und Medizinethiker Kurt Schmidt wünschen sich einen anderen Fokus für die Sterbehilfe-Debatte. Sie fragen: Was bedeutet Selbstbestimmung am Lebensende?

Am 6. November 2015 verhandelt der Bundestag vier Gesetzesvorschläge zur Sterbehilfe. Ein fünfter Antrag der ehemaligen Bundesjustizministerin Brigitte Zypries und der Abgeordneten Katja Keul hatte nicht genügend Anhänger gefunden, gilt nach dem Verlauf der Debatte im vergangenen Jahr und der Durchsicht der Vorschläge jedoch zunehmend als gute Möglichkeit: Kein neues Gesetz, keine neue Rechtslage.

Auch der Theologe Kurt Schmidt und die Ärztin Angelika Berg sprechen sich vorerst dafür aus, alles so zu lassen wie es ist. Denn einige der Gesetzesvorschläge würden bedeuten, dass "die aktuelle liberale Gesetzgebung in Deutschland eingeschränkt wird", sagt Medizinethiker Kurt Schmidt. Schmidt und Berg fänden es besser, das ärztliche Berufsrecht in den einzelnen Landesärztekammern zu vereinheitlichen. In zehn von 17 Landesärztekammern kann der ärztlich assistierte Suizid standesrechtlich verfolgt werden. 

Angelika Berg leitet das Palliativzentrum am Markuskrankenhaus in Frankfurt am Main, Kurt Schmidt, das Zentrum für Ethik in der Medizin am Markuskrankenhaus. "Wenn man abwägt, was erreicht werden soll und bedenkt, was mögliche Folgen sein könnten, ist es besser, man lässt es so, wie es ist", sagt Schmidt. Sterbehilfevereine, die kommerzielle Interessen verfolgen, sollten jedoch nicht erlaubt sein. Dass dies im Detail juristisch schwierig sei zu formulieren, dass nicht einzelne Ärzte anschließend strafrechtlich verfolgt werden könnten, habe die Debatte gezeigt. Im Sommer 2015 hatten 135 deutsche Strafrechtler von einem Gesetz abgeraten. Das Arzt-Patienten-Verhältnis sei seiner Natur nach nur eingeschränkt rechtlich regulierbar, sagen Berg und Schmidt. Deshalb sollte eine Hilfe beim Suizid in Grenzfällen als ärztliche Gewissensentscheidung zulässig bleiben.

Palliativmedizinerin Angelika Berg am 19. Oktober 2015 über die Gesetzesvorschläge zur Sterbehilfe, die am 6. November im Bundestag verhandelt werden.

Der Bundestag berät über ein Gesetz zur Sterbehilfe, weil sich die Mehrheit einig ist, dass sie geschäftsmäßige Sterbehilfevereine, wie den von Roger Kusch, dem ehemaligen Hamburger Justizsenator, nicht dulden möchte. Roger Kuschs Sterbehilfeverein, der seit 2012 im Handelsregister der Schweiz eingetragen ist, setzt sich laut des Registers "für das Selbstbestimmungsrecht des Menschen im Leben und im Sterben ein. In erster Linie verfolgt er das gesellschaftspolitische Ziel, dieses Recht in Deutschland nach Schweizer Vorbild zu verankern". Wer allerdings mehr zahlt, kann in Kuschs Sterbehilfe-Verein auch schneller einen Freitod kaufen und eine Beratung für das Leben sieht der Verein ebenfalls nicht vor.

Was ist ein selbstbestimmter Tod?

In manchen europäischen Ländern, wie Großbritannien, ist auch der assistierte Suizid verboten. In Belgien hingegen ist nicht nur der ärztlich assistierte Suizid, sondern sogar die Tötung auf Verlangen legal: Lebensmüde und depressive Menschen können dort beantragen, dass ihr Leben beendet wird. Seit 2014 ist die Euthanasie - der "gute Tod" durch Tötung auf Verlangen - auch für schwerkranke Kinder zugelassen. In Deutschland sollte diese Form der aktiven Sterbehilfe schon aufgrund der Geschichte keinen breiten Konsens finden können. Im Graubereich handeln Ärzte in Deutschland, wenn sie bei einem Suizid assistieren. Strafrechtlich können sie nicht verfolgt werden, solange der Suizid freiverantwortlich erfolgt ist.

"Was heißt in diesem Zusammenhang 'freiverantwortlich'?", fragt Kurt Schmidt. In Deutschland nehmen sich jährlich etwa 10.000 Menschen das Leben, die Mehrzahl aufgrund psychischer Erkrankungen, Depression, Verzweiflung. Die aktuellen Gesetzentwürfe hätten jedoch ganz andere Personengruppen im Blick, sagt Schmidt. Nämlich Menschen, für deren körperliche Erkrankung es keine lebensrettende medizinische Hilfe mehr gäbe, sie diese nicht annehmen könnten oder wollten. In jedem Einzelfall bleibe jedoch die Grundsatzfrage, ob jemand einem schwerkranken Patienten helfen darf, sich das Leben zu nehmen.

 

Umfragen versuchen stetig herauszufinden, wie sich Werte und Einstellungen innerhalb einer Gesellschaft verändern. In den Jahren 2014 und 2015 wurde mehrfach gefragt, ob sich die Bürger in Deutschland die Möglichkeit eines selbstbestimmten Todes wünschen. Einer Allensbach-Umfrage vom September 2014  zufolge sprachen sich 67 Prozent der Befragten dafür aus. Die Frage lautete:

 

"Zurzeit wird ja viel über aktive Sterbehilfe diskutiert. Das bedeutet, dass man das Leben schwerkranker Menschen, die keine Chance mehr zum Überleben haben, auf deren eigenen Wunsch hin beendet. Sind Sie für oder gegen die aktive Sterbehilfe?"

 

Für die aktuelle Gesetzesdebatte geht Angelika Berg die vom Allensbach-Institut gestellte Frage am Thema vorbei - denn keiner der Gesetzesvorschläge fordert, die aktive Sterbehilfe zuzulassen. Aktive Sterbehilfe bleibt auch nach der Verhandlung im Bundestag am 6. November verboten.

 

"Es geht nicht darum, dem Leben mehr Tage zu geben, sondern den Tagen mehr Leben"

 

Was bedeutet also 'freiverantwortlich' und was heißt Selbstbestimmung? "Unser 'Ich' verändert sich im Laufe des Lebens", sagt Angelika Berg. Menschen, die völlig unerwartet die Diagnose erhalten, dass sie sterben werden, gerieten oft in eine existenzielle Lebenskrise. "Ich denke an einen Patienten, der sein Schicksal als ungerecht empfindet. Vor ein paar Wochen noch hatte er große Pläne für sich und sein Leben, die mit der Diagnose unwiederbringlich relativiert wurden", sagt Angelika Berg.

 

"Der Patient bezeichnete das Leben in seiner Verzweiflung als völlig unfair." Eine Reaktion, die in persönlichen Krisensituationen nicht ungewöhnlich sei. Hier sei es Aufgabe der Palliativmedizin, dem Patienten zu verdeutlichen, über welche oftmals zahlreichen Ressourcen er noch verfügt. Diese Ressourcen könnten auch der verbleibenden Lebenszeit einen Sinn geben: "Gehen medizinische, psychosoziale, therapeutische aber auch spirituelle Maßnahmen Hand in Hand, eröffnen sie den verzweifelten Patienten neue Perspektiven für die verbleibenden Tage ihres Lebens", sagt Angelika Berg. Das Zitat: "Es geht nicht darum dem Leben mehr Tage zu geben, sondern dem Leben mehr Tage", von Cicely Saunders, Begründerin der modernen Palliativedizin, ist eines von Angelika Bergs Credos.

 

 

Was jetzt schon alles in Deutschland möglich sei, wüssten viele Menschen gar nicht, sagen Berg und Schmidt. Darunter fallen zum Beispiel Vorsorgevollmachten und die Patientenverfügung, die laut einer von der EKD in Auftrag gegebenen Studie immerhin schon knapp 35 Prozent der Befragten hatten. Zu Kurt Schmidts Aufgaben im Krankenhausalltag gehört es häufig, mit Angehörigen und dem Behandlungsteam den Willen eines Patienten herauszufinden, der sich aufgrund seiner Krankheitssituation nicht mehr direkt äußern kann. "Viele Menschen haben Angst, am Ende des Lebens lange leiden oder Schmerzen ertragen zu müssen. Wenn es keine Aussicht auf Besserung gibt, wollen sie auch ihre Angehörigen nicht belasten."

 

Berg und Schmidt begrüßen, dass es eine Debatte über die Sterbehilfe gibt. "Wir dürfen die Aufklärung dabei aber nicht vergessen", sagt Kurt Schmidt, der seit zehn Jahren in Bürgerseminaren am Agaplesion Markuskrankenhaus zu Patientenverfügungen berät. Denn jeder Patient hat das Recht, eine Behandlung zu verweigern oder zu beenden, auch wenn dies unmittelbar zu seinem Tod führt. Im klinischen Alltag sei dies eine ganz entscheidende Vorgabe im Rahmen eines Behandlungsauftrages, sagt Schmidt.

 

Angelika Berg und Kurt Schmidt wünschen sich, dass die Voraussetzungen immer weiter verbessert werden, dass die meisten Menschen gar nicht erst in die Notlage geraten, aus der heraus sie nach Suizidbeihilfe fragen müssen. Und wenn doch, dass diese Menschen vertrauensvolle und professionelle Partner an ihrer Seite wissen.