Im Herbst die Ernte einfahren...

Wolfgang Schürger
Blühende Heide in der Fischbeker Heide
Herbst, Alter, Generationen, Ernte
Im Herbst die Ernte einfahren...
Im meteorologischen Herbst fahren die Landwirt:innen die Ernte ein. Wie aber wird der Herbst des Lebens zu einer Zeit der Ernte?

Auch in Bayern gehen die Schulferien langsam zu Ende - ein untrügliches Zeichen, dass nun der Herbst beginnt. Meteorologisch hat er ja bereits begonnen, hier gilt der 1. September als Stichtag. Kalendarisch beginnt er mit der Tag-und-Nacht-Gleiche, die dieses Jahr auf den 22. September fällt.

Der Herbst ist die Zeit, um die Ernte einzufahren - in der Landwirtschaft im ganz wörtlichen Sinn, im Herbst des Lebens im übertragenen Sinn. Ich war vergangene Woche noch einmal in Südtirol unterwegs, unter anderem auf meiner Lieblingshütte: eine kleine Hütte wunderschön gelegen mit Blick auf den Rosengarten, inzwischen in dritter Generation von einer Familie geführt. Seit 30 Jahren bin ich fast jedes Jahr mindestens einmal dort, die Wirtsleute der zweiten Generation sind wenig älter als ich, es ist ein familiär-freundschaftliches Verhältnis entstanden.

Inzwischen sind die beiden in die Rolle der Senior:innen gerutscht: Oma und Opa, die freilich im Hintergrund - in der Küche - den Betrieb am Laufen halten. Den Betrieb und die wirtschaftliche Verantwortung haben sie bereits vor einigen Jahren dem jüngeren der beiden Söhne und seiner Frau übertragen. Beide haben in den letzten Jahren manches verändert - und die Hütte dadurch noch heimeliger und familiärer gemacht als sie das ohnehin schon immer war. Die Tradition der familiären Gastfreundschaft lebt so trotz mancher Veränderung fort.

Der meteorologische Herbst war in diesen Tagen deutlich zu sehen. In den Gespräch meinte ich aber auch spüren, dass die Wirtsleute der zweiten Generation in dieser neuen, veränderten Hütte stolz die Ernte ihres Lebens einfahren: Eines der Kinder hat den Betrieb übernommen, ihn fit gemacht für die Zukunft - und dabei so sorgsam und einfühlsam gearbeitet, dass die alte Tradition der Gastfreundschaft fortgeführt wird. Sie selber haben sich in die Rolle der Ältesten zurückgezogen: die gute Seele der Küche, so wie das schon bei der vorherigen Generation der Fall war.

Ich schreibe bewusst "Älteste" und nicht "Alte", denn auf dem Altenteil sind die beiden ja keineswegs - zurückgezogen und abgeschrieben. Sie sind präsent wie eh und je, aber im Hintergrund. Gelassener auch, mit weniger Verantwortung. Die Rollen sind neu verteilt, doch gerade davon, dass das Zusammenspiel funktioniert, hängt die Atmosphäre der Hütte ab.

Etwas bewusst an die nächste Generation übergeben, sich selbst einfinden in eine neue Rolle - das scheint mir die Herausforderung des Herbstes des Lebens zu sein. Wie schön, wenn das in Familien gelingt! (Die Mahnung, dass dies nicht immer so ist, hat Jim Jarmusch gerade in seinem mit dem Goldenen Löwen ausgezeichneten Film "Father, Mother, Sister, Brother" gekonnt in Szene gesetzt.) 

Als Queers haben die meisten von uns nicht die Chance (oder Herausforderung), etwas an die eigene, biologisch nächste Generation zu übergeben - auch wenn die Regenbogenfamilien mehr werden. Wie also stelle ich mich, wie stellen wir uns auf den Herbst des Lebens ein?

Ich selbst habe einen Beruf, der mich die meiste Zeit meines Lebens erfüllt hat. Als Pfarrer und Privatdozent hatte und habe ich viel mit Menschen anderer (jüngerer) Generationen zu tun. Die Zufriedenheit des Ernte-Einfahrens stellt sich bei mir immer ein, wenn ich sehe, dass ich jüngeren Menschen etwas mitgeben kann, das mir wichtig ist, oder sie bei für sie wichtigen Schritten begleite. Doch nicht alle können so erfüllt auf ihr Berufsleben zurück blicken. Was bleibt dann?

Ist es dann nur das, was der Psalm sagt: "Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig Jahre, und was daran köstlich scheint, ist doch nur vergebliche Mühe; denn es fähret schnell dahin, als flögen wir davon." (Ps 90,10) Bei manchen Mitmenschen meine ich solch eine Grundhaltung zu spüren: möglichst viel genießen, möglichst viel Erlebnisse mitnehmen, denn bald ist alles vorbei. Oft kommen sie mir dabei oberflächlich vor, manchmal wie auch im sechsten oder siebten Jahrzehnt noch pubertierende Jugendliche, die vor allem Fun haben müssen.

Der Psalmist blickt auf die Endlichkeit des Lebens und fährt fort: "Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden." (Ps 90,12) Manchmal ist es der Tod eines lieben Menschen, manchmal eine unerwartete "lebensverändernde" Diagnose, manchmal auch nur der Blick auf den metereologischen Herbst, die uns diese Endlichkeit des Lebens in Erinnerung rufen.

Gerade wer zu diesem Nachdenken über eine entsprechende Diagnose gekommen ist (in meiner Generation war das ganz oft ein positiver HIV-Test), fragt sich dann plötzlich: "Was ist mir wirklich wichtig?", "Was will ich auf jeden Fall noch gestalten, erleben, abschließen?" Die scheinbare Unendlichkeit der Möglichkeiten schrumpft auf eine begrenzte Anzahl zusammen - aber gerade so beginne ich, bewusst und achtsam zu leben. Und wenn dann neue Therapiemöglichkeiten auftauchen oder der Tumor erfolgreich und ohne Metastasen entfernt ist, dann ist jeder neuer Tag ein geschenkter Tag, für den ich dankbar sein kann.

Im Herbst des Lebens kann ich dann auf all diese Höhen und Tiefen des Lebens zurückblicken. Vielleicht werde ich sogar dankbar für manchen schweren Moment, weil dieser mich nach einiger Zeit Neues gelehrt hat.

Wenn ich so achtsam durch das Leben gehe, meiner Endlichkeit bewusst, dann frage ich mich auch immer wieder: "Was passt jetzt zu dieser Lebensphase?", "Was kann ich lassen, was will ich verändern?" Der Übergang in ein neues Lebensjahrzehnt oder einfach auch der meteorologische Herbst können ein guter Moment sein, diese Frage bewusst zu stellen. Vielleicht ist eine Visionssuche dann eine gute Form, ihr weiter nachzugehen...

Für mich hat so wirklich jedes Lebensjahrzehnt seine besondere Qualität gewonnen. Im Übergang zum Herbst meines Lebens kann ich zurückschauen in Dankbarkeit und ja, auch die schweren Momente in diesen Dank einbinden, denn in ihnen bin ich gewachsen. Und ich kann loslassen, kann Verantwortung weitergeben - und so vielleicht nicht nur älter und alt, sondern Ältester werden, der mit seiner Lebenserfahrung andere unterstützt und begleitet. So jemand kann dann wohl "alt und lebenssatt" sterben - was die Bibel ja auch kennt (zum Beispiel von Hiob, der in seinem Leben ja wirklich viel Leid erfahren hatte, Hi 42,17).

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