Let's talk about S**?

Let's talk about S**?
Bannerweisheit auf dem lesbisch-schwulen Stadtfest Berlin, 2009; Foto: Rainer Hörmann
Ein ehemaliger Seelsorger beklagt, dass Sexualität in der Corona-Krise kein Thema war. Möglicherweise war sie das auch schon vorher kaum. Sechs Annäherungen an ein aus dem Blick geratenes Thema, ohne zu viel über Sex zu sprechen.

In einem Interview mit dem "magazin.hiv" spricht Rainer Ehlers, bekannt als bundesweit erster evangelischer Aidsseelsorger, über seinen Umgang mit der Corona-Pandemie, über Eigenverantwortung und über die Bedeutung von menschlicher Nähe. Aus den vielen interessanten Äußerungen Ehlers löse ich eine heraus. Verärgert und enttäuscht habe ihn:

"Dass während dieser ganzen Corona-Krise Sexualität überhaupt kein Thema war. In der Aidskrise war es uns gelungen, Sexualität aus der Schmuddelecke herauszuholen, sodass in der Gesellschaft viel offener und freier darüber gesprochen werden konnte."

1. Statt Sexualität wurde, so ist meine Wahrnehmung, fast unentwegt über "Nähe" geredet. Und in der LGBTQ-Welt natürlich ganz viel von "Liebe". Beide Worte sind inzwischen allerdings "gereinigte" Begrifflichkeiten, die - zumal in der Kirche - stets das Bild der intakten Paarbeziehung resp. Familie hochhalten. Liebe ist eine Chiffre für ein Verbundensein, das die mühselige Kleinteiligkeit des Alltags generös weichzuspülen vermag. Singles und die Lebenswirklichkeit, dass in Beziehungen heutzutage eher die Trennung als das Zusammensein bis ans Lebensende die Realität ist, kommen nicht vor. Das wichtige und richtige Engagement für die gleichgeschlechtliche Ehe verdankt sich u.a. der Vorstellung, dass die Ehe einen angeblichen zügellosen Sexualtrieb, einen ausschweifenden Hedonismus einhegt. Verantwortung füreinander wurde und wird gegen eine suggerierte Verantwortungslosigkeit jener ausgespielt, die dem Modell der Ehe/Paarbeziehung nicht folgen wollen oder können.

2. Es ist sicher kein Zufall, dass das Interview mit Ehlers in einem Magazin der Deutschen Aids-Hilfe erscheint. HIV/Aids rückte Sexualität in den Bereich der Prävention von Krankheiten - und ich bin mir nicht ganz sicher, ob sie aus dieser Schublade, so zwischen HIV und Corona, wieder herausgekommen ist. Ohne Zweifel hat Sexualität etwas mit Gesundheit zu tun, aber weniger als Set von Regeln zur Krankheitsvermeidung, denn als Teil eines ganzheitlichen und erfüllten Lebens. Meist aber folgt in der (schwulen) "Community" allgemein die Rede über Sex und Sexualität inzwischen den Gesetzen einer überpädagogisierten Ratgeber-Welt: Wie fast alles ist auch Sex a) ein Problem und b) stets das Problem des/der anderen, für das (welch Wunder!) der Ratgeber eine Lösung parat hat.

3. Das andauernde Verstricktsein in den gesellschaftlich-politischen Kampf gegen Diskriminierung, für Menschenrechte (hierzulande und anderswo) hat die Selbstwahrnehmung der Community völlig überformt. Sexuelle Orientierung ist zwar der Dreh- und Angelpunkt, Sexualität als Teil unseres Leben selbst ist jedoch zum Randthema geworden und zunehmend geht uns eine Sprache dafür verloren. Das könnte auch die Wichtigkeit der CSD-Paraden erklären, weil sie öffentlich feiern, was davor und danach wieder dem Schweigen anheimfällt.

4. Einer möglichen Sprachlosigkeit steht eine Übermacht von Bildlichkeit entgegen. Das Internet bietet eine Flut an sexuell konnotierten Bildern, die aber auch alle Zwischentöne mit sich reißt und fortspült. Ganz abgesehen von der Markthaftigkeit, in die Sexualität durch die sogenannten Dating-Portale gezwungen wird. Eigentlich müssten sie Bewertungsportale heißen, denn wer hier Partner finden will, muss sich der öffentlichen Begutachtung aussetzen und selbst "Zärtlichkeit" wird nur mehr zu einem Ein-/Ausschlusskriterium der individuellen Check-Liste. Sexualität ist allerdings mehr als ein Aufaddieren von einzelnen Vorlieben und weit mehr als Abhaken einer Check-Liste nach dem Kriterium der Effizienz.

5. Von einer christlichen Kirche wünsche ich mir, dass sie an die Ganzheitlichkeit des Menschen erinnert und den Einzelnen nicht ständig zum Gegenstand von gutmeinender Fürsorge von oben herab macht, sondern ihn zum So- oder auch Anderssein ermutigt, Räume zum Nachdenken ermöglicht und dabei die Wichtigkeit eines ganzheitlichen Seins betont. Dazu gehört auch und gerade die Sexualität. Das hat etwas mit Scham zu tun, die leider nur allzu oft und, wie mir scheint, wieder in zunehmendem Maße zur Beschämung genutzt wird.

6. "Corona als Chance?" So wenig wie das HI-Virus lehrt uns auch Sars-CoV-2 nichts! Lehrreich ist eher die Art und Weise, wie wir auf die Situation reagieren. Krisen konfrontieren uns oft mit Verdrängtem. Sie sind selten die Ursache, sondern eher ein Momentum, das uns zur Beschäftigung mit schon vor der Krise existenten Befindlichkeiten drängt. Wenn wir also angesichts von Corona über fehlende Sexualität (bzw. die fehlende Rede über Sexualität) sprechen, lohnt es sich zu fragen, ob es denn vorher groß anders war. Nach Corona jedenfalls (wann immer dieses "nach" genau sein mag) wird es für die einen so sein, als müssten sie den Motor nur wieder einschalten. Für andere heißt es möglicherweise, eigene Ängstlichkeiten wahrzunehmen, anzunehmen und - wenn vielleicht nicht gleich, so doch auf mittlere Sicht - zu überwinden. In der Bibel wäre spätestens hier der Auftritt von Engelsscharen, die einem das sattsam bekannte "Fürchte dich nicht!" schmettern. Im realen Leben tut’s mitunter schon ein Engel, naja, vielleicht auch zwei oder ...

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