Europa ist eine Haltung

Europa ist eine Haltung
Die bevorstehende Europa-Wahl steht im Zeichnen des Erstarkens nationaler Interessen und anti-europäischer Strömungen. Das ist kein gutes Zeichen für Homosexuelle und Transgender und ihre Rechte. Ein Plädoyer für ein Europa, das selbstverständlich bleiben muss.

Das Schöne an Selbstverständlichkeiten ist ja, dass man nicht mehr über sie nachdenken muss. Auch queeres Leben vollzieht sich mittlerweile in beachtlichem Ausmaß im Rahmen und im Rahmenwerk europäischer Selbstverständlichkeiten. Das "schwule" Wochenende in einer anderen Stadt, aktiv von der Tourismusbranche beworben, die grenzüberschreitende Kooperation, wie sie beispielsweise von queeren Aktivist*innen aus München und Kiew (die Ukraine ist kein Staat der EU) gepflegt wird, der verbindende EuroPride, der in diesem Jahr übrigens in Wien stattfindet, oder das Treffen von christlichen Lesben-, Schwulen-, Bi- und Trans-Gruppen im Europäische Forum. "Kreuz & queer"-Bloggerin Kerstin Söderblom hat es in einem Bericht über ein solches Treffen einmal so formuliert: "Was für eine Wohltat sich gegenseitig zu unterstützen und zu segnen, sich Gutes zu wünschen und aufeinander aufzupassen."

Selbstverständlichkeiten führen aber oft dazu, dass sie nicht mehr wertgeschätzt werden. Dass sie möglicherweise nicht selbstverständlich bleiben, kommt einem meist erst dann in den Sinn, wenn sie gefährdet sind. Die Wahl zum europäischen Parlament Ende Mai findet in unruhigen politischen Zeiten statt. Da ist der Brexit, da ist das Erstarken nationalistischer Bewegungen, da sind Verwerfungen im weltweiten Miteinander. Für die queere Community - so man sich denn als zusammengehörig empfindet - steht viel auf dem Spiel. Nicht nur stehen unsere Rechte, teilweise auch unsere Unversehrtheit in einzelnen EU-Ländern, wie etwa Polen (aktuell: ein Streit um eine mit Regenbogen verzierte Jungfrau Maria), Ungarn oder Italien, unter Beschuss. Ein jüngstes Ranking der ILGA (International Lesbian, Gay, Bisexual, Trans and Intersex Association) Europe stellt auch eine Stagnation in Deutschland fest, was die dauerhafte Verankerung der Rechte queerer Menschen angeht, und listet unser Land hinter Malta, Belgien, Finnland u.a. auf Platz 15 (von 49).

Die EU hat in den letzten Jahren wesentlich zur Verbesserung der Situation von Homosexuellen und Transgender beigetragen. So entschied etwa der Europäische Gerichtshof 2018, dass alle EU-Staaten die Freizügigkeitsrechte von homosexuellen Ehepartnern anerkennen müssen, auch wenn in einem EU-Land selbst keine gleichgeschlechtliche Ehe ermöglicht wird. Hinsichtlich Aufenthaltsrecht, Arbeitsrecht sind Ehen also gleich zu behandeln. Beitrittskandidaten zur EU müssen Standards an Grundrechten und Minderheitenschutz erfüllen. So erwähnt der Fortschrittsbericht zu Serbien Anfang 2016 explizit auch die Situation von Homo-, Bisexuellen wie Transgender. Zwar seien Verbesserungen gemacht worden, doch es werde festgestellt, "dass die entsprechende Umsetzung nach wie vor mangelhaft ist, insbesondere, was die Bekämpfung der Diskriminierung gefährdeter Gruppen betrifft, einschließlich Menschen mit Behinderungen, Personen, die mit HIV infiziert bzw. an AIDS erkrankt sind, und LGBTI‑Personen". Auf der Internetseite der LGBTI Intergroup, also der Abgeordneten im EU-Parlament, die sich für die Rechte queerer Menschen einsetzen, finden sich "Briefings" (in Englisch), was bisher erreicht wurde, was noch getan werden muss.

Natürlich stehen europäische Regelungen (mitunter auch Versprechungen) immer im Streit mit nationalen Interessen und Eigenheiten. Doch die Tendenz hin zu einer verstärkten nationalen Abschottung und einer Abkehr von gemeinsamen Werten und gemeinsam getragenen Entscheidungen ist unübersehbar. Diese anti-europäischen Alleingänge gehen nie mit einer Verbesserung der Lage von Homosexuellen einher. Im Gegenteil: Der Verweis solcher Länder auf ihre angebliche "kulturelle Eigenständigkeit und Tradition" impliziert fast immer eine Diskriminierung von Lesben, Schwulen, Transgender - und nur allzu oft dient die Religion dann als zusätzliche Legitimation.

Europa und die sie auszeichnende politische Freiheit(en) sollten selbstverständlich sein und selbstverständlich bleiben. Die queere Community profitiert in hohem Maße davon. Wie es deutsche Parteien, die sich zur Wahl ins Europaparlament stellen, mit den Rechten von Schwulen, Lesben, Bi-, Intersexuellen und Transgender halten, das hat der Lesben- und Schwulenverband LSVD mit seinen Wahlprüfsteinen versucht herauszufinden und aufgelistet. Zudem haben europaweit Kandidat*Innen versprochen (Come-out-Pledge), sich für "Menschenrechte und die Gleichberechtigung von LSBTI in der EU" einzusetzen. Ein Blick darauf lohnt sich. In welchem Maße dies dann zusammen mit anderen wichtigen Kriterien bestimmt, wo das Kreuz auf dem Wahlzettel gemacht wird, muss jede und jeder Einzelne für sich entscheiden.

Europa mit seiner Offenheit, seiner Vielfalt, seiner Freiheit und seinem Frieden ist, trotz aller Mängel, eine gute Vision. Lesben, Schwule, Transgender sollten die Selbstverständlichkeit nicht allzu selbstverständlich nehmen, sondern ihren Teil zum Gelingen beitragen. Queere Community macht nicht an Grenzen halt: Sie ist international, sie ist europäisch. Darum ist Europa auch mehr als ein Konsumraum, mehr als politischer Streit. Europa ist eine Haltung.

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