Die Wahl der Wahl

Die Wahl der Wahl
Illustration: Detail aus dem Muster eines Wahlzettels zur Berliner Abgeordnetenhauswahl 2016
Eine seltsame Art von Protest findet bei Wahlen derzeit den Weg in die Landesparlamente. In Berlin wird dabei auch auf die Stimmen von Homosexuellen spekuliert. Doch um welchen Preis?

Wie viele andere habe auch ich ein Anfang September publiziertes "Berliner Manifest" unterzeichnet. Es wendet sich "gegen die Vereinnahmung sexueller Minderheiten durch rechtspopulistische und rechtsradikale Parteien, Gruppierungen und Publizist_innen". Es spricht sich aus "für eine Politik, die Vielfalt in unserer Gesellschaft als Chance begreift und die Errungenschaften unserer emanzipatorischen Bewegungen der letzten 50 Jahre mutig verteidigt und weiterführt". Verbunden ist es mit der Aufforderung an die Community, "nur für solche Parteien zu stimmen, deren Programm nicht im Widerspruch zu einer vielfältigen und offenen Gesellschaft steht, die von gegenseitigem Respekt getragen wird".

Das Manifest enthält diverse Forderungen, so etwa die völlige Gleichstellung von Lebenspartnerschaften mit der Ehe, das Adoptionsrecht für homosexuelle Paare, die Thematisierung von und Aufklärung über Homosexualität in den Schulen, die Rehabilitierung der Opfer durch den §175 in der Bundesrepublik, das Ende der Pathologisierung und der daraus resultierenden Diskriminierung von Inter* und Trans-Menschen - wie auch gegen sogenannte "Heilungsversuche".

Nur an einer Stelle wird explizit die Religion erwähnt:

"Wir stellen uns gegen alle religiösen und völkischen Vorstellungen, die uns vorschreiben wollen, was eine echte Familie ist oder wann, ob und mit wem wir Sex haben dürfen. Wir lehnen es ab, wenn Heterosexualität für wünschenswerter oder ‚gesünder‘ erklärt wird als Homo- oder Bisexualität."

Das Manifest wurde von einigen als Bevormundung durch "linke" Aktivistinnen und Aktivisten wahrgenommen und kritisiert. "TAZ"-Redakteur Jan Feddersen - seinerseits selbst Unterzeichner des Manifestes - bemängelte  die selbstgerechte Wortwahl und forderte stattdessen die Bereitschaft zur Auseinandersetzung mit Ängsten innerhalb der queeren Community:

"Ernstzunehmen ist nämlich, dass viele schwule Männer, lesbische Frauen und Trans*menschen bereit sind, die AfD zu wählen, weil sie das Gefühl haben, diese Flüchtlinge aus homophoben gesellschaftlichen Kontexten seien so aggressiv, dass die Nischen, in denen wir leben, nicht mehr sicher sind. Es gibt, mit anderen Worten, eine gefühlte Bedrohung bei vielen."

Zugegeben, ich weiß nicht genau, wie ein Diskurs über diese Ängste aussehen könnte, sollte er mehr beinhalten als das Bekunden von aufgestauten "Gefühlen". Früher hätte ich vermutet, dass es sinnvoll sein kann, erst einmal Dampf abzulassen (im Sinne des reinigenden Gewitters), um danach halbwegs sachlich weiter zu diskutieren. Heute bin ich mir nicht mehr so sicher, denn es scheint, als ob das "Dampf ablassen" diese Funktion gar nicht mehr erfüllt, sondern nur zu einer Steigerung der Überreiztheit führt, die jedes rationale Gespräch verunmöglicht. Dabei gibt es viele Fakten, die eine "gefühlte Bedrohung" durchaus relativieren könnte, ohne sie zu verharmlosen. Ich würde zudem argumentieren, dass auch einer gefühlten Bedrohung nicht mit diffusem Protest und Ausgrenzungsszenarien begegnet werden sollte.

So gibt sich die AfD in Berlin (keineswegs die AfD an sich) recht 'zurückhaltend', was den Umgang mit Homosexuellen angeht. Allerdings aus einer Position heraus, die in etwa so umschrieben werden kann: So, wie es jetzt ist, ist alles gut - und mehr braucht es auch nicht. Niemand soll diskriminiert werden, aber Diskriminierungsverbot im Grundgesetz, Ehe-Gleichstellung etc. bitte nicht, schon gar nicht Aufklärung an Schulen aufgrund von Bildungsplänen.

Während man also einerseits Homosexuellen keine weiteren Rechte zugestehen und die Privilegierung der Mann-Frau-Ehe gewahrt wissen will, sind diese aber als Wählergruppe gerade dann recht, wenn es um Flüchtlinge geht. Ende Juli fuhr ein Plakat-Wagen durch einen Berliner Szene-Kiez. Zu sehen war ein Männerpaar, dazu die Schrift: "Mein Partner und ich legen keinen Wert auf die Bekanntschaft mit muslimischen Einwanderern, für die unsere Liebe eine Todsünde ist."

Das mag man als klare Kante verstehen - in seiner Schwammigkeit ist das Plakat weit mehr ein gegeneinander Ausspielen von Gruppen unserer Gesellschaft. Formuliert wird das für rechtspopulistische Parteien typische "Wir gegen die". Das Plakat bestätigt eher "gefühlte Bedrohung" als dass es zu einem sachlichen Diskurs einlädt.

Im Berliner Manifest findet sich die Formulierung, es geht "um die Frage, in was für einer Gesellschaft wir leben wollen". Im Zusammenhang mit der gefühlten Bedrohung würde ich fragen: "In welcher Atmosphäre wird künftig schwul-lesbisches Leben stattfinden?" Darin könnte das "Gefühl" aufgehoben sein, wie auch ein Hinweis auf den Umgang damit. Mir ist unklar, wie in einem Klima der Konfrontation, der pauschalen Unterstellungen, der Abgrenzungen, der permanenten Polarisierung homosexuelles Lebens, homosexuelle Kultur verwirklicht werden soll. Wenn es eine Erfahrung jahrzehntelanger Arbeit für Akzeptanz gibt, dann die, dass letztlich Kooperationen mit den Gruppen einer Zivilgesellschaft nachhaltiger sind als Stellungskriege. Die AfD in Berlin verspricht eine Inklusion von Schwulen und Lesben in eine scheinbar homogene heterosexuelle Mehrheitsgesellschaft um den Preis der Exklusion anderer Gruppen und um den Preis des Verzichts auf Gleichstellung. Will man diese Vereinnahmung? Und - nicht unwichtig - wie sehen die Positionen der anderen Parteien aus?

Welche Bedeutung man den schwul-lesbischen Themen bei der Entscheidung für eine Partei einräumt, ist Sache jeder Wählerin, jeden Wählers. Darüber hinaus ist mir wichtig, welche Haltung eine Partei hinsichtlich eines guten Miteinanders in einer offenen, vielfältigen Gesellschaft einnimmt. Wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft, es gibt viele sich auch widersprechende Partikularinteressen. Ein Grundsatz wäre dabei: Statt zu spalten, das Gemeinsame denken (oder vielleicht wagen); statt eine homogene Gesellschaft durch Ausgrenzung dessen, was angeblich nicht hineinpasst, erzwingen zu wollen, eine vielfältige Gesellschaft, die Konflikte aushandeln kann, zuzulassen und zu ermöglichen. Auf Veränderungen kann man mit Tatkraft und der Haltung reagieren, dass sie - zum Guten für alle - bewältigt werden können - oder mit absurdem Gerede vom Bürgerkrieg. Das Erstere ist für mich christlich, das Letztere nicht.

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