Milliardäre klicken gut

Milliardäre klicken gut
Der merkwürdig zurückhaltende Umgang mit dem Wort "Mord". Nicht jede Frage, die die Bild-Zeitung aufwirft, ist falsch, und vielleicht sollten Journalisten beim Echtzeit-Berichten weniger twittern. In der Türkei zeigt sich eine neuartige Form von Facebook-Justiz. Außerdem: ob die Zeitung endlich/ schon ins Museum gehört; wann das vorerst letzte Altpapier erscheint.

Der vergangene Freitag war nachrichtlich zunächst ein normaler Tag. Gern wurde in faszinierender Echtzeit berechnet, ob denn Jeff Bezos noch reichster Mann der Welt war oder schon wieder nicht mehr, z.B. bei tagesschau.de. Boulevard-Bullshit, den es überall sonst auch gibt, bildet schließlich einen kaum wegzudenkenden Pfeiler der öffentlich-rechtlichen Grundversorgung. Wie ließe sich künftige Akzeptanz bei den Gebührenzahlern besser sichern?

Und als Spiegel Daily, die smarte Abendzeitung, dann wie an jedem Werktag um 17.00 Uhr kurz die Welt anhielt, taugte dasselbe Thema immer noch zur (frisch animierten) Topstory. Milliardäre klicken einfach gut, erst recht, wenn's Internet-Milliardäre sind.

Inzwischen hatte sich in Hamburg ein islamistischer Mord ereignet. In der schnellen Berichterstattung und ihrer Echtzeit-Begleitung in den sozialen Medien ließen sich alle gewohnten Mechanismen erkennen.

Zum Beispiel schrieben die einen (der Internetauftritt der Bild-Zeitung) "Täter rief 'Allahu Akbar'" schon früh in die Meldungs-Unterzeile. Andere schrieben in ihren Meldungen weiter unten "Berichte, wonach der Angreifer 'Allahu Akbar' gerufen habe, konnte [der Polizeisprecher Timo] Zill nicht bestätigen", was ein wenig so klingt, als sei es noch die Aufgabe der Medien, der Öffentlichkeit zu überbringen, was die Polizei sagt, aber absolut richtig war. Wieder andere hielten für gut, das gar nicht zu erwähnen und nicht einmal in der Überschrift darauf hinzuweisen, dass ein Mensch ums Leben gebracht worden war.

Dass von rechts bis weit rechts schnell versucht wird, solche Anschläge und alles, was dafür gehalten wird, in Echtzeit für eigene Zwecke zu vereinnahmen, ist längst bekannt. Unter dem Hashtag #barmbek gab und gibt es die volle Dröhnung von Vereinnahmungen zu lesen und zu sehen.

Dass klassische Medien ebenso schnell versuchen, solche Vereinnahmungen zu verhindern, ist auch nicht neu und war ebenfalls weiter zu beobachten. Vielleicht haben Tweets wie dieser oder dieser in der jeweiligen Twitter-Auseinandersetzung gesessen. Seither unterstreichen sie aber eher Eindrücke, dass Medien solche Themen gerne in den Vermischtes-Ressorts weiter unten zwischen Royals und den (dann auch runtergerutschten) reichsten Männern der Welt einordnen, und hässliche religiöse Aspekte, wann möglich, lieber nicht benennen möchten. Wahrscheinlich sollten Journalisten, die in Echtzeit berichten müssen, beim Berichten weniger twittern.

Vielleicht ist es sogar sinnvoll, durch das Wording der Berichterstattung "Applaus zumindest aus einer Ecke" vermeiden zu wollen, in diesem Fall der Islamisten (SZ-Meinungsseite heute). Aber ist dazu nötig, immerzu "Messerstecher" statt "Mörder" zu schreiben (und früh offensiv zu mutmaßen, "dass weniger seine religiöse Anschauung als vielmehr sein mentaler Zustand Ahmad A. zu der Tat verleitete")? Die Frage "Warum spricht kaum einer von 'Terror'?" ist nicht falsch, nur weil die Bild-Zeitung sie stellt.

Wenn Medien meinen, auf solch unterschwelligen Weisen Nachahmungstaten, Panik und vielleicht noch andere unerwünschte Reaktionen verhindern zu können, sollten sie zumindest das Konzept, das dahinter steht, offen benennen.

[+++] Ältere Medienbeobachter erinnern sich: Evangelisch.de ist 2009 als breit angelegtes Portal für "Nachrichten, vom Wahlkampf über Amokläufe bis zum Lotto-Jackpot" (welt.de damals) gestartet. Die "Online-Pressekonferenz" per Video, die dazu veranstaltet wurde, war seinerzeit wirklich innovativ. Seit 2010 erscheint das Altpapier auf diesem Portal.

Wenn Sie in den letzten Monaten häufiger auf Meldungen in den bunten Randspalten geklickt haben, haben Sie gesehen, dass evangelisch.de inzwischen evangelisch in einem engerem Sinn geworden ist. Im August wird es noch evangelischer, und das betrifft auch das Altpapier: Am 18.8. wird es vorerst letztmals erscheinen und an dieser Stelle durch ein wöchentliches Medienbeobachtungs-Format ersetzt.

Wir möchten gerne mit dem werktäglichen Altpapier weitermachen. Ob das irgendwo anders gelingen kann, muss sich zeigen. Eine Pressemitteilung ist gerade erschienen.

[+++] Wo bleibt das Positive? Dort, wo man gewohnt ist, ausschließlich Negatives zu erwarten, also in der Türkei?

Jein bis nein, würde Ali Celikkan in der TAZ sagen. Zwar sind im Cumhuriyet-Prozess am Freitag (Altpapier) doch noch keine Urteile gefällt, sondern die meisten der in diesem Fall angeklagten Zeitungsmitarbeiter sogar vorläufig freigelassen worden (reporter-ohne-grenzen.de). Doch

"die Entscheidung der Richter, sieben Mitarbeiter der Cumhuriyet aus dem Gefängnis zu entlassen, die anderen vier aber nicht, hat nichts mit Recht zu tun. Alles ist abgekartet in diesem Prozess gegen den Journalismus."

Celikkan hat den Prozess aus der notwendigen sicheren Entfernung gesehen:

"Ihre Gesichter im Internetstream, wie sie ihre Lieben vor dem Silivri-Gefängnis umarmten. Irritiert sahen sie aus, aber stolz – sind sie doch durch die Mühlräder dessen gegangen, was von der türkischen Justiz übrig ist. Bärte sind ihnen gewachsen, sie haben abgenommen. Ich fragte mich, ob wir jemals wieder beisammen sitzen und Rakı trinken würden. Frei sind sie jetzt, doch in ihren Gesichtern ist etwas anderes zu lesen. Niemand von uns ist frei. Als Nation sind wir eingesperrt."

Can Dündar hat bei correctiv.org "Fehler und Absurditäten" des in den September vertagten Prozesses aufgelistet. Dass der Prozess immerhin nun "Widerstand gegen den Kurs des Präsidenten" Erdogan auch in seiner eigenen Partei auslöst, die er eigentlich ja noch absoluter beherrschen müsste als seinen Staat, glaubt der Tagesspiegel. Außerdem erinnert ebd. Helmut Schuümann an die gemeinsam mit ihrem Sohn in der Türkei eingekerkerte, staatsbürgerschaftlich nur deutsche Journalistin Mesale Tolu (45 Cent bei Blendle).

Neuen Nachschub für die Gerichtssäle organisiert sich die Türkei laufend weiter. Zunächst auf Facebook kursierte der dann als erstes vom Portal wuppertal-total.de und von der Westdeutschen Zeitung beschriebene Fall eines 45-jährigen Wuppertalers mit nur türkischer Staatsbürgerschaft:

"An der Grenze nahmen türkische Polizisten ihn fest. In einem Hinterzimmer habe man ihm Screenshots vorgelegt, die kritische Facebook-Postings über den türkischen Präsidenten Erdogan zeigten - veröffentlicht auf D.s Profil in dem sozialen Netzwerk. Nach einem Schnell-Prozess per Video-Chat wurde er mit einer Ausreise-Sperre belegt - und darf die Türkei nicht mehr verlassen. Einmal wöchentlich muss er sich bei den Behörden in der Provinz Sivas melden ... bis zu seinem Prozess. Denn Kritik an Erdogan ist in der Türkei strafbar. Wird er verurteilt, drohen mehrere Jahre Haft."

Auf wuppertal-total.de gibt's inzwischen eine Videobotschaft des Festgehaltenenen (und weiteres Medienecho). Sollte es zu diesem Prozess kommen, dürfte es zumindest für Deutschland das erste Beispiel einer neuen Art "Facebook-Justiz" sein, bei der die Justiz am Wohnort des Beschuldigten nicht eingeschaltet war, und die unergründlichen Arvato-Löschbrigade (vermutlich) auch nicht. Sondern bloß eine, nun ja: Justiz von ganz woanders, bei der Postings Ärger ausgelöst haben.

[+++] Was haben

"Spielkarten, Glocken, die Feuerwehr, die Blockflöte, ... Tabak oder auch ... Flipperautomaten"

der guten alten Zeitung voraus? Ihnen gilt bereits ein "Museum von nationalem Rang". Auf der Medienseite der Samstags-FAZ holte der emerierte Mainzer und Eichstätter Professor Jürgen Wilke weit aus, um die lange Geschichte, wie schon mal deutsche Zeitungsmuseen  gegründet werden sollten, zu erzählen.

Es geht um Pläne, die es einst in Leipzig gab, ein Museum, das es noch vor kurzem in Meersburg gab, und um die Museen, die es in Wadgassen im Saarland und in Aachen (über das ich auch mal bloggte) gibt, die aber nicht als das funktionieren, was Wilke vorschwebt. Schließlich geht es um große schöne Pläne, die nun bitte endlich in Augsburg verwirklicht werden sollen (vgl augsburgwiki.de). Die harte News dabei lautet:

"Die größte Hürde ist bisher die Finanzierung der laufenden Kosten. Welke beziffert den Finanzbedarf auf etwa eine Viertelmillion Euro pro Jahr. Das ist auch angesichts sonstiger Aufwendungen im Kulturbereich nicht allzu viel. Aber solche Anforderungen stehen immer in Konkurrenz zu anderen Vorhaben und Wünschen. Die Stadt Augsburg sieht dafür bisher keinen Spielraum in ihrem Kommunalhaushalt. Interesse des Freistaats Bayern wurde signalisiert, doch ..."

stellt sich die Frage, ob so ein Zeitungsmuseum wirklich gewünscht wird. Hätte es nicht auch Symbolcharakter, wenn die Zeitung gerade jetzt pompös ins Museum kommt? Wilke:

"Im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts noch ein Zeitungsmuseum einzurichten könnte manchen vielleicht als anachronistisch erscheinen. Steht dieses publizistische Massenmedium doch heute in scharfer Konkurrenz im Internet."

Viele im Internet würden sicher sagen, dass die Konkurrenz längst entschieden und nur noch die Frage ist, ob die letzten gedruckten Zeitungen in den 2020ern oder doch erst in den nächsten 30er Jahren erscheinen werden. Doch dass auf der Einnahmeseite Zeitungen immer noch deutlich mehr hermachen als Onlinejournalismus, ist ein wesentlicher Teil des deutschen Medienlandschaft-Problems.

[+++] Und das Riepl’sche Gesetz ... (weiter im Altpapierkorb)


Altpapierkorb

+++ Und das Riepl’sche Gesetz gilt immer noch, obwohl auch schon über 100 Jahre alt! Gerade erst weitete Stefan Stuckmann es in der TAZ auf das lineare Fernsehen und besonders die deutschen Privatsender im Angesicht des nichtlinearen Streamings aus: "Und auch im Vergleich zu YouTube ist für Privatsender nicht alles verloren: denn je breiter das Angebot, desto niedriger die einzelnen Budgets. Ein LeFloid wird immer schneller produzieren können als Joko und Klaas, aber nur Joko und Klaas können aufwendige Shows mit großem Bühnenbild stemmen. Und es gibt noch einen dritten Punkt: den der Kuratierung. Alle Streamingdienste schlagen mir immer passgenauere Inhalte vor – trotzdem muss immer ich eine Auswahl treffen. Der Blick in andere Branchen zeigt, dass es immer eine Zukunft gibt für Firmen, die mir diese Auswahl abnehmen. Der Trick liegt hier, wie bei Radiosendern, in der konsequenten Herausarbeitung einer Programmstimmung, auf die sich der Zuschauer zu jeder Zeit verlassen kann." +++

+++ Letzte Woche war agentin.org hier Thema, also das von der Heinrich-Böll-Stifung betriebenen "Anti-Feminismus-kritische Online-Lexikons" "Agent*In" "(Abkürzung von Anti-Gender-Networks Information)". Neue Einschätzungen dazu: Da sei "die Böll-Stiftung ... in eine Falle getappt und hat einfache Muster ihrer Gegner übernommen. Rechtspopulisten und Antifeministinnen haben es mit ihrer Kritik einfacher, denn sie hauen wilde Thesen raus. Um von progressiver Seite darauf etwas zu entgegnen, braucht es Zahlen, Fakten und transparente Arbeitsweisen. Die fehlen bei der 'Agent*in'", fand Carolina Schwarz in der TAZ. +++ Kathleen Hildebrand (Süddeutsche) hat die Macher befragt und Verständnis für ihre Argumentation. Und sie kennt das Gegenstück wikimannia.org, gegen das agentin.org sich vermutlich richtet. Doch bleibe "dieses mulmige Gefühl. Zum einen liegt das an der Form. Sie erinnert an Karteien - die Stasi-Akten oder die 'schwarze Liste', von der [Neue Zürcher-Chefredakteur] Eric Gujer in seinem NZZ-Newsletter spricht, liegen da als Assoziationen nahe". Und "einen seriösen Eindruck macht es nicht, wenn in einem Eintrag steht, dass ein evangelischer Pastor 'der Anti-Choice-Bewegung nahezustehen scheint'. Auch wenn die oft vagen Formulierungen juristisch bedingter Vorsicht geschuldet sein mögen". +++ Der heterodoxe Handelsblatt-Redakteur Nobert Häring fragt in seinem Blog Stefan Niggemeier, ob er gerne als agentin.org-Beleg gegen Harald Martenstein fungiert. +++ 

+++ Wow, eine echte technische Innovation mitten in Berlin: Morgen startet das Experiment mit "softwaregesteuerter Gesichtserkennung am Bahnhof Südkreuz" von Bundespolizei, BKA und Deutscher Bahn (netzpolitik.org, heise.de). +++

+++ "International gibt es viele, die sich nun verwundert die Augen reiben, weil eine kleine deutsche Firma namhaften US-Milliardenkonzernen noch etwas beibringen kann – was sich übrigens ziemlich gut anfühlt": Da spricht Dan Maag, Matthias-Schweighöfer-Partner von hinter den Kameras, im Welt-Interview über pantaflix.com. +++

+++ "Offenbar auf Wunsch der chinesichen Behörden hat Apple einige Apps aus seinem chinesischen iOS-Store entfernt, mit denen man das stark reglementierte Internet in China umgehen konnte" (heise.de). +++ "'Think different', der Spruch, mit dem Apple aufstieg, gilt für Chinesen nicht mehr" (FAZ-Wirtschaftsressort dazu). +++

+++ Ein Bundesgerichtshofs in Virginia, USA, hat "ein Urteil gefällt, wonach Politiker nicht so einfach Kritiker auf Facebook blocken dürfen", berichtet futurezone.at mit Bezug auf und Link zu engadget.com. Das könnte noch Folgen bis hin zum beliebten Twitter-Account des amtierenden US-amerikanischen Präsidenten haben. +++

+++ "Nur weil Journalisten sich in den vergangenen Monaten schon viele Gedanken über das Thema gemacht haben, weil es ihren Beruf betrifft, muss das für das normalinteressierte Fernsehpublikum nicht ebenso gelten". Insofern gut, dass die ARD heute in ihrer Spätschiene ein "Fake-News"-Special aus zwei neuen Dokus bringt (Süddeutsche). +++

+++ Praktisch zum Ausdrucken, Ausschneiden und auf den Fernseher Legen (sofern Sie über ein Röhrengerät verfügen): die Tagesspiegel-Übersicht zur neuen Bundesliga-Saison in Fernsehen, Radio und Internet. +++ Alles, aber auch wirklich alles zum Amazon-Angebot (z.B., ob Prime-Kunden auch Audioübertragungen vom DFB-Pokal hören können) hat die Medienkorrespondenz zusammengetragen. +++

+++  "Das gibt's doch nicht! Ein zufriedener Lobbyist." - "Ganz so ist es nun auch wieder nicht ...": Im entspannten Gespräch zweier Tagesspiegel-Redakteure mit dem Filmproduzenten-Lobbyisten Christoph Palmer geht's vor allem um die vielfältige deutsche Filmsubventionen-Landschaft (und erst am Ende um den Rundfunkbeitrag, was Joachim Huber, der Fuchs, dann zur Überschrift machte). "Es ist schlicht großartig, was das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Deutschland leistet in dieser Welt von Fake News und zunehmender Verdummung. Dass wir ein solches Qualitätsfernsehen haben mit dieser Verlässlichkeit und Relevanz, das ist etwas, auf das wir stolz sein können", sagt Palmer, auch ein Fuchs, natürlich. +++

+++  Johanna Adorján hat "eine Woche mit der deutschen Regenbogenpresse" verbracht (Süddeutsche). +++ Und "klar: Netflix-Snobs sind hier nicht eingeladen", aber Fans des Bud-Spencer-Kumpans Terence Hill. Harald Keller hat da was für die TAZ entdeckt. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Dienstag.

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