Auf zu neuen Leveln

Auf zu neuen Leveln
Über die Berichterstattung über den Anschlag in Nizza lässt sich noch wenig sagen. Dafür umso mehr über einen öffentlichkeitswirksamen Ausstieg aus der Öffentlichkeit, Fehler, bei denen alles richtig gemacht wurde, das Honorar von Mehmet Scholl aus Sicht der Beitragszahler, eine Pop-up-Zeitung für Remain-Wähler und den Kaumuskel von Matthias Schweighöfer.

Wieder so ein Morgen, an man Medienmeldungen zusammensuchen will und auf Berichte über einen Terroranschlag trifft. Die erste Reaktion der Medienmedien: Hat Richard Gutjahr, der als Augenzeuge vor Ort war, als solcher im Nachtmagazin auftrat, sein Filmmaterial der ARD zur Verfügung stellte und eben keinen Pericope-Livestream sendete, das Richtige getan? Seine Meinung:

###extern|twitter|gutjahr/status/753721819610378241###

Vocer hat daraufhin gleich mal ein Interview mit Gutjahr über die journalistischen Möglichkeiten von sozialen Medien und u.a. auch Periscope aus dem Keller geholt. Ich finde nicht, dass das in der aktuellen Situation wichtige Erkenntnisse bringt, aber jeder muss sehen, wo er bleibt, und was er am besten kann.

Womit wir zu den Medienthemen kommen, zu denen sich um diese Uhrzeit schon etwas sagen lässt.

[+++] Stellen Sie sich vor, ihr bisheriger Job erfüllt Sie nicht mehr. Über Jahre haben Sie im Rampenlicht Fernsehsendungen moderiert, doch dann hat Sie die Ahnung beschlichten, dass das nicht alles sein könne. Dass sie endlich mal etwas gesellschaftlich Relevantes machen wollten. Dass es Dinge gebe, die wichtiger seien.

Was machen Sie?

Tobias Schlegl hat diese Erkenntnisse dem Wochenmagazin Stern (Blendle-Link, 65 Cent schwer) mitgeteilt. Schließlich macht so ein Ausstieg aus der Öffentlichkeit wenig Spaß, wenn niemand ihn mitbekommt. Und mitbekommen hat man ihn.  

„Ich stand 21 Jahre lang vor der Kamera. Das war ein großes Privileg. Und dennoch hatte ich das Gefühl, mein Leben ist bisher wie ein Computerspiel verlaufen: Alle Level sind durchgespielt. Ich bin fertig. Ich sagte mir: Das kann nicht alles sein.“ (Meedia)

„Ich stand 21 Jahre lang vor der Kamera. Das war ein großes Glück und Privileg. Und dennoch hatte ich das Gefühl, mein Leben ist bisher wie ein Computerspiel verlaufen: Alle Level sind durchgespielt“. (DWDL)

„Er habe das Gefühl gehabt, sein bisheriges Lebens sei wie ein Computerspiel verlaufen: ,Alle Level sind durchgespielt. Ich bin fertig. Ich sagte mir: Das kann nicht alles gewesen sein.’“ (Hamburger Morgenpost)

"Ich stand 21 Jahre lang vor der Kamera. Das war ein großes Glück und Privileg. Und dennoch hatte ich das Gefühl, mein Leben ist bisher wie ein Computerspiel verlaufen: Alle Level sind durchgespielt". (Hamburger Abendblatt)

„Und dennoch hatte ich das Gefühl, mein Leben ist bisher wie ein Computerspiel verlaufen: Alle Level sind durchgespielt. Ich bin fertig.“ (Zeit Online)

„Dennoch habe er das Gefühl, sein Leben sei wie ein Computerspiel verlaufen. ,Alle Level sind durchgespielt’“. (Sueddeutsche.de)

„Ich stand 21 Jahre lang vor der Kamera. (...) Ich sagte mir: Das kann nicht alles sein. Deshalb will ich nun hauptberuflich Notfallsanitäter beim Deutschen Roten Kreuz werden“ (Tagesspiegel)

„Nach 21 Jahren vor der Kamera, mit Stationen bei Viva, Pro Sieben, dem NDR und ZDF, sei ihm klar: ,Das kann nicht alles sein.’ Deshalb will er Notfallsanitäter beim Deutschen Roten Kreuz werden.“ (faz.net)

Ich könnte stundenlang so weitermachen, aber Sie ahnen bereits: Die 65 Cent für den Stern-Artikel bei Blendle müssen Sie nicht ausgeben. Dafür dürfen Sie sich bei einer Vielzahl an Journalisten bedanken, denn alle oben verlinkten Texte tragen Spuren redaktioneller Bearbeitung.

Um kurz selbst einmal Schlegl aus dem Stern-Interview zu zitieren:

„Bildungsfernsehen zu machen ist ja schön und gut, aber es gibt dann doch noch Dinge, die wichtiger sind.“

Für manche Kollegen gehörte gestern dazu, ein Interview hinter einer Bezahlschranke wegzuparaphrasieren und damit ziemlich öffentlich zu machen, dass eine öffentliche Person nicht mehr öffentlich arbeiten möchte.

Jetzt sind alle Level durchgespielt.

[+++] Paul-Josef Raue, Ex-Chefredakteur der Magdeburger Volksstimme, der Braunschweiger Zeitung (Offenlegung: während ich dort volontierte) und der Thüringer Allgemeinen sowie stellvertretender Sprach-Papst, hat einen Fehler gemacht. Könnte man glauben, wenn man seine aktuelle Kolumne über das Jahrestreffen des Netzwerks Recherche am vergangenen Wochenende bei kress.de und deren „Korrektur“ betrachtet.

„In der ursprünglichen Fassung gab es Fehler, die in der aktuellen Fassung gestrichen sind: Zitate von Hans Leyendecker, Kuno Haberbusch, Jakob Augstein, Carolin Emcke und Georg Mascolo stammen aus der Jahreskonferenz 2015. Leyendecker und Emcke waren laut Referentenverzeichnis in diesem Jahr nicht auf den Podien“,

steht dort, doch schon der Satz mit dem Referentenverzeichnis deutet an: Eigentlich hat Raue alles richtig gemacht. Denn er hat auch 2016 Leyendecker und Emcke auf Podien des NR gesehen. Nur halt bei Youtube, in Mitschnitten aus dem Vorjahr.

Aber lassen wir ihn selbst zu Wort kommen, mit dem Zitat, das er Stefan Niggemeier für Übermedien als Erklärung dafür zur Verfügung gestellt hat, wie „dem erfahrenen und von sich geschätzten Chefredakteur“ (Niggemeier) so etwas passieren konnte – zumal er selbst in Hamburg war.

„Statt mich auf meine eigenen Beobachtungen bei der Jahrestagung zu verlassen, was ausreichend gewesen wäre, habe ich auch in den Tweets, Blogs, Fotos usw. zur Tagung geschaut und bin dabei auch in die vom vergangenen Jahr gerutscht (ohne es zu merken).“

Merke, lieber Journalistennachwuchs: Recherchiere lieber nicht zu viel! Oder zumindest nicht immer nur in eine Richtung, denn wenn Raue einen Teil seines Rechercheeifers auf andere Stellen seines Textes geworfen hätte, wäre ihm vielleicht aufgefallen, dass es kein guter Stil ist, sich selbst in einer Reihe von Experten als allererstes zu zitieren, und dass die von ihm erwähnte Kommunikationswissenschaftlerin Barbara Baerns vor fünfzig Jahren noch nicht über den Einfluss von PR auf den Journalismus forschte. Das kam erst im Laufe der 1980er. (Die Kommunikationswissenschaftlerin in mir winkt an dieser Stelle der Determinationsthese zu und bedankt sich bei Frau Baerns, die ihr diese zwischen diversen Rauchpausen im Henry-Ford-Bau der FU nahebrachte.)

Woraus wir lernen: Fehler passieren. Doch man kann diese so viel souveräner und charmanter korrigieren als PJR und der ebenfalls die Korrektur zeichnende Bülend Ürük. Da konstruktiver Journalismus gerade so stark im Kommen ist, hätte ich sogar drei Vorschläge, wie:

  • „Dies war nur ein Test. Haben Sie etwa meinen letzten Tweet nicht gelesen? Das war ,auf Entlarvung angelegter Betrug'. ;-)"
  • „Wenn die 1980er 50 Jahre her sind, wie von mir errechnet, bin ich selbst ungefähr 205. Einem so alten Mann muss man so etwas nachsehen.“
  • „Ich habe jahrelange Erfahrung darin, Dingen neue Namen zu verleihen. Airbag? Prallkissen! Laptop? Klapprechner! Public Viewing? Rudelgucken! Hiermit erkläre ich, dass echte Freunde der deutschen Sprache 2015 2016 nennen, und schon passt es wieder.“

Mailand oder Madrid – Hauptsache Italien!

[+++] Um noch kurz bei den Schönheiten der deutschen Sprache zu bleiben: Hier die besten szenischen Beschreibungen aus dem Aufmachertext der FAZ-Medienseite heute, für die Axel Weidemann am Set der deutschen Amazon-Serie „You are wanted“ (Regisseur, Produzent, Autor, Darsteller: Matthias Schweighöfer) war (Blendle-Link):

„Vielstimmiges Getuschel, Husten, das Scharren Hunderter Füße, brutzelndes Fett irgendwo hinten im Raum. (...) Vor den Industriefenstern fegt der Wind mit einem lauten ,Klong’ über eine Metallbegrenzung (...) Jetzt sitzt er (Schweighöfer, Anm. AP) in seinem Trailer, ein Minizimmer auf Rädern mit Sofa, Kühlschrank und Waschbecken, an der Schiebetür ein Schild: ,#1 Lukas Franke’. Er antwortet konzentriert, knapp und ernst. (...) Die (Komparsen) erwachen an den Bierzeltgarnituren zum Leben und vertiefen sich schweigend ins Gespräch. Lächeln, Lippen bewegen, essen. (...) Hier stolpert wer ins Bild, dort will jemand mit einem Kaffee-Tablett die Route queren und am Eingang will eine Fahrradfahrerin partout nicht einsehen, warum sie ihren Weg zur Arbeit verändern soll. (...) Wenn Schweighöfer spielt, geht die Spannung mit einer Wellenbewegung durch sein Gesicht. Ein Zucken der Augenbrauen, dann die Kaumuskeln an den Schläfen, gefolgt vom Zusammenpressen der Kiefer und schließlich ein Schlucken, das den Adamsapfel auf und ab bewegt.“

Als wäre man selbst dabei gewesen. Allerdings in zu großer Nähe.


Altpapierkorb

+++ „Ich stehe jeden Tag auf unterschiedlichste Weise in Verbindung mit überzeugten Kritikern des Rundfunkbeitrags. Denen zu sagen: ,Es gibt keinen Weg am Rundfunkbeitrag vorbei, wir sagen euch aber nicht, was wir zum Beispiel bei den Expertenverträgen mit dem Geld der Beitragszahler machen’, passt einfach nicht mehr in die Zeit. Wir müssen daher alles daransetzen, das zu ändern.“ Sagt SWR-Justiziar Herman Eicher im Interview mit Joachim Huber vom Tagesspiegel. +++

+++ Google bekommt weiteren Ärger mit EU-Wettbewerbshütern, die dem Konzern vorwerfen, „durch seine dominante Marktposition die Werbemöglichkeiten von Wettbewerbern bewusst einzuschränken und Google-eigene Werbung zu bevorzugen.“ (sueddeutsche.de) +++

+++ Dass journalistische Angebote aufgrund zu großer Nachfrage zusammenbrechen, passiert auch nicht täglich. Correctiv ist es gestern mit der Datenbank so ergangen, in der zusammengetragen wurde, wie viel Geld deutsche Ärzte von Pharmafirmen bekommen. Ein Interview zum Thema hat Markus Grill Meedia gegeben, und Veröffentlichungspartner Spiegel Online bietet neben einem Artikel auch eine schöne Pressemitteilung. +++

+++ „Chefredakteur Matt Kelly sagt, das Projekt sei vorerst auf vier Ausgaben begrenzt, danach seien die Verkaufszahlen quasi ein wöchentliches Referendum über die Zukunft der Zeitung. Jede Edition sei ,ein Sammlerobjekt’, was man bei zwei Pfund pro Ausgabe auch erwarten muss.“ Philip Oltermann, Berlin-Büroleiter des Guardian im aktuellen Freitag über The New European, die Pop-up-Zeitung für den Remain-Voter. +++

+++ „Wenn die ARD-Darbietungen unterm Strich unterhaltsamer waren, lag das vor allem an Kahn, der auch als Experte so ehrgeizig wirkt wie in seinen Profijahren und stets das Gefühl vermittelt, Fußball dürfe eigentlich keinen Spaß machen.“ Tilmann Gangloff zieht im aktuellen epd medien das große UEFA-EURO-2016-Berichterstattungsfazit (nicht online). Außerdem beschäftigt sich Victor Henle mit Medienregulierern, die sich auf europäischer Ebene zu schönen Konstrukten wie der EPRA (European Platform of Regulatory Authorities) oder ERGA (European Regulators Group for Audiovisual Media Services) zusammengeschlossen haben. +++

+++ Für die Medienkorrespondenz hat derweil Reinhard Lüke zusammengetragen, was bei der Medienversammlung der Landesmedienanstalt NRW Ende Juni zum Thema „Moral im Netz“ zu lernen war (Spoiler: Hatespeech ist ein Problem, aber keiner greift richtig durch, was auch ein Problem ist). Des Weiteren berichtet dort Volker Nünning über die geplante Novellierung des HR-Gesetzes, nach der der HR-Rundfunkrat auch muslimische Mitglieder bekommen und das Gehalt des HR-Intendanten Manfred Krupp veröffentlich werden soll. +++

+++ „,Bis jetzt hat uns deswegen noch keine einzige Beschwerde gegen die Zeitung erreicht’, sagt Lutz Tillmanns, der Geschäftsführer des Deutschen Presserats. ,Wir planen derzeit auch nicht, von uns aus ein Verfahren anzustrengen: Auch die Redaktion sieht das Ganze ja als Experiment.’“. Karoline Meta Beisel und Cornelius Pollmer auf der SZ-Medienseite über das Experiment der Sächsischen Zeitung, die Nationalitäten von Straftätern zu nennen (Altpapier). Außerdem geht es um die Arte-Doku „Der wahre Champion“, die der Frage nachgeht, warum im Sport immer wieder Rekorde fallen, und wie schnell Jesse Owens wohl auf einer Bahn mit vulkanisiertem Gummi auf Polyurethan-Kammern statt auf Asche gelaufen wäre. +++

+++ Wer sich Hoffnungen auf einen Emmy machen kann, steht bei DWDL. +++

+++ Was ProSiebenSat1 in der nächsten Saison zeigt (Altpapierkorb gestern), steht nun auch im Tagesspiegel, bei Horizont und dank dpa im Hamburger Abendblatt sowie auf den Medienseiten von SZ und FAZ. +++

Frisches Altpapier gibt es wieder am Montag.

weitere Blogs

Polyamore Menschen sind Teil unserer Kirche. Manche leben polyamor im Versteck, andere kämpfen offen für Akzeptanz und Gleichbehandlung in Kirche, Theologie und Gesellschaft. Katharina Payk hat mit zwei polyamor lebenden Menschen, die die Kirche mitgestalten, gesprochen.
Das päpstliche Symbol für den Vatikan als Wandgemälde
In Bonn können sie in einem besonderen Hotelzimmer übernachten
… oder wie Gott den Segen einwickelt