Das war nicht die perfekte Welle

Das war nicht die perfekte Welle
Die letzten Reiter auf der verbliebenen Gischt des Schmähgedichts und der Startschuss für eine Meta-Betrachtung des Gesamtkunstwerks. Außerdem muss RTL Günter Wallraff vorerst in den Schrank stellen, Blendle sagt lieber nichts zu seinen Zahlen, ein Magazin widmet sich der technikinteressierten Frau von gestern, und die neuen Pulitzer-Preisträger sind da.

Soweit wie Imre Grimm sind wir noch nicht. Der Medienredakteur des Madsackschen Redaktionsnetzwerks twitterte gestern Mittag (nachdem seine Redaktion noch rasch einen „So reagiert das Netz auf Böhmermanns Pause“-Artikel ins Netz gestellt hatte):

„Stand 13.32 Uhr planen wir für morgen tatsächlich eine Ausgabe ohne weitere Erwähnung von Jan #Böhmermann. Ich weiß nicht, ob ich das kann.“

Das letzte Altpapier, welches keine Spuren von Jan Böhmermann enthielt, erschien vor 19 Tagen, und nachdem in den vergangenen 58 Wörtern bereits zweimal sein Name fiel, ahnen Sie sicher schon, dass dieser Lauf auch heute nicht endet.

Dabei lautet meine Antwort definitiv „Ja“ auf die gestern von Stefan Niggemeier bei Übermedien formulierte Frage:

„Sind Sie auch so müde?“

Doch Ursula Scheer hat Recht, wenn sie heute auf der FAZ-Medienseite rekapituliert:

„Und nachdem schon Hinz und Kunz Je-suis-Böhmi gehashtagt haben, Böhmermann beim Grimmepreis Schulterklopfen in Abwesenheit bekam, Kai Diekmann ihm mit einem Fake-Interview huldigte, Springer-Chef Mathias Döpfner sich die Schmähkritik zu eigen machte, der ,Spiegel’ den Satiriker auf den Titel hob und endlich auch Margot Käßmann als ehemalige EKD-Vorsitzende das Thema entdeckte und Böhmermann pastoral zum Nichtwegducken aufforderte, der aber doch eine vierwöchige Fernseh- und Radiopause ankündigte (hunderttausendfach geliked auf Facebook), kommt nun um die Ecke gebogen, wer die Welle noch schnell reiten will, bevor sie verebbt.“

Und da sich auch diese Kolumne der journalistischen Aufgabe verpflichtet sieht, für Transparenz zu sorgen, soll Ihnen nicht vorenthalten werden, wer diese auf den letzten Drücker noch Wellen Reitenden sind.

Bei der FAZ haben sie gleich zwei im Repertoire, nämlich den ehemaligen Direktor des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin, Horst Möller, auf Seite 8, und Christian Geyer auf der ersten Seite des Feuilletons.

Während Ersterer beim Versuch einer historischen Einordnung zu Schlüssen kommt, die so auch schon vor 19 Tagen zu lesen waren

(„Die Beurteilung der Politik des türkischen Präsidenten und die Frage, ob sein Verhältnis zur Pressefreiheit zweifelhaft ist und unseren Maßstäben widerspricht, liegt auf einer anderen Ebene. Ohne jede Frage muss daran jede inhaltliche Kritik möglich sein; sie wird bei uns tatsächlich fast täglich geübt. Und ebenso selbstverständlich kann solche Kritik das Mittel politischer Satire nutzen. Doch ist nicht jede plumpe Diffamierung eine Satire.“),

versucht Letzterer sich an der politischen Dimension und damit an einem Ausblick. Denn auch wenn davon in den vergangenen Wochen so wenig zu hören war: AfD und Flüchtlingskrise sind weiterhin vorhanden.

Geyer zu Merkels Auftritt am Freitag:

„Sie zog ihr Statement durch, als gäbe es keine anderen Rechtsauffassungen und als wäre es vom Gesetz her nicht in ihr Ermessen gestellt, die Ermächtigung zu erteilen oder zu verweigern. So blicken wir seit Freitag in eine Erklärungslücke, in der sich das Ressentiment gegen ,das System’ neu zu sammeln beginnt. Merkel erzeugt den Eindruck der Erpressbarkeit, den sie zu verhindern sucht.“

Für Angela Merkel war also mal wieder etwas alternativlos, was wie wir ja wissen bedeutet, dass sie nur keine Alternative zulassen wollte.  

Ganz anders sieht das Jakob Augstein in seiner Spiegel-Online-Kolumne, die ja immer montags erscheint, was sein Nachzüglertum entschuldigen könnte.

„Sie hat die Eurokrise und das Flüchtlingschaos an der Hacke. Im Weißen Haus sitzt vielleicht bald ein Irrer und aus London droht der Brexit . Als wäre das noch nicht genug, musste Angela Merkel nun noch eine Hauptrolle in Böhmermanns Satire-Saga spielen. Immerhin: als einzige hat sie ihre Sache gut gemacht. (...) Merkel hat weder Böhmermann noch die Pressefreiheit "geopfert". Sie hat die Sache an die Justiz weitergegeben. Dort gehört sie hin.“

Der im Zweifel Linke tritt also, ebenso wie auch Heribert Prantl bereits vor einer Woche, für Angie ein, während die FAZ sie kritisiert, und das ist doch eine weitere interessante Böhmermann-Errungenschaft. Wobei, auch das hätte ich persönlich vor Wochen eher für unwahrscheinlich gehalten, ich eher Team FAZ bin. Denn wenn wir in unserem gewaltengeteilten Land schon ein Gesetz haben, das explizit eine politische Entscheidung in Rechtsfällen fordert, dann hätte ich mir doch gewünscht, dass diese anders ausgefallen wäre. Denn Entscheidungen der Politik sind nun mal politisch, aber nicht alternativlos.

Wo waren wir? Ach ja, bei Leuten, die auf den letzten Drücker noch ihre Meinung zum Böhmigate loswerden müssen. Falls Sie weiteren Bedarf haben, lesen Sie Georg Altrogge bei Meedia, Michael Schmucks Analyse der „Paragruftis“ (trifft ein Paragraph nen Grufti – Sie ahnen, wo das hinführt) bei kress.de oder schauen sich John Olivers „Last Week Tonight“-Beitrag mit der schönen Punchline

„Why doesn’t he do what the rest of us do about poetry? Listen to it politely, because it’s how Sarah has chosen to cope with the divorce“

an. Oder Sie kommen auf den oben schon zitierten und hier servicemäßig erneut verlinkten Text von Stefan Niggemeier zurück, der ungewohnerweise etwas ratlos klingt, und der selbst gerade eine ähnliche Überraschung erlebt hat:

„Der eine, für den es tatsächlich und zweifellos um viel geht, ist Jan Böhmermann. Der sich in mehrfacher Hinsicht bedroht fühlen muss – und für den die Aufregung offenbar zuviel geworden ist.

Das ist ein Satz, der bislang undenkbar war: Die von ihm selbst verursachte Aufregung ist Jan Böhmermann zuviel geworden. Vielleicht wäre auch das ein Punkt, innezuhalten und uns kurz zu fragen, welchen Beitrag wir dazu leisten, diese Aufregung immer noch größer werden zu lassen. Und wenn Sie jetzt meinen, ich klänge mit solchen Fragen wie Margot Käßmann, muss ich Ihnen sagen: Nein, Margot Käßmann klingt jetzt anders.“

Damit erklären wir die Meta-Ebene für eröffnet, und falls in den kommenden Monaten jemand ein Masterarbeitsthema braucht, würde ich mich tatsächlich für eine Analyse der Medienexplosion in Folge eines in einer selbsternannten Quatschsendung eines Spartenkanals vorgetragenen Schmähgedichts interessieren.

Um dafür schon einmal eine Thesenvorlage zu bieten: Da waren die Einen, die immer weiter berichteten, weil die Anderen immer weiter klickten, während die Dritten auf keinen Fall in der Welle der Aufmerksamkeit mit keiner Meinung vertreten sein wollten, was zu einem Schneeballeffekt bisher unbekannten Ausmaßes führte, was ein seltsamer Satz ist angesichts der vergangenen Debattenthemen wie den Flüchtlingen, der „Lügenpresse“ oder der AfD. Wobei ich nicht ausschließen möchte, dass diese als Vorarbeit zu dem diffusen Gefühl beigetragen haben, dass liebgewonnene Werte wie die Meinungsfreiheit uns durch die Finger zu rutschen drohen, was die heftige Reaktion erklärte. Oder hätten Sie es vor ein paar Monaten für möglich gehalten, dass Recep Tayyip Erdogan als akute Bedrohung deutscher Freiheitskonzepte angesehen werden könnte?

Jetzt, da das Thema langsam ausfadet, sollten wir uns die Mühe einer Analyse machen. Andernfalls droht diese mediale Erregungskurve das neue Normal zu werden.

PS: Falls Sie hier irgendwo Dieter Hallervorden vermisst haben: Das soll so. 


Altpapierkorb

+++ Einen Pulitzerpreis gab es gestern für die Nachrichtenagentur AP. „ An dem Projekt zu versklavten Fischereiarbeitern hatten die AP-Journalistinnen Margie Mason, Robin McDowell, Martha Mendoza und Esther Htsusan 18 Monate lang gearbeitet. Sie dokumentierten, wie Männer aus Myanmar und anderen Ländern auf einer Insel in Indonesien gefangen gehalten und wie Sklavenarbeiter auch bei der Verarbeitung von Shrimps eingesetzt werden. Die Veröffentlichung führte dazu, dass mehr als 2000 Arbeiter frei kamen“, heißt es im AP-Bericht bei Welt.de. Das ausgezeichnete Gesamtwerk samt interaktiver Geschichte „22 years a slave“ steht auf der Website des Preises, wo sich auch die anderen Gewinner finden. +++

+++ Das Filmmaterial sei heimlich gedreht worden und insgesamt irreführend, behauptet der Helios-Konzern. Das „Team Wallraff“ haben sich „bei der Recherche zu der beanstandeten Sendung journalistisch und juristisch einwandfrei verhalten“, meint RTL. Das Landgericht Hamburg hat gestern entschieden, dass der Beitrag „Wenn Krankenhäuser gefährlich werden“ vom Januar nicht mehr ausgestrahlt werden darf. Bei RTL wartet man nun die Zustellung der einstweiligen Verfügung ab, um das weitere Vorgehen zu klären, schreibt DWDL. +++

+++ Der Schweizer Journalismus habe gerade einen Tiefpunkt erreicht, erklärt Jürg Altwegg auf der Medienseite der FAZ. Konkret gemeint ist damit die Medienpräsenz des SVP-Politikers Christoph Blocher, der in der NZZ unwidersprochen behaupten durfte, die Schweiz sei auf „dem Weg in die Diktatur“, um dann in der Zürichsee-Zeitung nachzulegen: „Der Kampf von Seiten der Staatsmedien und von ‚Blick‘ bis zur ‚NZZ‘ hat mich in ihrer Radikalität an die Methoden der Nationalsozialisten gegenüber den Juden erinnert.“ Anlass dieser unangemessenen Empörung war die sogenannte Durchsetzungsinitiative. Mit dieser wollte die Partei die härtere Durchsetzung eines älteren Beschlusses fordern, der die Ausweisung krimineller Ausländer aus der Schweiz regelt. Doch in der Volksabstimmung im Februar fiel diese Initiative durch, was Blocher nun den Medien ankreidet. +++

+++ Ein halbes Jahr nach dem Start von Blende versucht Kathrin Hollmer in der SZ ein Zwischenfazit zu ziehen, doch konkrete Zahlen mag ihr (noch) niemand nennen. +++

+++ Wer mal wieder einen einzelnen Artikel in seine Bestandteile zerlegt sehen will, schaut bei wortvogel.de vorbei, wo Torsten Dewi sich an einem Text aus Springers Welt abarbeitet, der den neuesten „Star Wars“ als Verlierer darzustellen versucht. +++

+++ Ingo Zamperoni folgt Thomas Roth bei den „Tagesthemen“ nach, was dem Tagesspiegel die Gelegenheit gibt, noch einmal die Sache mit dem EM-Halbfinale vor vier Jahren auszugraben. Auch DWDL berichtet. +++

+++ „Man darf sich nicht davon täuschen lassen, dass die Computerzeitschrift für Frauen sich eigentlich mit zukunftsträchtiger Technik beschäftigt. Das Frauenbild der Macher stammt aus der Zeit des Morsecodes“, urteilt Angela Gruber bei Spiegel Online über Smart Women, das neue Magazin für die technikinteressierte Frau von heute (bzw. gestern). +++

+++ „Drogen kann man nicht erschießen. Wege aus dem Drogenkrieg“, heißt die Doku, die heute Abend auf Arte läuft. Dazu meint Hans-Jörg Rother im Tagesspiegel: „Der von Peter Puhlmann realisierte Film, den Arte passgenau zu einer Sondersitzung der UN-Generalversammlung über das Scheitern des weltweit geführten Krieges gegen den Drogenmissbrauch ausstrahlt, hält sich nicht lange bei Schreckensbildern wie denen von Zürich-Letten auf, sondern setzt mit voller Kraft auf die kontrollierte Freigabe der Drogen, einst Rauschgifte genannt, wie sie bereits in der Schweiz, in Portugal, im US-Bundesstaat Colorado und in Barcelona praktiziert wird. Denn Drogen, so die etwas verkürzte Argumentation der Doku, gehören von jeher zum Leben, weil sie das menschliche Lustbedürfnis befriedigen oder aber über Engstellen hinweghelfen.“ +++

+++ Wer stattdessen auf den Bezahlsender TNT Serie Zugriff hat, kann auch die „Frankenstein Chronicles“ sehen, die dort heute starten und in der Special-Interest-Serien-Spezialausgabe besprochen werden, die wir SZ Medienseite nennen. +++

Neues Altpapier gibt es am Mittwoch.

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