Die wunderbare Unberechenbarkeit des Netzes

Die wunderbare Unberechenbarkeit des Netzes
Ein mediales Katzenbilder-Event, die Verjüngung eines Monopols und eine öffentlich-rechtliche Selbstbegrenzung.

„What happened was that Belgians cheerfully if irreverently cooperated with a police request for a blackout on details of their operations.“

Autor:in
Vera Bunse

Die freie Journalistin Vera Bunse schlägt sich mit anderer Leute Texten, Politik, Netz- und Medienpolitik und sozialem Gedöns herum und durch.

(Übertragen: Nach der Bitte um Funkstille haben die Belgier fröhlich-respektlos mit der Polizei zusammengearbeitet.) Damit erklärt Marine Laouchez in ihrem AFP-Artikel einleitend die Katzenbilder-Aktion #BrusselsLockdown, mit der die belgische Bevölkerung das polizeiliche Schweigegebot während der Großrazzien am 22. in Brüssel unterstützte. Eine intelligente und witzige Aktion, die es weltweit in die Medien schaffte und für die sich die Police Fédérale entsprechend bedankt hat. Großartig.

An diesem konkreten Beispiel lässt sich gut das ungewöhnlich verantwortungsbewusste Verhalten von Nachrichten- und sozialen Medien in einem Krisenfall betrachten. Größere Polizeiaktionen und Razzien sind im Normalfall wichtige Einsätze für Reporter, die sich selbst bzw. deren Blatt oder Sender sich mit aktuellen Berichten einen Namen machen und ihren Ruf festigen (oder ruinieren) können.

Unter dem verlinkten Niggemeier-Text steht dieser Kommentar:

„Es dauert nicht mehr lange, dann wird es noch ganz andere Live-Bilder geben. Die verwaschenen Smartphone-Streams sind nur der Anfang. Ein 3er Team, wobei Reporter 1 mit der GoPro in die Gefahrenzone geht, Reporter 2 eine Drohne über dem Tatort steuert und Reporter 3 das ganze am Laptop mischt und kommentiert. Die Investitionskosten dafür sind lächerlich. Aber die Klickraten dürften ungeahnte Höhen erreichen.“

Ich will mir das nicht vorstellen. Es wäre die irrsinnige Steigerung eines Rudels Leserreporter, das mit vorgestreckten Smartphones einen bewaffneten Einsatz behindert und um eines läppischen Honorars willen Menschenleben riskiert.

Sie haben stillgehalten.

In den sozialen Netzwerken geht es unberechenbarer zu; niemand ist an journalistische Regeln und innerbetriebliche Vereinbarungen gebunden. Viele twittern, instagrammen oder periscopen drauflos – Aktuell! Sensation!! Klickt-mich-an!!! –, ohne sich genauer über die Lage und sachliche Richtigkeit informiert zu haben, und ohne mögliche schwerwiegende Folgen zu bedenken. Die Gier nach Anerkennung – wenn auch nicht pekuniärer Art – legt den gesunden Menschenverstand lahm. Das Totschlagargument lautet: ,Die Leute haben schließlich ein RECHT, das zu wissen!' So wird häufig eine Pressefreiheit postuliert, die sich nur nach der Freiheit richtet, jederzeit alle möglichen Fehler machen zu dürfen.

Nichts davon. Brüssel war kein Normalfall.

Weshalb lief es dort am 22. November anders? Laouchez hat Meinungen eingeholt, nach denen der niedrigere Konkurrenzdruck zwischen den belgischen Medien und das Fehlen eines 24-Stunden-Nachrichtenkanals zur Einhaltung der Funkstille beigetragen haben, zudem sei ein vorbereiteter Polizeieinsatz etwas ganz anderes als unerwartete reale Anschläge. Möglicherweise seien auch Schlüsse aus dem medialen Fehlverhalten während des Angriffs auf Charlie Hebdo im Januar gezogen worden. Irgendwo hat der Minister angerufen. Wirklich erstaunlich sei aber vor allem die Disziplin der Social-Media-Nutzer.

Es mag da etwas wie ein „bürgerschaftlicher Reflex“ ("civic reflex") mitspielen, aber ich möchte diese Selbstdisziplin eher als Gruppenhandlung erklären, die sich aus unzähligen privaten Kleinstnetzwerken in übergeordneten Strukturen wie Twitter oder Facebook ergibt: Jemand bekommt etwas mit, die Nachricht verbreitet sich viral; schnell ist klar, dass es ernst ist. In kürzester Zeit muss jeder sozialmedial Beteiligte über sein eigenes, ihm angemessen erscheinendes Verhalten entscheiden. Dabei spielen Befindlichkeiten und Internet-Kontakte eine wichtige Rolle, in einem anderen Sinn als im journalistischen Geschäft, bei dem es letztlich immer um Geld, Klicks und Auflage geht und Haltung teurer ist als anderswo. (Übrigens bei manchen Journalisten eine Überlegung, deretwegen sie sich für die Arbeit als Freie entschieden haben. Aber andere Baustelle – )

Die Mehrzahl der User scheint sich bei solchen Ereignissen erst im zweiten Schritt, zum Abgleich, an den einflussreichsten Personen in ihrer Internet-Peergroup zu orientieren und zunächst danach zu urteilen, was sie selbst für anständig hält. Zusätzlich wird die Notwendigkeit, über Menschen in Ausnahmesituationen oder über das Fehlverhalten von Personen, Konzernen oder Regierungen zu berichten, sehr unterschiedlich bewertet. Das kann jeder in sozialen Netzwerken beobachten: Witwenschütteln etwa wird strikt verurteilt, während die Presse einem ertappten Politiker, Wirtschaftsmagnaten oder Kleriker kaum nah genug auf die Pelle rücken kann.

Die Meisten haben begriffen, dass es in außergewöhnlichen Situationen nicht um ihren Ruhm geht; manche mögen sich nach der Beurteilung ihres Verhaltens durch ihre Netzkontakte gefragt haben. In Brüssel kamen etliche Faktoren zusammen, die bei Medien wie Einwohnern zu der originellen Unterstützung der Polizei führten. Als die Katzenbilder immer mehr wurden und Menschen aus aller Welt ihren Zuspruch bekundeten, war durch gemeinschaftliche mediale Zurückhaltung ein bemerkenswertes Medienereignis entstanden, ganz anders, als irgendjemand hätte erwarten können. Wie wohl Deutsche in so einer Lage reagieren würden …?


Altpapierkorb

+++ Von Tom Hillenbrand stammt die mitfühlende und verdammt wahre Überschrift „Armer Autor, Du hast echt keine Freunde“. Darin befasst er sich mit der langjährigen (Verzögerungs-)Praxis der VG Wort, Autoren und Verlage gleichzusetzen. Es gebe trotz des Reprobel-Urteils bereits Pläne, den von vielen Kollegen erhofften, von der VG nachzuzahlenden Geldsegen nur um Himmels Willen zu verhindern. Er schließt: „Jetzt seid Ihr dran. Schreibt diesen Gewerkschafterdarstellern Mails, dichtet Schmähverse, lasst Euch etwas einfallen“ – worüber nachzudenken sich doch lohnt. +++

+++ Springer schafft ein Markendach für seine WELT N24-Produkte. Erst die Dachmarke, jetzt das Markendach – was für ein schönes Wort. Schließlich kann man sowohl im Trockenen als auch auf dem Trockenen sitzen. +++

+++ Ein bisschen Einigung bei der Produzentenallianz: Mit der "Eckpunktevereinbarung (PDF) über die vertragliche Zusammenarbeit zu Film-/Fernseh-Gemeinschaftsproduktionen und vergleichbare Kino-Koproduktionen" gibt es immerhin einen Versuch, Video on Demand (VoD) öffentlich-rechtlich besser zu etablieren. Nicht nur über die realistische Berechtigung von § 4 Einstrahlungsschutz / Geolocation kann man allerdings streiten: „ARD/ZDF sind beim Streaming ihrer jeweiligen Programme zur Anwendung von Geolocation nach Maßgabe der nachstehenden Regelungen in § 9 (1) lit. d) und § 9 (2) lit. c) verpflichtet.“ In § 9 Online-Rechte stehen dann die interessanteren Sachen (die allerdings doch eine gewisse, äh, Zukunftszugewandtheit erkennen lassen). +++

+++ Es hat sich eine Menge getan, nur nicht bei den Nachrichten. Der Journalistinnenbund zitiert aus den aktuellen Ergebnissen der GMMP-Langzeit-Medienstudie und schimpft zu Recht: „Mit durchschnittlich 28 Prozent liegt die Präsenz von Frauen in deutschen Nachrichten weit unter den 50%, die ihnen als Hälfte der Bevölkerung zukommen müsste.“ +++

+++ „Guck mal, ich bin in der Zeitung!“ Hübsche, vermutlich dito auflagefördernde Idee der New York Times:Meet Some of Our Top Commenters“. +++

+++ Was ich mich angesichts der sultanischen Entscheidung, ein russisches Flugzeug abzuschießen, wieder mal frage: Wo sind eigentlich Dietmar Ossenberg und Ulrich Tilgner, wenn man sie braucht? Tja, in sehr verdienter Rente. Dabei bräuchten wir so nötig besonnene Welterklärer, die sich dem Sensationalismus einfach verweigern und dieses ganze Chaos im Nahen und Mittleren Osten aus eigener jahrelanger Anschauung ruhig einzuordnen wissen. Auch, wenn wir unsere Kinder wohl fitmachen sollten „für eine Welt des Wahnsinns“. +++

+++ Netzökonom Dr. Holger Schmidt hat den Medienwandel des vergangenen Jahrzehnts in Charts dargestellt.+++

+++ Die Frage des Economist Does Deutschland do digital? kann man in dieser Woche ruhig noch einmal stellen: Die Telekom hat weit über die Hälfte der letzten Meile geschafft, oder ist, um es mit Merkel zu sagen, auf einem guten Weg zur Re-Monopolisierung. Ferner liefen: die Verbraucher, wie gewohnt ohne Stimme. +++

+++ Facebook will Indien mit kostenlosem Internet beglücken. Das großherzige Projekt dient der Gesundheitsvorsorge, der Bildung und besseren Zukunftsaussichten. Von der Schaffung einer weltweit einzigartigen, riesigen gated community kann selbstverständlich nicht die Rede sein. +++

+++ Kurz vor Thanksgiving (morgen) hat das US Department of State eine wohl einmalige, weil weltweite Reisewarnung herausgegeben. +++

+++ Die EFF hat einen Leitfaden für digitale Sicherheitsvorkehrungen herausgegeben, der u. a. ausdrücklich Journalisten und Journalismusschüler anspricht (in englischer Sprache). Ebenfalls von der EFF, in Zusammenarbeit mit Visualizing Impact, stammt onlinecensorship.org, wo man Löschungen in den sozialen Netzwerken beanstanden kann. +++

+++ Husch husch – nur noch bis 30.11. in der Mediathek: der sehr empfehlenswerte, erste netzpolitische Oscar-prämierte Film "Citizenfour" über die Veröffentlichung der Snowden-Enthüllungen. Wer sich fragt, weshalb der Film so heißt: Unter diesem Pseudonym nahm Snowden Kontakt zu Laura Poitras auf. +++

Geschenkpapier Nummer 7 erscheint morgen und kommt von Dirk Liedtke.  

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