Fähigkeit zur Selbstkritik

Fähigkeit zur Selbstkritik

Vom Friedenspreis des Deutschen Buchhandels über den Friedensnobelpreis bis zu Günther Jauch reicht das heutige Spektrum im Altpapier.  Es gibt aber für alles das einen Oberbegriff: Die Fähigkeit zur Selbstkritik als zivilisatorische Errungenschaft.

Was war gestern die wichtigste Meldung des Tages? Die Tagesschau ist in ihrer Hauptausgabe um 20:00 Uhr immer noch ein guter Indikator. Ihr Aufmacher war trotz Kobane und Ebola die Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels an den US-Amerikaner Jaron Lanier. Diese Verleihung war als Signal zu interpretieren, um ein Bewusstsein für die revolutionären Veränderungen durch die Digitalisierung zu schaffen. Es wird das Selbstbild und die Lebenswelt aller Menschen in diesem Jahrhundert verändern. Dass dieses unter den ideologischen und regulatorischen Rahmenbedingungen einer kapitalistisch verfassten Gesellschaft geschieht, eine Aussage mit Konsequenzen. Das bedeutet nämlich zugleich den Kampf von Interessengruppen um die Deutungshoheit in dieser Debatte. Die Monopolisten im digitalisierten Kapitalismus wollen selbstredend ihre Marktmacht verteidigen, indem sie sich selbst mit der Digitalisierung identifizieren. Insofern konnte es schon bei Bekanntgabe des diesjährigen Preisträgers nicht überraschen, als sie im Sommer nicht überall positive Resonanz erzeugte. Die Digitalisierung braucht auch Kritik, um eine substantielle politische Debatte über unsere zukünftige Lebenswelt zu ermöglichen. Warum dann allerdings einige Protagonisten in den sozialen Netzwerken meinen, diese unterlaufen zu müssen, um Lanier als modernen Maschinenstürmer zu karikieren, ist ein Rätsel. Denn gerade die Kritik an der Untätigkeit der Politik, die gestern der Präsident des Europäischen Parlaments Martin Schulz mit einer Laudatio auf Lanier vertrat, ist mehr als nötig.

####LINKS#### [+++] So gab es in der vergangenen Woche noch eine weitere Nachricht über zwei Preisträger. Die von den Friedensnobelpreisträgern des Jahres 2014. Sie wurde in den Politik, Medien und den sozialen Netzwerken fast einmütig begrüßt. Das Nobel-Kommittee hatte in Oslo zwei Kinderrechtler ausgezeichnet, darunter die erst 17jährige Malala Yousafzai aus Pakistan. Ihre berührende Geschichte und Engagement, ihr kometenhafter Aufstieg zu einer weltweit bekannten Persönlichkeit war wohl so nur in diesen neuen digitalen Medienwelten möglich gewesen. Diese Geschichte ist in den vergangenen Tagen häufig erzählt worden, weniger schon die Reaktion auf Malala in Pakistan selbst, wie in der Kulturzeit auf 3 Sat mit einem Beitrag aus dem vergangenen Jahr. Es waren ansonsten Erzählungen über unser westliches Selbstverständnis gegen den Angriff der Islamisten. Da ist es schon mutig, wenn Wibke Becker gestern in der FAS diese Geschichte anders erzählt, nämlich als Ergebnis von Kalkülen mit Hilfe einer PR-Maschine.

 

"Erzählen Sie diese Geschichte nach. Und benutzen Sie nicht den Vornamen „Malala“, sondern den Nachnamen „Yousafzai“. Es fühlt sich an, als entfernte sich die Heldin ein wenig, nicht wahr? Als gehörte sie Ihnen nicht mehr. Und das ist nicht angenehm. Denn Malala soll doch allen gehören. Deshalb hat sie zwar den wichtigsten Menschenrechtspreis der Welt – aber in Presse, Funk und Fernsehen trotzdem nur einen Vornamen. Malala Yousafzai ist ein Kind. Seit sie klein ist, wird sie benutzt. Vor allem von ihrem Vater. Ziauddin Yousafzai ist ein Bildungsaktivist und war Direktor einer Mädchenschule. Er will, dass seine Tochter das schafft, was er in seinem Leben nicht geschafft hat: die Welt verändern. Daher baute er die Kleine systematisch zu einem Symbol auf. … . „Malala ist eine Marke geworden. … . Das perfekte Zugpferd für die gute Sache.Bei ihrer Rede vor den Vereinten Nationen 2013 sagte sie über die Zeit nach dem Attentat: „Schwäche, Angst und Hoffnungslosigkeit starben. Stärke, Kraft und Mut wurden geboren.“ Großer Applaus. Dabei muss dieser Satz irritieren, er ist übermenschlich. Aber niemand will am Bild der unschuldigen Heldin zweifeln. … . Das alles war dem Preiskomitee egal. Es konnte dem Gebrauch der Marke Malala nicht widerstehen.“

Damit ist dazu gesagt, was gesagt werden musste. Die Fähigkeit zur Selbstkritik, die im historischen Vergleich einzigartige Fähigkeit des Westens, seine eigenen Handlungsgrundlagen in Frage zu stellen, ist das eigentliche Erbe der Aufklärung. Gerade angesichts des Krieges in Syrien und dem Irak gegen den "Islamischen Staat" ist diese Fähigkeit unabdingbar. Die Schlacht um Kobane ist selbst schon zum Schlachtfeld von Propagandisten geworden. Das gilt keineswegs bloß für ISIS.


Altpapierkorb

+++ Einen weiteren Preis gab es bei der FAZ. Den Michael Althen Preis bekam mit Hans Hütt ein Mann, der mit der Unterscheidung zwischen Blogger und Journalisten noch nie etwas anfangen konnte. Herzlichen Glückwunsch!

+++ Wie Medien Bilder verwenden, die zwar anschaulich sind, aber historisch falsch, ist im aktuellen Spiegel zu lesen: "Bekannte Aufnahmen, die angeblich die Flucht der Deutschen aus den Ostgebieten 1945 zeigen, sind in Wahrheit zu anderen Zeiten entstanden. Möglicherweise zeigen einige Bilder auch nicht-deutsche Flüchtlinge, sondern NS-Opfer. Das geht aus einer Studie des Historikers Stefan Scholz von der Universität Oldenburg hervor." Man erkennt daran unter anderem unsere fatale Abhängigkeit von diesen Bildern, denen man trotz aller historischer Erfahrung immer noch die größere Aussagefähigkeit und Authentizität zutraut als dem geschriebenen Wort.

+++ Dafür gibt es im gleichen Spiegel ein schönes Beispiel für den Binnenpluralismus in der ARD. Dort streiten sich die Magazine Monitor und Panorama über das Thema "Fracking". Was einen aber am meisten erstaunt, ist nicht diese Kontroverse, sondern diese Selbstverständlichkeit auch noch besonders herausstellen zu müssen.

+++ Zur Selbstkritik als Errungenschaft der Aufklärung gehört auch die Selbstbeobachtung von Journalisten. So berichtet die Süddeutsche Zeitung über den Journalismus in Großbritannien. Bei Spiegel online gibt es einen einen kritischen Bericht über den in der Ukraine. Damit beschäftigt sich auch der West-Ost-Blog bei der FAZ in Form eines Kongressberichtes. "Der Zweifel", so ist dort zu lesen, steht dort "an zweiter Stelle." In der Welt liest man einen Brief von Stephanie Nannen an die "lieben Verlegerinnen und Verleger". Selbstkritik war übrigens noch nie deren Stärke.

+++ Was man aber besonders erwähnen muss. Die seltsame Praxis deutscher Sicherheitsbehörden, Journalisten auf ihre ganz spezielle Weise wahrzunehmen.

+++ Außerdem kommt Rudi Carrells "Am laufenden Band" zurück. Die Älteren unter uns erinnern sich noch. Dort musste man sich immer die Meldungen aus der 20:00 Uhr Tagesschau merken. Als Vorschlag für die neue Version. Wir wäre es stattdessen mit den letzten Tweets? Außerdem plant Nico Hofmann die Verfilmung des Bestsellers von Frank Schätzing "Breaking News" als Serie. Man darf gespannt sein, wie das politische Minenfeld Naher Osten auf solche Planungen durchschlagen kann. Bekanntlich versuchen auch dort alle Akteure ihre Deutungshoheit durchzusetzen.

+++ Nichts über Wolfgang Büchners Zukunft als Chefredakteur des Spiegel? Sicher. Harald Staun in der FAS: Angeblich wollen die Verantwortlichen Büchner so lange halten, bis sie einen stattlichen Nachfolger präsentieren können, um sich peinliche öffentliche Spekulationen zu sparen. Dass diese längst auf Hochtouren laufen, dürften sie selbst am besten wissen.“ Wenn alles schief geht, könnte er sich von Heribert Schwan in Kohls Keller interviewen lassen.

+++ Zum Freitod des ehemaligen MDR-Intendanten Udo Reiter ein Artikel von Margot Kässmann, die mit ihm zuletzt in der Sendung von Maybrit Illner über das Thema Sterbehilfe gestritten hatte.

+++ Damit zum Thema Günther Jauch. Er beschäftige sich gestern Abend mit Helmut Kohls Kellergesprächen. Dessen Anwalt will jetzt die Zitate aus dem Buch von Heribert Schwan und Tilman Jens untersagen lassen. Frühkritiken zur Sendung findet man bekanntlich auf allen einschlägigen Portalen.

+++ Zum denkwürdigen Tatort eine Rezension der Medien-Rezensionen auf Spiegel online.

+++ Die Probleme des Präsidenten der Türkei mit der Selbstkritik sind bekannt. Er hat ansonsten aber auch Schwierigkeiten mit jeglicher Kritik an seiner Politik. Das bewies er jetzt wieder mit der Festnahme von drei Journalisten. Sie sind heute wieder frei gelassen worden. Dafür gibt es aber im über die Medien ausgetragenen diplomatischen Tauziehen um Kobane eine neue Entwicklung.

+++ Auf Twitter demonstrieren Aktivisten gerade unter #LebenZerstört soziale Netzwerke als selbstreferentielles System. Es dient der eigenen Selbstvergewisserung, nämlich auf der richtigen Seite zu stehen.

+++ Was ansonsten noch fehlt? Die Bundesverteidigungsministerin Ursula von der Leyen. Zwar nicht heute Abend im ZDF. Aber dafür mit einer Erfolgsmeldung. Vor zwei Wochen begann die Kampagne zur Erhöhung des Verteidigungsetats. Das Altpapier hatte berichtet. Der Spiegel meldet heute Vollzug. Während sich die selbstreferentiellen Social-Media-Experten mit sich selbst beschäftigen, vermag Frau von der Leyen die Medien zur Erreichung ihrer politischen Ziele zu nutzen. Da stellt sich tatsächlich die Frage nach den wirklichen Experten.

Das nächste Altpapier gibt es wieder am Dienstag.

weitere Blogs

Das queere Vereinsleben ist so bunt und vielfältig wie die queere Szene. Aber wie politisch neutral sollten diese Vereine heute (noch) sein?
Von Zeit zu Zeit die Welt beobachten - und wieder einmal die Kirche. Über drei Monate nach der ForuM-Studie.
Traupaar während der Zeremonie in St. Johannis
Am schönen Datum 24.4.24 standen in ganz Bayern Kirchen offen für spontane Segnungen und Trauungen