Die schärfsten Stellen aus dem Genre politischer Pornographie

Die schärfsten Stellen aus dem Genre politischer Pornographie

Bertelsmann legt heute ein Bekenntnis zum Journalismus ab. Der beschäftigt sich mit Helmut Kohl, Günther Jauch und ISIS.

Die Frankfurter Buchmesse steht vor der Tür. So werden die Leser nicht nur mit den entsprechenden Rezensionen beglückt, sondern die neuen Werke werden auch crossmedial nach allen Regeln des Marketing verwertet. So saß Buchautor Heinz Buschkowsky vergangene Woche bei Günther Jauch (auf den wir im Gegensatz zu Buschkowsky noch zu sprechen kommen). Der aktuelle Spiegel könnte als Buchmessen-Beilage interpretiert werden. Ein Buch von Alexander Schwan und Tilman Jens über die nun nicht mehr geheimen Gesprächsprotokolle mit Helmut Kohl schafft es als Groß-Rezension von Rene Pfister auf den Titel. Das Werk Hans-Magnus Enzensberger über die wilden 1960er Jahre in einem Groß-Interview mit dem Altmeister in den Kulturteil. Schwan, der früher vor allem mit wohlwollenden Politiker-Portraits reüssierte, hat in Helmut Kohl seine investigative Ader entdeckt, die sich praktischerweise gleich auf seinen Tonbändern mit dem ehemaligen Bundeskanzler befinden. Die herausragende Erkenntnis: Auch Bundeskanzler reden im vertraulichen Gespräch anders als in öffentlicher Rede. Außer Frau Merkel, die vertraut noch nicht einmal ihrem Spiegelbild die intimsten Geheimnisse an. So finden wir in Pfisters Rezension die „schärfsten Stellen“ in dem Genre politischer Pornographie.
Kohls Abrechnung: Wen der Altkanzler schmähte zudem als Appetitanreger mit Klick-Optimierter Fotostrecke. So geht der Dauerkonflikt zwischen dem Ghostwriter und seinem Auftraggeber in die nächste Runde. Nur hält sich die Aufregung noch in Grenzen. Inhaltlich soll etwa diese Aussage Kohls ein großer Aufreger sein. „Gorbatschow ging über die Bücher und musste erkennen, dass er am Arsch des Propheten war und das Regime nicht halten konnte“, sagte Kohl. „Und wenn er den Kommunismus erhalten wollte, musste er ihn reformieren, so kam ja die Idee mit der Perestroika.“ Es widerspreche der sonstigen Lobpreisung Kohls für der ostdeutschen Revolutionäre, so Pfister. Nun gibt es einen Unterschied zwischen politischer Rede und wissenschaftlicher Analyse, wofür man auch keine Tonband-Protokolle aus Kohls Keller braucht. Deswegen hat sicherlich die Bundeskanzlerin in ihrer Rede zum Tag der deutschen Einheit am vergangenen Freitag nicht vom „Arsch des Propheten“, sondern von den ostdeutschen Revolutionären gesprochen. Aber Pfister erlaubt sich durchaus einen kritischen Blick auf die Rolle Schwans:

„Der Altkanzler sprach mit Schwan auch deshalb so ungeschminkt, weil er glaubte, dass die Bänder zu seinen Lebzeiten nicht das Licht der Öffentlichkeit erblicken würden. Schwan hatte im November 1999 mit dem Droemer Verlag, bei dem die Kohl-Memoiren erscheinen sollten, einen Autorenvertrag geschlossen. Dieser wies Kohl nicht nur das Recht zu, jederzeit seinen Ghostwriter auszutauschen. Kohl hatte auch die alleinige Befugnis über das, was am Ende in den Memoiren stehen dürfe.“

Angesichts dessen könnte man es Kohl nicht verdenken, wenn er Schwan für einen „Arsch von Ghostwriter“ halten sollte.

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+++ Damit kommen wir zur schon legendär zu nennenden Sendung von Günther Jauch mit dem „Dampfplauderer Allahs“. Mittlerweile ist die Metaebene erreicht, was aber keineswegs mit den lichten Höhen soziologischer Erkenntnis zu verwechseln ist. So hat der Tagesspiegel aus der Kritik an der Fernsehkritik den Umkehrschluss gezogen. Eigentlich sei Jauchs Sendung ein voller Erfolg gewesen.

„Sie war das Gegenteil, nämlich lebhaft, stellenweise amüsant – und sie ließ dem Zuschauer jeden Raum zur Interpretation, er wurde im besten Sinne für eine Stunde allein gelassen.“

Das ist ein klassischer Fehlschluss. Um den Leser nicht mit Niklas Luhmann zu langweilen, soll es an des Deutschen liebstes Kind, dem Fußball, erläutert werden. Alle gehen heute davon aus, dass Deutschland bei der Fußball-WM 1974 ohne die Vorrunden-Niederlage gegen die DDR nicht Fußball-Weltmeister geworden wäre. Aus der Niederlage wurden damals Rückschlüsse für die Aufstellung der Mannschaft gezogen. Matthias Kalle aber zieht aus der Jauch-Sendung wegen der späteren Dauerreflexionsschleife die Schlussfolgerung, die Sendung müsse gut gewesen sein. Nur haben die Westdeutschen gegen die Brüder aus dem Osten nicht gut gespielt, weil sie später Weltmeister geworden sind. Sie haben auch nicht mit Absicht verloren. Die Fernsehkritik ist eine Beobachtung 1. und 2. Ordnung. Was wir nach dieser Jauch-Sendung erlebten, eine solche 3. Ordnung, wie bei Luhmann nachzulesen ist. Der Tagesspiegel sollte vielleicht einen Praktikanten Beobachtungen 3. Ordnung verfassen lassen. Henryk Broder ist dagegen ein Beobachter mit eigener Ordnung
In Talk Shows werde „dem Zufall so viel Platz eingeräumt wie einem Gang-Bang bei einer Weihnachtsfeier der Heilsarmee.“ Immerhin, so könnte man sagen, hat das Beispiel nichts mit Fußball zu tun.

„Wenn alles gut geht, gibt es am Ende eine ordentliche Quote und ein paar wütende Verrisse in den Zeitungen, geschrieben von Rezensenten, die nicht begriffen haben, dass das Genre nicht zufällig Talkshow heißt. Auch sie sind, wenn auch unfreiwillig, Teil der Show.“

Was natürlich kompletter Unfug ist. Für Beobachter 1. und 2. Ordnung ist Freiwilligkeit kein sinnvolles Kriterium zur Bestimmung ihrer Position. Sie beobachten halt. Broder etwa weiß jetzt, „was Muslime denken“, als er zwei Talk Shows beobachtet hatte. Auch ohne den Propheten Kohls zu fragen: Er wusste das sicher schon vorher aus anderen Beobachtungen. Schließlich hat einer der Gäste von Jauch, die Spiegel-Kollegin Özlem Gezer, in der aktuellen Ausgabe als Nicht-Beobachterin ihre Beobachtungen über die Dauerreflexionsschleife niedergelegt. Interessanter sind aber ihre Beobachtungen über den Abend nach der Sendung:

„Bosbach fragt mich, ob ich Alkohol trinke, spricht von Schweinefleisch und dem türkischstämmigen Freund der Tochter. Ich bin froh, dass Bosbach mich nicht fragt, was ich beim Schwimmunterricht getragen habe. Ich esse Pizza und rede mit Imam Abdul. Laut den sozialen Netzwerken: Gewinner des Abends, Schauspieler, Nervensäge, Quasselmann. Wolf im Schafspelz. Ich weiß nicht, wie radikal er wirklich ist, auf jeden Fall ist er enttäuscht. Er sagt, seine Frau werde böse sein, sie möge das nicht, wenn er so sei, so laut. Er sagt, er hätte misstrauisch werden sollen, als die Jauch-Leute wollten, dass er seinen Dschalabija anziehe. Die hätten ihn als Feindbild eingeladen. Jetzt stehen wir da an diesem runden Tisch: der gute Muslim. Der böse Muslim. Der Moderator. Alle sind unzufrieden. Abdul Adhim hat die Rolle des Salafisten-Imams nicht erfüllt. Günther Jauch hat die Rolle des Moderators nicht erfüllt. Und ich?“

„Und ich?“ ist wahrscheinlich die beste Frage, die in dieser Causa bisher gestellt worden ist. Sie zeigt Reflexionsvermögen über die eigene Rolle. Enzensberger hat darüber ein Buch geschrieben, worüber er im Spiegel Auskunft gibt.

„Ich habe einen Streit mit mir selbst angefangen. Zwischen diesem fast 85 Jahre alten Herrn und dem Burschen von damals. Die Leitfrage des Alten lautet: Sag mal, was hast du dir eigentlich dabei gedacht? Das war eine Art, um für die Widersprüche der Geschichte eine formale Lösung zu finden.“

Aber das Thema hatten wir schon erwähnt.#

+++ Bertelsmann legt heute ein Bekenntnis zum Journalismus ab.


Altpapierkorb

+++ Zu Jauch hat sich auch die stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende Julia Klöckner geäußertIhr Kommentar wäre aber eher ein Anlass um auf die Rolle der Politik bei den öffentlich-rechtlichen Sendeanstalten hinzuweisen.

+++ Zum letzten Deutschen Fernsehpreis gibt es nur zu sagen, dass es bestimmt einen Neuen geben wird.

+++ Jauch hat gestern Abend nach dem „Der Folter-Skandal - versagt unsere Flüchtlingspolitik?" gefragt. Die Medienwissenschaftlerin Anna Greb hat im Vorfeld an die Lage der Flüchtlinge nach 1945 erinnert. "Haben wir vergessen, dass Deutschland ohne die Millionen Flüchtlinge (aber auch Gastarbeiter_innen) aus aller Welt nicht das wäre, was es jetzt ist? Haben wir vergessen, dass unsere Großeltern als kleine Kinder mit großen Augen und nichts außer der Kleidung am Leib an deutschen Bahnhöfen standen und nicht wussten, was dieses neue Leben sie erwartet?" Die idealisierende Rückschau verschweigt aber die damaligen Konflikte zwischen Einheimsichen und Flüchtlingen.  

+++ Bei Spiegel online etwas zur Situation von Ex-Journalisten als Flüchtlinge.

+++ Der Netzökonom Holger Schmidt über Facebook als Gatekeeper für Nachrichten.

+++ Am Samstag begann die Abschiedstournee von "Wetten, dass". Den besten Kommentar schrieb ein Meteorologe. Die Quote bei diesem Schnellzug in Richtung Wahnsinn war auf einem historischen Tiefstand. Was heute Fernsehen noch bedeutet, erläutert Hans Hoff in seiner Kolumne auf DWDL. Dafür erlaubt uns das ZDF einen Blick in die Ferne. Wir sehen dort Markus Lanz und Johannes B. Kerner.

+++ Über die Wandlungen einer bürgerlichen Institution namens FAZ.

+++ Über ISIS als informellen Medienpartner Robert Misik in der taz.

+++ Über den Sonntag wird es in einem Jahr in der ARD eine Berichterstattung geben.

Das nächste Altpapier gibt es wieder am Dienstag.

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