Hirn ohne Beiß

Hirn ohne Beiß

Wichtige Tage für den Zeitungsjournalismus sind meist keine guten. Linker Boulevard, titanharte Verhältnisse, der Point of no return, der höhere Himmel über München, ein Heim für bedürftige Journalisten am Viktualienmarkt, "Kir Royal", die Chancen. Bzw.: fast alles zur Insolvenz der Abendzeitung.

Es ist fast alles wie immer bei abendzeitung-muenchen.de: Ude und der Stadtsäckel, "Viktualienmarkt - Erotik beim Tanz der Marktweiber", "die Backstreet Boys in der ausverkauften Olympiahalle", "täglich neu: Das Münchner Madl" (heute nackert), "Blogger Richard Gutjahr schreibt für die AZ jede Woche seine Kolumne 'Leben mit Computer'", Lothar Matthäus geht nicht in den Iran, Lahmsteiger hat angeblich funktioniert. Die Aschermittwochs zum Durchklicken: der "Politische" mit den Sprüchen, die sonst oft im redaktionellen Internet präsentiert werden, und wie die Münchener in den Clubs feierten, "in schrillen Kostümen bis tief in die Nacht".

Nur eine der Meldungen ragt überregional hinaus. Hinab, könnte man zeitungsbranchenstimmungsmäßig auch schreiben: Die Abendzeitung aus München, die "mal für einen lässigen, klugen Boulevard stand und lange Seismograf dieser Stadt war" (SZ, S. 3), "der Traum vom linken Boulevard" (Ulrike Simon/ BLZ), das "Juwel der Pressegeschichte" (Hans-Jürgen Jakobs/ meedia.de), hat Insolvenz angemeldet.

"München ohne Abendzeitung ist wie Hirn ohne Beiß", steht in der Bildunterschriftszeile des Redaktionsfotos über der In-eigener-Sache-Meldung. Auf Herrn Hirnbeiß, "eine Karikatur von Franziska Bilek und grantige AZ-Galionsfigur", bezieht sich das.

"Von der Insolvenz betroffen sind 110 Mitarbeiter, davon 50 in der Redaktion. Das Erscheinen sei zunächst gesichert, hieß es." (EPD/ evangelisch.de). Das heißt, die 110 "erhalten bis Mai Insolvenzgeld, freie Mitarbeiter müssen sich in die Schlange der Gläubiger einreihen" (BLZ).

In der in der AZ selbst und heute überall zitierten Pressemitteilung heißt es:

"Nachdem die Verluste sich seit 2001 auf rd. 70 Mio. € summiert haben, das Jahr 2013 mit einem Minus von rd. 10 Mio. € endete und die Aussichten für 2014, nach zwei weiteren, rückläufigen Monaten, keine Besserung versprechen, sahen sich die Eigentümer des Hauses, die Familie Friedmann, nicht mehr in der Lage, weitere Mittel zur Verfügung zu stellen. Finanziert wurde das Defizit durch die Auflösung von Rücklagen, durch den Verkauf des 'Tafelsilbers' (das Gebäude in der Sendlinger Straße, die AZ Nürnberg und der Frankenreport ...) ...".

Diese AZ Nürnberg machte überregional von sich reden, als sie schon vor anderthalb Jahren eingestellt wurde. Tragik liegt unter anderem deshalb über der AZ-Geschichte, weil die Friedmanns unter den Familien der Gründererben der Süddeutschen Zeitung diejenige war, die anno 2008 ihre Anteile am Verlag nicht an die Südwestdeutsche Medienholding verkaufen mochte. Während die anderen Familien, positiv formuliert: erkannt hatten, dass sich Millionen schon damals zukunftssicherer investieren ließen als im Zeitungsgeschäft, hatten sich die Friedmanns, ebenfalls positiv formuliert, dem Erbe verpflichtet gefühlt. Daher gehört ihnen heute noch der Süddeutsche Verlag zu 18,75 Prozent, daher füllt heute das "Interview zur Insolvenz" heute die gesamt SZ-Medienseite. Eine enorm ausführliche Friedmanns-Story (inklusive der Episode aus der Epoche, als Kuppelei noch eine Straftat war, erst recht in Bayern, die Werner Friedmann sozusagen zur AZ geführt hatte) steht bei newsroom.de.

Dass es heute viele große schöne und warme Worte für die AZ gibt, von denen die sich natürlich nichts kaufen kann, hängt damit zusammen, dass Werner Friedmann auch die Deutsche Journalistenschule, die nach eigenen Angaben "renommierteste Journalistenschule in Deutschland", gegründet hat und viele inzwischen geradezu prominente Absolventen mal bei der AZ waren. Namen mit diesem oder jenem AZ-Bezug: "Buchautor Michael Jürgs, später Stern-Chefredakteur; der für seine Interviews bekannte Arno Luik, heute Stern; der als Star gefeierte Klatsch-Reporter Michael Graeter; Harald Martenstein, heute Kolumnist der Zeit, Marie von Waldburg, Kolumnistin der Bunten, Polit-Talker Frank Plasberg - und nicht zu vergessen: der inzwischen verstorbene Werner Meyer, der 37 Jahre als Chefreporter für die AZ unterwegs war, und die legendäre Filmkritikerin Ponkie (eigentlich Ilse Kümpfel-Schliekmann), die seit 1956 für das Feuilleton schreibt" (BLZ) sowie "Erich Böhme, Peter Glotz, ... Andreas Petzold, ... Hans-Jürgen Jakobs und Claus Strunz" (meedia.de)

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Jakobs leitet im schon erwähnten meedia.de-Text den Niedergang der AZ einerseits von den "titanharten Verhältnissen auf dem Münchener Zeitungsmarkt" her, auf dem allein im Boulevardsegment neben natürlich der Bild-Zeitung auch noch die tz aus Dirk Ippens Verlag gibt (die heute die "Chancen der Insolvenz" "erklärt"; aktuelle Auflagen: siehe Tsp.), andererseits selbstverständlich aber auch mit dem Netz: "Die schnellen, angespitzten Nachrichten, für die die Abendzeitung stand, sind längst im Internet und kaum einer zahlt dafür."

Reine Online-Kommentatoren sind weniger zurückhaltend als Jakobs, der ja Chefredakteur des Handelsblatts ist. "Götterdämmerung", schrieb Karsten Lohmeyer (lousypennies.de) in seine Überschrift: "Für viele Zeitungshäuser ist wie bei der Abendzeitung der 'Point of no Return' dabei längst überschritten - der Moment, in dem die Verluste im Print zu groß werden und die mageren Gewinne im Digitalen, sofern es diese überhaupt gibt, noch viel zu spärlich fließen", schreibt er, freilich unter allerhand Respektbezeugungen, wiederumeiner eigenen AZ-Vergangenheit wegen. Was es bedeutet, dass er als Beispiele für online erfolgreiche "Medienmarken" neben der Wochenzeitung Die Zeit auch noch die ziemlich medienferne Stiftung Warentest nennt, unklar. Jedenfalls empfiehlt er Zeitungen, "ein paar Projekte von journalistischen Bloggern mit ein paar LousyPennies und betriebswirtschaftlicher Komeptenz" zu unterstützen.

"Diese Pleite zeigt, was deutschen Zeitungsverlagen als nächster Schritt bevorsteht", haut auch Tommy Knüwer (indiskretionehrensache.de) in dieselbe Kerbe, zwar unter Verwendung des Terminus "Totholzmedien", aber ohne sehr viel Häme (weil AZ-Chefredakteur Arno Makowsky mal guten Eindruck auf ihn gemacht hatte). Woran Knüwer nicht glaubt: an die seitens der AZ implizierte Schuld des Bundeskartellamts. "Bisher war der Einstieg eines Partners auch aus kartellrechtlichen Gründen verweigert worden", heißt es in der Originalpressemitteilung. "Auch die großen potenziellen Aufkäufer sind längst dabei, das Wasser aus dem Bug des sinkenden Schiffes zu schüppen", metaphert Knüwer.

Dass die "enge, meist auf das jeweilige Zeitungssegment oder Gebiet ausgelegte Definition des 'relevanten Marktes' durch das Kartellamt" heute, da "auch zahlreiche Internetportale um die Aufmerksamkeit der Leser konkurrieren ... wenig zeitgemäß" sein dürfte, glaubt indes horizont.net. Der AZ half "eine engere Zusammenarbeit mit dem Süddeutschen Verlag ... wenig, weil gerade die Zusammenlegung lokaler Anzeigenmärkte vom Kartellamt nicht erlaubt wurde. Statt eines gemeinsamen Anzeigenverkaufs musste es bei Gemeinsamkeiten in Technik und Vertrieb bleiben", präzisiert die FAZ auf ihrer Medienseite

Damit tiefer hinein in die Süddeutsche, die zu knapp einem Fünftel ja den Friedmanns gehört. Heute verehrt sie der AZ zwei ganze Seiten. Die Seite 3 füllt eine Sowas-von-Seite-drei-Reportage, die ihrer Überschrift "Melancholia" alle Ehre macht.

Eines der Fotos zeigt Anneliese Friedmann auf einem Foto aus dem Jahre 1965.

"München wurde zu dieser Zeit gerade zum Fluchtpunkt für die Sehnsüchte der Bundesrepublik. Das hatte viele Gründe. Einen kann man heute noch nachvollziehen. Wenn man in einem der Sommermonate auf der A 9 von Berlin nach München fährt, ändert sich irgendwo zwischen Nürnberg und Ingolstadt das Licht. Es wird wärmer, goldener, die Konturen werden schärfer, der Himmel höher",

schreiben Claudia Fromme und Andrian Kreye, und:

"Wer wirklich begreifen will, welche Münchner Ära mit der Insolvenz der Abendzeitung einen Schlusspunkt bekommt, der muss in den Fünfziger- und Sechzigerjahren in der Stadt gelebt haben. Oder wenigstens in einem dieser Werke kluger Urbanisten herumlesen, wie in 'München wird moderner – Stadt und Atmosphäre in den langen 1960er Jahren' von Simone Egger, das im vorigen Jahr erschienen ist ..."

Es ist halt lange her, Kreye ist Jahrgang 1962, Fromme Jahrgang 1972. Die beiden führen aber auch mögliche Ursachen des Niedergangs an:

"Vielleicht lag es ja auch daran, dass so mancher Chef in der Sendlinger Straße gar kein Münchner war. Oder daran, dass die Zeitung aus ihrer Redaktion in der Sendlinger Straße in einen Newsroom am Hauptbahnhof zog",

schreiben sie in der Süddeutschen, deren Redaktion ja aus derselben Straße in ein Gewerbegebiet am Autobahnzubringer gezogen ist. Was dagegen noch mitten in Münchens hochpreisiger City aktiv ist: das "Wohnheim der Familie Friedmann am Viktualienmarkt, in dem bis heute alte und bedürftige Journalisten und Künstler ein Obdach finden". Melancholia!

Frei online steht dieser Text nicht, aber ein ähnlicher. Fromme/ Kreye haben überdies auch das ganzseitige "Interview zur Insolvenz" mit Johannes Friedmann geführt, der dort recht tief in die finanziellen Details bzw. Miesen geht ("In den letzten Jahren macht die Abendzeitung zirka acht Millionen Euro pro Jahr Verluste") und von einem jahrelangen Rechtsstreit mit einer Druckerei berichtet, mit der anno 1998 ein "außerordentlich nachteiliger Druckvertrag ..., der noch bis Ende 2015 laufen würde", abgeschlossen worden sei.

Fromme/ Kreye: "Könnte diese Summe, die Sie bei der FAZ-Druckerei in Maisach geltend machen wollen, die AZ denn retten?"

Friedmann: "Die Zeitverzögerung deutscher Gerichte ist heute so abenteuerlich, dass wir den Ausgang nicht mehr abwarten können."

Das heißt offenbar, dass die FAZ, der es vermutlich auch nicht blendend geht (die aber die ebenfalls traditionsreiche, ebenfalls linksliberale Frankfurter Rundschau in arg reduzierter Form im Rahmen solch einer Sanierungsfusion übenommen hat, auf die die AZ ebenfalls hofft), womöglich eines Tages all diese Millionen zahlen müsste ...

Kennern der Materie ist sicher aufgefallen, dass der allerbekannteste überregionale Bezugspunkt zur AZ, der heute auch überall erwähnt wird, hier noch gar nicht aufgetaucht ist: "Kir Royal", "Baby Schimmerlos", Dietl, Kroetz, Ruth Maria Kubtischek als quasi Anneliese Friedmann.

Hier geht's zu dem Sample, das einem bei der Formulierung "Geld zuschießen" immer in den Sinn kommt, weil sich die, die Mario Adorf darin verwendet, beinahe genauso schreibt.

Dass der verblassende "Kir Royal"-Ruhm praktisch gar nichts mehr mit dem Fernsehen zu tun hat, dessen zahlreiche öffentlich-rechtliche Kanäle lieber alle dieselben neueren Einschaltquoten-"Tatorte" wiederholen als dass einer von ihnen ältere Produktionen zeigt, dass vieles Ältere dank Youtube dennoch immerzu überall verfügbar ist, ist natürlich auch ein Zeichen der Zeit.


Altpapierkorb

+++ "Warum das Fernsehen immer schlechter wird": u.a., weil "vor allem RTL, heißt es in der Branche, ... mit Telefonvotings mehr als jeder andere Sender" verdiene und weil Produktionsleiter "mit der Kostenkalkulation großer Abendshows" Geld verdienen und damit von Kulissenrecycling profitieren. Das schreibt Springers Welt, vor allem mit Bezug auf Fred Kogel, bekannt aus besseren Jahren des Privatfernsehens. +++

+++ Kogels Kumpel Harald Schmidt hat in einer seiner letztens Shows auf dem volkswirtschaftlich so nützlichen Pay-TV-Plattform Sky nochmals mit Playmobil gespielt (dwdl.de). +++ Dagegen mit Zukunft bei Sky: Monica Lierhaus. Kurt Sagatz hat für den Tagesspiegel ihre Interviewsendung mit Jürgen Klinsmann gesehen. +++

+++ Der Verlag des Guardian, dieses "Enthüllungsblatts" (handelsblatt.com), hat "seine digitalen Umsätze im vergangenen Jahr um 25 Prozent gesteigert" (Tagesspiegel, meedia.de). Neben Klicks auf Snowden-Enthüllungen haben dazu aber auch der Verkauf einer Autohandelsplattform an Finanzinvestoren beigetragen, sowie "die Dating-Plattform Guardian Soulmates", erinnert wiederum handelsblatt.com. +++

+++ "Der Wunsch, die exklusive Nachricht zu haben, in dem Rennen darum vorn zu liegen, scheint nur in der Menge zum Exzess zu führen, nicht beim Einzelnen. Man spricht mit wohligem Gruseln selbstkritisch von der 'Rattenjagd', nicht von der 'Ratte'", schreibt Jürgen Busche in einer Nachbetrachtung der medialen Christian-Wulff-Sache im Freitag (unter etwas irreführendem Vorspann). +++

+++ Der vietnamesische Journalist und Blogger Truong Duy Nha ist zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt worden. Die TAZ gibt einen aktuellen Überblick über die finstere Lage der Medienfreiheit in dem asiatischen Staat. +++

+++ Außerdem belebt die TAZ das oft vernachlässigte Genre der Besprechung von nicht so gelungenen Fernsehsendungen: "Der Film lässt einen am Ende etwas ratlos zurück. Die vorgeführten Bespieleltern legen mit ihrer exzessiven Beklopptheit den Schluss nahe, dass die Welt hierzulande doch noch einigermaßen in Ordnung ist. Denn so, wie es im Film gezeigt wird, ist es hier nicht. Der Film tut aber leider so", schreibt Jens Müller über die kanadische Dokumentation "Generation Weichei", die 3sat heute zeigt. +++

+++ Hey! Endlich mal wieder eine neue Fernsehkommissarin. Anna Loos hat zwar keinen "Tatort"-Rolle bekommen, sondern bloß eine in einer neuen ZDF-Samstagskrimi-Reihe, gibt dem Tagesspiegel aber ein großes Interview ("Die Tochter meiner Kinderfrau ist Polizistin. Da habe ich einiges über den Polizeialltag erfahren ..."). +++ Schon jetzt gespannt auf den ARD-Krimi am Sonntag, in dem Til Schweiger wieder den Kommissar gibt, macht Michael Hanfeld in der FAZ: "Das eine oder andere 'Tatort'-Team könnte sich von dem Hamburger Thrill aber gerne eine Scheibe abschneiden." +++

+++ Und Achtung, schütten Sie sich bloß nicht aus vor Lachen, wenn jetzt die TAZ auf einer Postkarte die elfte Enzensberger-These entdeckt hat (Kontext: Altpapier vom Montag). +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.

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