Die Erbsünde der Solarzelle

Die Erbsünde der Solarzelle

Wird das die Zukunft des Journalismus gewesen sein: Elder-Statesman-Hauptsätze, Vorab-Protokolle und Wünsch-dir-was-Geschichten. Und das Fernsehen stört die Totenruhe. Die Netzpolitik sorgt sich um sich selbst, wieder mal. Außerdem: Ein Brief aus dem russischen Straflager.

Mann des Tages: Gerhart Baum again! Vorgestern hier und hier und deshalb via SZ gestern hier bei uns. Heute nun schon wieder: Frontpage, FAZ-Feuilleton (Seite 25). Geht natürlich um NSA und Bürgerrechte, das ist Baums Beritt.

Wie sympathisch man Baum auch finden mag (oder auch nicht) – sein "Ich will, dass wir beißen können" sagt viele Sachen, die man sofort als sympathisch oder richtig unterstreichen möchte:

"Zwar gibt es ein gewisses öffentliches Interesse an den Enthüllungen über Praktiken der Nachrichtendienste; aber die fundamentalen Auswirkungen der digitalen Revolution haben nicht zu einer Sensibilisierung und Mobilisierung der Menschen geführt. Sie erzeugen noch nicht einmal ein Gefühl von Unbehagen."

Vielleicht ist das aber genau das – ist jetzt ein großes Wort – Problem: dass entweder Baums Argumente zu common sind oder eben der Autor zu weit in die Elder-Statesmen-Spots der Fernsehstudios entrückt. Anders gesagt: Wenn Angela Merkel diese Anamnese mit angeschlossenem Aufgabenkatalog gesignt hätte, wäre das so: Bombe.

So aber ist es eben, wie es ist: Gerhart Baum sagt, wofür man ihn in die Fernsehstudios einlädt. Am interessantesten ist dabei der Ton: der Staatsmann-Hauptsatz, der in der freien Wildbahn zwischen Politikerrede und Leitartikel (hier die etwas lustlos auswendig gelernte Variante von Ulf Dr. Poschardt) vorkommt. Jeder Gedanke ist immer gleich auch Forderung, jede Analyse Behauptung.

"Jetzt geht es um eine datenschutzgerechte Nutzung des Internets. Niemand sollte daran ein größeres Interesse haben als die datenverarbeitende Wirtschaft, sonst werden wir unabänderlich zum gläsernen Menschen, über den Google mehr weiß als wir selbst."

Inhaltlich ist das natürlich süß: Die datenverarbeitende Wirtschaft kriegt angesichts solcher Sätze einen Moralischen und beschließt, künftig auf Profite zu pfeifen und stattdessen per Crowdfunding das Mahnmal des eben nicht gläsernen Menschen zu pflegen?

Stilistisch würden jüngere Journalismuszulieferer aus dem Experten-Halbfeld in solch debattös fetteren, thematisch komplexeren Zusammenhängen wohl Zehn-Thesen-Stücke anbieten – das wäre für einen Elder Statesman wie Baum freilich zu trivial.

Vielleicht mag sich Constantin Seibt mit dem Gerhart-Baum-Genre noch mal beschäftigen, wenn sein journalismustechnischer Blog "Deadline" endlich als Buch vorliegt und er seine persönliche Number One der besten Journalismusbücher verraten hat.

Heute werden zumindest die Plätze 6 bis 2 verkündet, und, au Backe, Wolf Schneider ist nicht dabei. Ein Auskenner wie Schneider hätte zu Seibts idiosynkratischer Journalismusauffassung auch nicht so gepasst:

"Nicht ohne Grund beschäftigt sich keines der Bücher, die mir im Job wirklich geholfen haben, direkt mit dem Journalismus. Zum einen, weil das, was einen an Büchern über das Schreiben wirklich inspiriert, selten die Regeln oder Rezepte sind. Sondern die Haltung dahinter. (Das läuft übrigens ganz ähnlich mit Zeitungsartikeln. Was bei einem Artikel mitreisst, ist nicht die Information, sondern die Haltung, mit der sie transportiert wird: etwa die Frechheit, das Mitgefühl, die Genauigkeit, der Zorn, die Grosszügigkeit, die Furchtlosigkeit, etc.)"

[+++] Wenn wir schon bei brancheninternen Fragen sind, ist es zur Frontpost der TAZ-Kriegsreporterin Silke Burmester nicht weit.

Die berichtet diese Woche zum einen von "Unterstützermails" in Sachen der einstweiligen Verfügung by Matthias Matussek gegen sie.

"Besonders reizend finde ich einen Herrn aus München, der mir schrieb, er habe noch die Tagebücher aus der Zeit im Keller, als M. in seiner WG ein und aus ging und fragte, ob ich gern wissen würde, was darin steht."

Dann beschäftigt sich Burmester aber auch noch mit einem Stefan-Niggemeier-Post von neulich. In dem ging es darum, dass der Stern sich die Zeit vom Tag des letzten Erscheinens vor der Wahl (Donnerstag) bis zur Wahl (Sonntag) vertrieb mit einem "Vorab-Protokoll", das szenisch (Wolf Schneider School of Gutes Schreiben) die Zukunft zutextete.

Burmester:

"Das ist die Etablierung von 'Futur II' als journalistische Stil- bzw. Reportageform. Niggemeier, dieser Miesepeter, findet das natürlich verwerflich. Aber der ist auch so engstirnig! Anstatt dass er mal sieht, was das heißt! Gerade jetzt, wo der Journalismus so infrage steht. Dabei ist es kein Wunder, dass kein Leser mehr Geld ausgeben will für die öden Was-war-Beschreibungen. Wie großartig sind da die Möglichkeiten, aufzuschreiben, was gewesen sein könnte."

Futur II, so viel Harald-Welzer-Zeigefinger muss sein, hieße allerdings: "aufzuschreiben, was gewesen sein wird".

Wie groß der Ernst hinter dem Witz ist – "Morgen schon schreibe ich die Reportage: 'Schatz im Staub – Wie Eva Brauns Tagebücher gefunden wurden'" –, lässt sich so genau nicht sagen. Ein wenig wird darin aber schon stecken, denn ohne den Stern-Text überhöhen zu wollen – eigentlich ist so ein Vorab-Protokoll doch Kapitulation vor allem, was die eigene Arbeit ausmacht: Wenn die Dinge so leicht vorherzusagen sind und man es dann auch noch macht (und zwar nicht als Parodie, sondern irgendwie seriöses "Stück" zur Wahl), dann kann man tatsächlich in tiefe Sinnkrisen verfallen.

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Ein Bereich des Qualitätsjournalismus, der vom Spiel mit der Vorahnung lebt und nur – Konjunktiv Futur III? – Kleinstanlässe für die immer gleichen Geschichten von Krise und Glück sucht, ist das Regenbogenpressengeschäft. Der topfvollgold-Blog bildet aktuell Selbsterklärungen der fantasievollen Zeitschriften zur Rechtfertigung ihrer Seriosität ab:

"Die Überschrift 'Alkohol-Schock! Stefan Mross — Wer kann ihm jetzt noch helfen?' sei auch nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit dem gesamten Beitrag zu sehen. Diese Ankündigung auf der Titelseite stelle die in der Mediengattung übliche Präsentation dar."

Ein Perpetuum mobile der Argumentation: Erst setzt man die "in der Mediengattung üblichen" Standards, dann hält man sich an sie.

[+++] Zerknirschter sind die Mitteilungen, die Michael "mspro" Seemann via Carta über den Stand der Netzpolitik bei dieser Wahl (und damit nach 8 Jahren des Engagements) macht (Wolfgang-Michal-Schule der Bewegungsbetrachtung).

"Klar ist, die Politik hat ihren Respekt vorm Netz verloren. Viel Getöse, nichts dahinter. Auch Shitstorms bestehen nur aus Dünnschiss. Es wird jetzt schnell gehen, ob mit der großen Koalition oder ohne: Vorratsdatenspeicherung, Netzsperren, mehr Überwachung, ein Trojanergesetz werden sicher kommen, Netzneutralität können wir uns in die Haare schmieren, und vielleicht können sich die Urheberlobbyisten noch mit Three-strikes oder anderem Ekelquatsch durchsetzen. Wer sollte sie aufhalten? Willkommen beim Rollback, bitte anschnallen."

In den Kommentaren aber keimt Hoffnung, wenn man das so sagen kann, es wird nämlich ordentlich kritisiert am Beitrag. Raventhird merkt an:

"Empfinde das als einen schrecklichen, aufmerksamkeitsheischenden Drama-Queen-Text, der zwischen der einer zum Greifen nahen 'Weltherrschaft' und einem düsteren Weltuntergang hin- und herpendelt. Natürlich findet beides im Wahrheit nur in der Phantasie des Autors und in seiner Filterblase statt."

Jens Best bescheidet nüchterner:

"Es handelt sich um einen für den Autor überraschend gehaltlosen Rant."

Hätte sich damit ein Kreis in unserer heutigen Kolumne geschlossen?


Altpapierkorb

+++ Prozesse dauern, ist auch von Yasmin Namini zu erfahren, Chief Consumer Officer bei der NYTimes. Sie sagt im Interview mit Christian Meier von Meedia.de über Bezahlmodelle im Digitalen: "Es ist ein langer Prozess, eine Evolution. Im Grunde geht es darum, die Erlösströme zu diversifizieren. Wir haben mit den heavy usern angefangen und unsere Nutzer auch ein wenig daran gewöhnt, dass für digitale Produkte auch Geld gezahlt werden muss. Der Markt verändert sich und das schafft neue Möglichkeiten." +++ In der SZ versucht Hans Leyendecker das Ausmaß der Bespitzelung von Journalistin einzugrenzen, die über Nazis berichten (Altpapier vom Donnerstag): "Zu den überwachten Journalisten gehört auch der Berliner Journalist Ronny Blaschke, der sich durch Recherchen über rechtsextreme Umtriebe im Sport bundesweit einen Namen gemacht hat." +++ Michael Hanfeld zitiert in der FAZ aus dem Brief, mit dem die Pussy-Riot-Sängerin Nadeshda Tolokonnikowa ihren Hungerstreik im Straflager begründet. Hier die englische Übersetzung, bei Welt.de eine gekürzte deutsche: "Das System, so schildert es die Pussy-Riot-Sängerin, sei darauf ausgerichtet, die Gefangenen zu 'stummen Sklaven' zu machen. Es werde alles dafür getan, dass man sich wie ein 'rechtloses, schmutziges Stück Vieh' fühlt." +++

+++ Svenja Bednarczyk schreibt in der TAZ über Vorwürfe an das Schülermagazin Spiesser, bezahlte Anzeigen und Redaktion zu vermischen. Was dementiert wird. "Nicht als Anzeigen gekennzeichnet ist hingegen der Spiesser-Blog 'meine-deine-energie'. Dort entstehen Beiträge wie 'Warum Photovoltaik in Deutschland nichts zu suchen hat' oder 'Die Erbsünde der Solarzelle' in Zusammenarbeit mit dem Stromkonzern." +++ Cornelius Pollmer schreibt in der SZ (Seite 31) zu den Plänen der Wochenzeitung Die Zeit, ihre Ost-Ausgabe nicht nur in Sachsen, sondern auch noch in vier weiteren Bundesländern zu vertreiben: "Wie schon bei den Ausgaben für Österreich und die Schweiz wird das Blatt dafür umgebaut. Zu Gunsten der Regionalseiten verschwinden am Ende des ersten Buchs das Inhaltsverzeichnis und ein Großteil der Meinungsbeiträge." Auch ganz interessant zu wissen. Pollmer erinnert in dem Zusammenhang an die unvermeidliche "Super"-Zeitung unter der Führung von Post von Wagner mit der unvermeidlichen Schlagzeile ("Angeberwessi", "Bierflasche"). "Der Anspruch der Ost-Seiten der Zeit ist freilich ein anderer. Ziel ist es, politische Debatten zu prägen und die Identität des Ostens ein knappes Vierteljahrhundert nach der Wende neu zu vermessen." +++ Auf der gleichen Seite schreibt Michael Bitala über ein Portal, das Nachrichten über – tatsächlich immer der Kontinent – Afrika checkt: "Besonders amüsant ist ein Text über das Magazin Time zu lesen, das unlängst schrieb, in Afrika gebe es ein gravierendes Alkoholproblem. Besonders schlimm sei es in Kenia, Südafrika und Nigeria. Die Autorin bezog sich dabei auf Zahlen der Weltgesundheitsorganisation. Die Africa-Check-Journalisten haben diese Zahlen nun überprüft und schreiben, dass sie falsch interpretiert wurden. In den meisten Ländern Afrikas trinken oft mehr als 80 Prozent der Menschen gar keinen Alkohol und die angeblich besorgniserregenden Alkoholmengen (fünf Bier pro Woche) in Nigeria oder Südafrika liegen noch hinter den Durchschnittszahlen für Europa." +++

+++ Schön erregt sich Dieter Bartetzko in der FAZ (Seite 31) über das MDR-Projekt um die "Dunkelgräfin": "Von Kameras beobachtet, sollen die Gebeine der Hildburghausener Rätselfrau exhumiert und mittels Gen-Analytik, Anthropologie und Genealogie als die der Marie Thérèse identifiziert werden. Vor ein paar Tagen unterschrieben die Stadt und der MDR eine Vereinbarung zur Vorgehensweise. In ihr ist auch festgelegt, dass beide Seiten bis zur Ausstrahlung über die Ergebnisse schweigen werden." Das unterscheidet dieses, äh, Forschungsvorhaben von dem Deal, den die Grünen mit Franz Walter haben, da darf bekanntlich laufend publiziert werden. Bartetztko ist das allerdings entschieden zu halbseiden, er erinnert an die Verantwortung der Medien, die der MDR natürlich gar nicht spüren kann: "Trotzdem begründet der MDR sein neues Dunkelgräfin-Projekt mit dem Erfolg des Schiller-Codes. Exhumierung als Quotenfänger – damit sind wir Welten entfernt von jener bundesweiten Empörung, die 1999 ein Bericht dieser Zeitung über die Mazeration (Knochenbleiche) des Leichnams von Goethe auslöste, die man 1970 in Weimar heimlich durchgeführt hatte; Störung der Totenruhe – das sei charakteristisch für die anstandslose DDR-Diktatur, lautete das allgemeine Urteil." +++ Noch eine ethische Frage: Joseph Croitoru auf der gleichen Seite über die Mitschnitte von Gesprächen, die ein Arzt mit Hosni Mubarak geführt hat: "Ob der Ex-Präsident wirklich alles glaubt, was er sagte, ist nur schwer zu beurteilen. Jedenfalls scheint der erkrankte Ex-Staatschef in der Isolation der Haft im Frühsommer die Lage im Land kaum noch realistisch eingeschätzt zu haben. Er hielt Verteidigungsminister al Sisi, der den Staatsstreich im Juli anführte, bis zuletzt für einen unterwürfigen Helfer der regierenden Muslimbrüder." +++ Und noch mal Kunstethik. Thomas Gehringer ist im Tagesspiegel über die fiktionalen Elemente in Marten Persiels DDR-Skateboard-also-Rollbrett-Fahrer-Doku "This ain't California" not amused: "Aber dass hier – Kopf hin, Bauch her – mit dem authentischen Anschein gespielt wird, ist für das Publikum nicht ganz so einfach zu entschlüsseln. Außer man kennt zum Beispiel die Schauspieler Kai Hillebrand (Denis) und Klaus Nathan (Nico) oder wird bei den offenkundig inszenierten Privataufnahmen und den gestellt wirkenden Interviewszenen misstrauisch – womöglich mit dem Ergebnis, dass man dem Film am Ende gar nichts mehr glaubt." +++ Ebenfalls im TSP: Nikolaus Blome kommt ins "Promi Big Brother"-Haus, Pamela Anderson jetzt doch schon Mitte Oktober zum Spiegel. +++

Der Altpapierkorb füllt sich morgen wieder.

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