Mehr als die Wahrheit

Mehr als die Wahrheit

Was fehlt, ist eine Kultur des Fehlereingestehens, tönt es aus der Schweiz. Betrifft in weitestem Sinne: Andreas Schmidt-Schaller, Gregor Gysi, Res Strehle. Oder eben andersherum betrachtet: Bild, Günther Jauch und die Sendung Zapp.

Von den Darlings des gestrigen Tags hat es Stefan Raab bis nach heute geschafft. Um den geht's dann aber später. Frank Schirrmacher ist irgendwie raus aus der hottesten Erregung des dirty Medienbiz, deren Puls angemessen fühlen zu können, wir uns hier dauernd noch unsinnigere Bilder einfallen lassen.

Gut, es gibt Kritiken des Buchs wie die gestern Abend in DLFs Andruck ("auf 30 Seiten eindampfen") und heute in der Berliner (Seite 23), wobei man bei letzterer dann schon noch einen Moment verweilen kann.

Christian Schlüter hat nämlich durchaus die PR-Journalismus-Effekte um "Ego" herum beobachtet:

"Der Blessing-Verlag kündigt in seinem Prospekt bereits lange vorher den Bestseller für 2013 an. Der Publizist Jakob Augstein wird darin mit euphorischen Worten über den Autor, Frank Schirrmacher, zitiert – der sei ein ganz toller Typ, und solche Sachen. Dann gab Augstein in seiner Kolumne auf Spiegel-Online in der letzten Woche noch das Superlob aus, ein Konservativer, also FAZ-Herausgeber Schirrmacher, sei jetzt links gewendet, weil er Kapitalismuskritik betreibe. Derweil kam im Print-Spiegel ein Schirrmacher-Essay nebst –Interview zu stehen. Hey, schön, Jungs, dass ich euch so behänd die Bälle zuwerft."

Und Schlüter scheint außerdem einen Begriff von politischer Linke zu pflegen, dem "kapitalismuskritisch" als Erklärung nicht ausreicht, weshalb er bei einer Verortung Schirrmachers den Blick auf Oswald Spengler, Stefan George und Thomas Mann lenkt – unter Zuhilfenahme von so superselbstreferentiellcheckermäßigem Fritz-Göttler-PunktPunktPunkt:

"Oder [man] nehme einfach mal ein Buch von Schirrmachers publizistischem Ziehvater Joachim Fest in die Hand ... Nun gut."

Das Interessanteste an dem Text ist dann aber, wie er trotz seiner Zweifel am Ende als Kaufempfehlung daherkommt:

"Das sollte uns Warnung sein. Und ein Grund, Frank Schirrmachers Buch zu lesen."

Ohne hier den Joachim Rohloff der Schirrmacher-Kritik zu machen (für den es 2010 schon eine Vorgängerin gab: Simone Falk): Wenn das anregend-einleitende "Das" von Schlüters Fazit sich auf folgendes bezieht –

"Über das Wie dieser Zurichtung erfahren wir, wie bereits bemerkt, eher wenig, dafür krachen die alarmistischen Beschreibungen des Was umso mehr: Sie reichen von der Abschaffung der Politik durch sich selbst über die Vision der 'marktkonformen Demokratie' (Angela Merkel) bis zur Utopie des 'Informations-Markt-Staates' – den wir uns am besten als hypernervöses Netzwerk nach dem Vorbild eines Ameisenhaufens vorstellen" –,

dann hätten wir daraus geschlossen, dass damit gegen etwas argumentiert werden soll – "eher wenig", "krachen", "alarmistische Beschreibungen" scheinen uns keine Attribute zu sein, die zum Kauf motivieren. ... Nun gut.

So ein Joachim-Rohloff als Maßeinheit des pedantischen Nachbereiters steht der hier gepflegten Arbeit vielleicht aber gar nicht so schlecht aka fern. Gerade im nächsten Komplex, der unheimlich fitzelig erscheinen muss.

Geht los mit der lapidaren Meldung in der Berliner (Seite 25, rechts oben), dass der Schauspieler Andreas Schmidt-Schaller ("Polizeiruf 110", "Soko Leipzig") als "IM Jochen" mal bei der Stasi was unterschrieben hatte. Rausgefunden hat's Springers heißes Blatt, und viel spannender als der "Eklat" (wie stern.de das zumindest im Suchmaschinenteaser nennt) selbst wäre eigentlich, wie so was passiert – das könnte eine Qualitätszeitungsmedienseite amerikanische Serie doch mal rausfinden.

Das wären die entscheidenden Fragen: Müssen Springer-Mitarbeiter überhaupt noch irgendwas anfragen in der Jahn-Behörde oder werden alle neu gefundenen, für die Zwecke von Springers Geschäft relevanten Akten gleich cc ins Haus an der Rudi-Dutschke-Straße geschickt? Wonach richtet sich, ob das Zentralkomitee die Bild-Chefredaktion den Daumen hebt oder senkt? Was wird da noch verhandelt an weiteren Verpflichtungen Schmidt-Schallers, des ZDF, damit auf Beichte (und nicht Attacke) entschieden wird, durch die Springer, ohne sich selbst zu erwähnen, Gnade vor Recht ergehen lassen und dem reuigen Sünder vergeben kann? Und liegt so eine halbgare (zu jung, zu lang her, der Typ doch irgendwie ganz nett) Schmidt-Schaller-Enthüllung da ewig rum, damit sie, wenn sie selbst schon nur schnell verpuffende Vergebung hergibt, wenigstens gegen Gysi inszeniert werden kann als "Alternative", wie es sich im Umgang mit der Vergangenheit zu verhalten gehört vor den "Möchtegern-Richtern in den Redaktionsstuben"?

Die letzte Formulierung stammt aus einem TAZ-Text von Richard Schröder, in dem der SDP-Mitbegründer und Theologe vorschlägt, in der momentanen Gysi-Diskussion eher auf die Erklärungen der Staatsanwaltschaft zu setzen, statt das Stakkato der Beiträge von Welt, Focus und Spiegel schon als Schuldbeweis zu nehmen:

"Kein deutsches Gericht würde Gysi wegen eidesstattlicher Falschaussage verurteilen, wenn er einem Stasioffizier gesagt hätte: Honecker hat graue Haare, obwohl er ja dann über 'sonst jemanden' berichtet hätte."

Auf diesem Niveau aber siedelt die "Debatte", die besonders eindrücklich von einem Fernsehbeitrag Bastian Berbners und Lida Askaris aus der letzten Zapp-Sendung wiedergegeben wird. Der Witz dabei ist, dass sich das sogenannte Medienmagazin für die medialen Aspekte der Gysi-Geschichte überhaupt nicht interessiert, sondern Journalisten nur als Kronzeugen nimmt (darunter, don't talk about Unabhängigkeit, der einstige NDR-Mann Hans-Jürgen Börner), um selbst munter Partei zu sein bei der Hatz auf den Politiker.

"Längst scheint es nicht mehr nur um die Wahrheit zu gehen."

Raunt der Beitrag, ohne auch nur die leiseste Ahnung davon zu haben, dass seine Machart damit treffend beschrieben ist: Die Möglichkeit, dass Gysi sich seit Jahren mit den Mitteln des Rechtsstaats gegen journalistische Artikel wehren kann, weil die in diesen Texten gemachten Vorwürfe juristisch nicht zu belegen sind (also womöglich auch: nicht stimmen könnten), scheint bei brutalstmöglichen Aufklärern wie Uwe Müller ("Welt"), NDR-Börner oder LVZ-Dieter Wonka sowie den Zapp-Leuten ausgeschlossen zu sein.

Was, und das ist der zweite Witz, deren lausiges Bild vom Rechtsstaat offenbart, der miesen Tricksern wie Gysi scheinbar nur Nebelkerzen zur Verfügung stellt, mittels derer die Vollstreckung des über ihn beschlossenen Urteils moralischer Verfehlung wieder und wieder hinausgezögert werden kann – dabei sollte gerade der Rechtsstaat, der hier nur stört, doch eigentlich der Grund sein, sich der DDR überlegen zu fühlen.

Man fasst es nicht.

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Ein Medienmagazin, das seinen Namen aus kritischem Anspruch trüge, hätte sich angesichts solch einer Gemengelage lieber vorzustellen versucht, wie die Müllers, Börners und Wonkas, die hier auf eine Weise Gysis Skalp fordern, die man nur widerlich nennen kann, selbst nichts Besseres zu tun hätten, als "die Hosen runter zu lassen" vor den Interessen irgendwelcher Medien, wenn es an den Kern ihrer Existenz, Reputation und bürgerlichen Rechte ginge.

"Eine Stellungnahme käme zum jetzigen Zeitpunkt einem Unterwerfungsakt gleich. Aber Aussitzen hilft nicht ewig."

Schreibt Nick Lüthi auf Medienwoche.ch über einen Schweizer Fall des öffentlichen Umgangs mit Vergangenheiten, deren Bewertung ideologisch-moralisch aufgeladen ist. Es geht um Res Strehle, den Chefredaktor des Tagesanzeigers, dem Köppels rechtsdemagogische Weltwoche "einstige Nähe zu Terroristen" vorwirft.

Ronnie Grob macht sich derweil ebenda Gedanken, warum eine Äußerung Strehles in eigener Sache, eine Kritik früherer "Fehler" so schwer fällt:

"Erst aus einer Kultur des Fehler-Machens und des Fehler-Eingestehens kann auch eine Kultur des Kritik-Anbringens und des Kritik-Eingestehens entstehen. Eine Kultur, in der jedem und jeder eine gewisse Anzahl Fehler zusteht, die offen besprochen werden können, führt zu einer Kultur, die offene Kritik nicht nur aushält, sondern aktiv als Arbeitsinstrument verwendet. Offen ausgetragene Kritik ist zweifellos nicht immer angenehm, dafür oft lehrreich. Sie führt zu Verbesserungen."

Da simmer dabei. Eine Erklärung dafür, warum wir in solch einer Kultur eher noch nicht leben, hat Grob allerdings nicht. Auch wenn mancher Gedanke (Transparenz durchs Internet, "wir alle machen Fehler") nicht uninteressant ist, scheint der Text ungenau in seiner Defintion des "Fehlers".

"Ich selbst feierte in einem Blogtext 2010 die Auflagezahlen von Martin Spieler bei der Handelszeitung, bis ich merkte, dass der Gewinn aus den übernommenen Cash-Abos resultiert. Ein dummer Fehler, der den ganzen, eindeutig zu schnell geschriebenen Artikel in Frage stellt und den ich besser nicht veröffentlicht hätte."

Zwar ist es löblich – und internettypischer –, dass Grob mit eigenem Beispiel vorangeht. Aber der Unterschied zwischen seinem Fehler und Strehles "Fehler" scheint doch beträchtlich.


ALTPAPIERKORB

+++ Oder anders gesagt: Manche Geschichten lassen sich in terms of Günther Jauch einfach nicht erzählen, wie Claudia Fromme am Sonntag aufgefallen ist in einer Note in der SZ: "Detailliebe? Single? Strategie? Geht's noch? Es ist schwer erträglich zu sehen, wie manche Journalisten dieser Tage wieder Natascha Kampusch begegnen. Günther Jauch war da am Sonntag keine Ausnahme. (...) Das Crescendo von Einspielern gipfelte bei Jauch in einer Szene, die zeigt, wie der Peiniger sie vergewaltigt. Kampusch versuchte abzuwehren, Jauch fragte immer weiter." +++ Ebenfalls in der SZ: Andrian Kreye schreibt eine kleine Kulturgeschichte Amazons unter Berücksichtigung seines Gründers Jeff Bezos, die in vielerlei Hinsicht geeignet ist, über die einfache Empörung angesichts von Securityfirmen mit merkwürdigen Akronymen ("HESS") und Arbeitsbedingungen im Ego-Kapitalismus hinauszuführen: "Um Bücher geht es schon lange nicht mehr bei Amazon. Trotzdem bleiben Bücher der Schlüssel, um zu verstehen, wie der Firmengründer Jeff Bezos funktioniert. Und um zu begreifen, dass der Skandal um die Behandlung der Leiharbeiter in Amazons deutschen Lagerhäusern vor allem ein PR-Unfall ist, wie er im Alltag der Weltkonzerne immer wieder vorkommt. Andere haben sich von solchen Skandalen schon erholt: Nike (Kinderarbeit in Südost- und Vorderasien), Coca-Cola (Ermordung von Gewerkschaftern in Kolumbien), Apple (unmenschliche Behandlung von Arbeitern in China). Auch Amazon wird sich erholen." Interessant ist auch der Hinweis auf "Kultur" aus Sicht der Internetökonomie: "Jeff Bezos ist kein schlechter Mensch, sondern - genauso wie Steve Jobs - ein erfolgreicher Geschäftsmann. Nur stammt Jeff Bezos eben nicht aus der Kultur der Verlage und Buchhändler, sondern aus der Welt der Hedgefonds. Die beobachten den Fluss des Geldes und suchen dort die geringsten Widerstände. Kultur ist dafür wie geschaffen. Denn Kultur basiert zuallererst auf der Leidenschaft am Werk, das Geschäftliche ist nachrangig." +++

+++ Nun zu Raab (und damit back zu Jauch): Hans Hoff findet in der SZ, dass Raab nach der zweiten "Absolute Mehrheit"-Sendung mit deutlich weniger Zuschauern durchaus gezeigt hat, Polittalkshows moderieren zu können: "Geschadet hat das alles nicht. Man ist aus ARD und ZDF Schlimmeres gewöhnt." +++ Mit eben ARD und ZDF ginge's ja ins mögliche Kanzlerinnenduellmoderieren. Joachim Huber treibt's im Tagesspiegel schon mal den Angstschweiß auf die Stirn – allerdings nicht Raabs wegen allein, sondern der Vorstellung, dass auch Kloeppel, Illner und Jauch dort mit rumstehen könnten: "ARD-Chefredakteur Thomas Baumann sagte dem Tagesspiegel: 'Das Muster der letzten TV-Duelle, bei denen zwei Kandidaten vier Journalisten gegenübersaßen, hemmt an einigen Stellen den Lauf der Sendung, weil die Journalisten gezwungen sind, aufeinander Rücksicht zu nehmen.'" Am Ende weist Huber daraufhin, dass über die Zahl der Sendungen übrigens nur eine entscheiden wird: Angela Merkel. +++ Bei Huber wird ZDF-Chefredakteur Peter Frey übrigens zitiert ("Das ZDF jedenfalls legt Wert auf sachorientierte, seriöse und journalistisch profilierte Sendungen"), einen O-Ton von Frey zu kriegen, ist Daniel Bouhs in der Berliner/FR schwerer gefallen, es ging um Werbewerbung des ZDF, auf der KMH in irrem Bild mit Audi-Mann Michael Renz zeigt: "Chefredakteur Peter Frey beantwortet Fragen zu dem Vorfall nur mit überschaubaren Worten. Er sagt allein, bei der Reklame handele es sich um eine „Kampagne des ZDF-Werbefernsehens, bei der ZDF-Gesichter, wie schon in den Jahren zuvor, für das eigene Haus werben und nicht für andere Unternehmen“. Ob das Motiv zu weit geht? Ob es gar seine Zustimmung findet? Das lässt der Chefredakteur auch auf Nachfrage offen." +++

+++ Außerdem: Die argentinische Präsidentin Cristina Fernandez de Kirchner twittert, um es salopp und doppeldeutig zu sagen, wie nichts Gutes, schreibt Josef Oehrlein in der FAZ (Seite 31). +++ Die kubanische Bloggerin Yoani Sanchez darf erstmals ausreisen, schreibt etwa die SZ. +++ Die Kritik mag die Langzeit-Dokumentation "Berlin – Ecke Bundesplatz" (heute abend in 3sat), am ausführlichsten Claudia Schwartz in der NZZ. +++ Kabel Deutschland darf Telecolumbus nicht übernehmen (HB). +++

Neues Altpapier Mittwoch wieder zu gewohnter Stunde.

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