Denkbare Politiker

Denkbare Politiker

Ansgar Heveling ist kein Einzelfall: Erika Steinbach und Arne Wulff springen ihrem Parteikollegen mit unterkomplexen, äh, Debattenbeiträgen bei. Ausflüge in Verkehrsgarten, Deutschunterricht und Gemeinplätze

Es ist früh, wir sind müde, und dann das. Erika Steinbach, CDU-MdB und BdV-Vorsitzende, erfreut sich auf Twitter über eine gelungene "Provokation". Dieses unendlich mühsame Linksextremismus-gegen-Rechtsextremismus-Aufgerechne ist bei ihr in einem Tweet resultiert, der Geschichte neu schreiben will:

"Die Nazis waren eine linke Partei. Vergessen? NationalSOZIALISTISCHE deutsche ARBEITERPARTEI..."

Mit solch einem Links-Rechts-Verständnis könnte man vermutlich noch nicht mal im Verkehrsgarten reüssieren. Stefan Reinecke setzt sich in der TAZ damit auseinander, bleibt aber skeptisch, ob das sinnvoll ist:

"Soll man Steinbachs Ausflüge ins Reich des Geschichtsrevisionismus ernst nehmen? Oder besser höflich schweigend übergehen?"

Das ist die Frage des Tages. Mit etwas mehr Interesse an diesem medialen Großsprechergedöns, das viele für Journalismus halten, könnte man sagen: Sind Politiker, die Unsinn reden, für Debatten noch tragbar? Was können wir Bürger tun, um uns von unterkomplexen Politikeräußerungen nicht die Lust an der Auseinandersetzung verderben zu lassen?

Denn Steinbach als verirrt-zwanghafte Interessenvertreterin ist beileibe kein Einzelfall. Der Name Ansgar Heveling (Altpapier vom Dienstag) löst seit Tagen Erschöpfungsgefühle aus – für solch einen wirren Quatsch, eine Gaga-Metaphorik, die "digitales Blut" für einen Begriff hält, der etwas bedeuten könnte, ist der Shitstorm doch nicht erfunden worden.

Eine gewisse Verzweiflung spricht aus der "Maschinenraum"-Kolumne von Constanze Kurz in der FAZ (Seite 34):

"In dieser Kolumne wurde bereits vor fast zwei Jahren darauf hingewiesen, dass die Zeit der Internetausdrucker in der Politik vorbei sei und kein auch nur ansatzweise interessierter Teilnehmer des netzpolitischen Geschehens sich noch damit herausreden könne, keine Ahnung von der Materie zu haben. Doch es war wohl etwas voreilig, denn 2012 sind sie zurück: die Internetzombies unter den Politikern."

Es gibt keinen Fortschritt in der Politik. Harry Nutt fast heute in der FR einen kleinen Teil der Reaktionen auf Hevelings Schwachsinn noch einmal zusammen, den man dummerweise eben nicht ignorieren kann, weil dieser Mensch, statt seine verpassten Deutschstunden an der Volkshochschule nachzuholen, für die CDU/CSU-Fraktion in der Enquete-Kommission "Internet & Digitale Gesellschaft" sitzt.

Constanze Kurz begründet den dauernden Ärger mit unqualifizierten Äußerungen durch das Wesen von Politik:

"Mögen gut vorbereitete Internet-Erklärbären noch so zahlreich politische Vorder- und Hinterbänkler schulen, Wissenschaftler sachlich Argumente vortragen, Technologiefolgen erläutern – wichtig für die politischen Entscheider bleibt das fast vergessene Wort der Klientelpolitik."

[+++] Auf anderem Feld macht ein Parteikumpan von Heveling von sich reden: Er heißt Arne Wulff, ist 53 Jahre alt, was bemerkenswert ist, insofern man noch nie von ihm gehört hat, und amtiert als Leiter der Staatskanzlei von Schleswig-Holstein.

Da in diesen Länderstaatskanzleien die geballte Medienkompetenz der politischen Klasse sitzt, reagiert Wulff in der Funkkorrespondenz auf seine SPD-Kollegen Stadelmeier und Eumann, die in der SZ ihre, darf man sagen, Ideen zur Zukunft von ARD und ZDF gemacht haben.

Weil die beiden etwa eine Stärkung von Phoenix gefordert hatten, fordert Wulff, na was wohl, die Abschaffung von Phoenix. Wobei fordern zuviel gesagt ist:

"So ist es denkbar, dass zum Beispiel Phoenix als Ereignis- und Dokumentationskanal durch die Fortentwicklung der digitalen Nachrichten- und Informationsprogramme von ARD und ZDF und der Nachrichtenkanäle der privaten Anbieter seine Legitimation verliert."

Denkbar ist vieles, und das ist das Problem dieses Textes, der über Banalitäten kaum hinauskommt:

"Ziel der Medienpolitik muss es sein, qualitativ hochwertige Rundfunk- und Telemedienangebote in Deutschland zu sichern und zugleich in der Bevölkerung hierfür eine Systemakzeptanz herzustellen."

[listbox:title=Die Artikel des Tages[Lechts um: Erika Steinbach im Verkehrsgarten (TAZ)##Reaktionen auf Ansgar Heveling (FR)##Hornberger Schießen: CDU-Politiker zur ARD/ZDF-Zukunft (FK)##Comedy im Fernsehen: Was ist das? (Berliner)##]]

Warum nur kann man sich von einem Politiker, wenn er sich schon zu etwas äußert, nicht mehr erwarten als diffuse Allgemeinplätze, die alle irgendwie denkbar sind. Natürlich bräuchte niemand 3sat (am wenigsten ARD und ZDF, um darauf zu verweisen, wenn jemand fragt, dass sie öffentlich-rechtliche Sender sind), wenn wahr wäre, was Wulff für denkbar hält:

"Programmteile von 3sat könnten gut einen Platz in den Hauptprogrammen von ARD und ZDF oder bei Arte finden."

Viel interessanter wäre doch aber mal zu erfahren, wie ARD und ZDF das schaffen sollten, wo die Entwicklung in Richtung Outsourcing von qualitativ interessanteren Programmteilen geht. Ebenso wüsste man gern, was mit diesem Satz anzufangen sein soll über die Tatsache hinaus, dass er geschrieben worden ist.

"Spitzensport gehört in das Programm, aber nicht zu jedem Spitzenpreis."

Da wird keiner was dagegen haben, dummerweise hat aber das ZDF sich gerade die Champions-League-Rechte gekauft für einen Heidengeld, das schon mal nicht für die Sparauflagen zur Verfügung steht. Was sagt so ein Satz nun diesem ZDF – wird es reumütig ein Einsehen haben und umgehend die erworbenen Rechte zurückgeben?

Das Deprimierende an Wulffs Text ist, dass hier nur potentiell geredet wird: Immerfort werden Sachen angesprochen, die unter bestimmten Umständen "denkbar" sind – ohne jemals auf die Umstände abzuheben, unter denen das Programm von ARD und ZDF so ist, wie es ist. CDU- und SPD-Politikern versichert es ihrer einstigen Bedeutung, und ansonsten sichert der Apparat seine Pfründe und spart am Programm.

Es ist so ermüdend.


Altpapierkorb

+++ Von einem anderen Kapitel der Besitzstandswahrung berichtet Claudia Tieschky in der SZ (Seite 17): die Vergabe der Drittsendezeiten bei RTL und Sat.1 an Alexander Kluge und Josef Buchheit. Ein Text mit lauter grauenhaften Kürzeln aus der Sphäre von Standort- und Einflusssicherung (LMK, NLM, GVK, ZAK): "Denn wenn es um Vielfalt ging, lief es jahrelang zumindest in Rheinland-Pfalz so: Man schrieb aus, verhandelte, und am Ende erhielten stets dieselben den Zuschlag: dctp von Filmemacher Alexander Kluge und Josef Buchheit mit seiner Mainzer Produktionsgesellschaft News and Pictures - seit 1998 war das so. Das sorgte für Ärger bei anderen Bewerbern. Auf die Spitze getrieben hat die Vielfalts-Einfalt nun das aktuelle Vergabeverfahren, das die Dinge bei Sat1 für 2013 bis 2018 regelt. Diesmal fanden der Sender und seine Aufsicht gar nicht zusammen. Dann brachte die LMK wieder Kluge und Buchheit ins Spiel und setzte sie auch durch - was seit einer Gesetzesänderung möglich ist." +++ Michael Hanfeld spricht dem ZDF in der FAZ (Seite 35) Mut zu nach der Theveßen-Mail (Altpapier vom Montag). Es ist zwar alles offen, aber nicht alles schlecht. +++

+++ Ebenfalls in der FAZ (Seite 35): Detlef Borchers beschreibt die Lage von Julian Assange zwischen Auslieferung nach Schweden und Ausstrahlung in Russland. +++ Christopher Keil macht sich in der SZ (Seite 17) Gedanken über die merkwürdigen Kanäle, über die die ARD Agentur-Material bezieht, um es im Internet nicht auszustrahlen: "Die ARD wie das ZDF erhalten die Videos oder das Material von ReutersTV über eine Vereinbarung der Europäischen Rundfunkunion EBU mit Thomson Reuters. Wenn man es richtig versteht, sitzen in London - in der Thomson Reuters Zentrale - zwei Spezialisten der EBU und sichten die Bilder, die aus dem globalen Dienst von Reuters TV nach Europa an die Vertragspartner verschickt werden." +++

+++ Wenn man es richtig versteht, hat die Theaterkritikerin Irene Bazinger in der Berliner erstaunlich kundig über 20 Jahre Quatsch Comedy Club geschrieben: "Michael Mittermeier machte den Anfang bei dieser Jubiläumssause und nannte die ersten Comedians 'verhaltensgestörte Freaks', die inzwischen als quotensichere Unterhaltungsbonzen ganze Stadien füllen." +++ Das ZDF zeigt am Sonntag einen Post-Tsunami-wahre-Liebesgeschichte-Film mit Hans-Werner Meyer und Vroni Ferres, und Michael Hanfeld ist in der FAZ (Seite 35) trotz Vroni begeistert: "Hervorzuheben ist sicherlich das Werk der Autorin Natalie Scharf, deren Vorarbeiten mehrere Jahre umfassen." +++ Sven Sakowitz stört sich in der TAZ dagegen an Vronis Dänce-Moves und dem, was der Film alles nicht erzählt: "Es wird gezeigt, dass sie beim Spaziergang mit niedlichen Hunden im Park viel Spaß haben und auch im Club zusammen feiern können (eine Szene mit beachtlich hohem Fremdschämpotenzial - tanzt Frau Ferres privat auch so?), aber warum genau fühlten sich die beiden zueinander hingezogen?" Und der Schluss klingt in dieser Perspektive auch sehr schlimm: "Damit die Zuschauer wirklich begreifen, dass gerade eine wahre Geschichte erzählt wurde, treffen das echte und das Filmpaar an einem Strand aufeinander." Schade, dass es kein ARD-Film ist, dann hätten Vroni und Meyer als Darsteller ihres Schicksals sich im Anschluss mit Günther Jauch langweilen können. +++ Hans Hoff beschreibt in der SZ (Seite 17) ziemlich genau, woran das Comedy-Format "Knallerfrauen" mit Switch-Star Martina Hill scheitert: "Sie kann nun einmal hervorragend nachzeichnen, mit der Entwicklung eigener Figuren tut sie sich sichtlich schwerer." +++ Der Tagesspiegel hat mit Hill gesprochen. +++ Peer Schader sichtet in der Berliner die Sendung gleich im Hinblick auf ihre umstandlose Sendezeitfüllbarkeit, zu der dröge Comedy bei den Privaten vor allem gut ist: "Die Sendung ist auf jeden Fall schneller, böser und expliziter als vieles, was man sonst aus dem Fernsehen kennt. Es wird erstaunlich viel gefurzt, gevögelt und gekotzt, wobei die Dauersexualisierung der Gags mit der Zeit ein bisschen nervt." +++

+++ In England rückt jetzt auch Murdochs Times in den Strudel des Abhörskandals (SZ, Seite 17). +++ Zwei Nachrufe: Karl-Otto Saur würdigt in der FK den Hörspielredakteur Hermann Naber. +++ Und zum Tod von Don Cornelius, dem Erfinder der "Soul Train"-Show in den USA und zugleich lässigsten Mikrofonhalter ever, schreibt Jonathan Fischer in der SZ: "Dass 'Soul Train' - lange vor MTV - einmal eine der einflussreichsten Musiksendungen Amerikas werden würde, die Karrieren von Soulsuperstars wie Aretha Franklin, Stevie Wonder, Marvin Gaye und Michael Jackson befördern und schwarze Kultur als humanistisches Vehikel und rassenübergreifende Party-Bewegung predigen würde - das ahnte Cornelius damals (1970, Anm. AP) wohl kaum. 35 Jahre lang blieb der Zug auf den Schienen, länger als jede andere Fernsehserie." +++ Julian Weber notiert in der TAZ: "Cornelius verkörperte ein neues Lebensgefühl: Mit seiner sonoren Stimme entlockte er den Gästen vertrauensvolle Aussagen über Mode, Schönheitsideale und Kultur. 'Soul Train' war selbst stilbildend." Weber weiß auch, dass Cornelius vor seinem Freitod an einem Spielfilm zur Show arbeitete, die schon in Spike Lees Film "Crooklyn" von zentraler Bedeutung war. +++

Neues Altpapier gibt's Montag wieder gegen 9 Uhr.
 

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