Berlin Babylon

Berlin Babylon

Ganz Berlin redet von Skandalen: die einen quer durch die Ressorts und bei Anne Will von den Christians Wulff und Lindner. Andere vom "Klima der Angst" bei den Piraten sowie von dubiosen Hausdurchsuchungen.

Hölle, was ist wieder alles los ist in der Hauptstadt. Die großen Schlagzeilen werden um die Wette gerockt von der Aufregung um den Kredit des Bundespräsidenten und der um den Rücktritt des FDP-Generalsekretärs.

Kleiner Triumph der zuletzt entweder viel gescholtenen oder unbeachteten ARD-Talkerin Anne Will:  Während die Zeitungen heute mit diesen Meldungen, Seite-3-Erklärstücken und zupackenden Kommentaren erst um diese Meldungen zu kreisen beginnen, erscheinen in den Onlineausgaben derselben Zeitungen auch bereits Spät- bzw. Frühkritiken zur Will-Talkshow, die schon gestern abend darum kreiste. Z.B. bei faz.net von Patrick Bahners persönlich unter besonderer Berücksichtigung der Frage, ob Christian Wulff denn im Amt bleiben kann, in der digitalen DuMont-Presse von Ricarda Breyton und bei handelsblatt.com - disclosure - von mir.

Hintergrund: Gestern nachmittag (suite101.de) kippte die Will-Redaktion ihr eigentlich geplantes, besonders zeitloses Thema "Deutschland, deine Beamten - überversorgt und überflüssig?" zu eben diesem Zweck der Aktualität.

[+++] In der Wulff-Sache in der FAZ (bei der man schon mal gucken könnte, ob inzwischen jeder Redakteur seinen individuellen Anti-Wulff-Artikel geschrieben hat, vgl. Altpapier gestern; der wortgewaltigste stammt von Frank Schirrmacher und steht heute vorn auf dem Feuilleton) findet der große Michael Hanfeld einen speziellen Dreh. Falls der Präsident tatsächlich zurücktreten müsste, welches Medium verdiente den Scorerpunkt?

Nicht die Bild-Zeitung (auf die sich Spiegel Online sowieso und auch hier gern bezieht), sondern der Spiegel, das traditionsreiche Sturmgeschütz der Demokratie. Auf der Medienseite 35 schildert Hanfeld die "interessante journalistische Vorgeschichte" des Falles:

"Das Berliner Hauptstadtbüro des Magazins hatte im Herbst 2010 einen ersten Hinweis darauf erhalten, dass ein mit Wulff befreundeter Unternehmer in das Geschäft verwickelt sein könnte. Die Redakteure stellten daraufhin einen Antrag auf Einsicht ins Grundbuch. Diesen lehnte das Amtsgericht Großburgwedel jedoch am 16. Dezember 2010 ab..." 

Wer den weiteren Verlauf verfolgen möchte, muss sich die FAZ besorgen, die inzwischen alle interessanten FAZ-Medienartikel erst einmal nicht frei online stellt. Jedenfalls, am Ende entschied der

"Bundesgerichtshof, der dann am 17. August dieses Jahres ... einen Beschluss fasste, der für die Pressefreiheit von grundsätzlicher Bedeutung ist. Doch war mit dem BGH-Beschluss in Sachen Wulffs Grundbuch der Weg frei - für die Rechercheure aller interessierten Blätter. Es war die 'Bild'-Zeitung, die, nach eigenen Recherchen, eins und eins zusammenzählte und das Ergebnis präsentierte."

[+++] Damit, nur am Rande heute, zur aktuellen Entwicklung am Medien-Krisenherd Basel, um die es gestern hier ging und die einige strukturelle Ähnlichkeiten zur Wulff-Frage besitzt (Strohmannschaft, Fliegerei...). Die jüngste "überraschende Wende" fasst die Süddeutsche aus deutscher Sicht zusammen: Neuer Eigentümer der Basler Zeitung ist eine Firma mit dem hübschen Namen "Medien Vielfalt Holding AG". Hinter der steckt jedoch wiederum Tito Tettamanti, der das Blatt also "zum zweiten Mal" in relativ kurzer Zeit übernimmt. Ferner bringt die TAZ ihre Leser auf den Stand; faz.net spendiert online inzwischen den Artikel des schweizerischen Schweiz-Kenners Jürg Altwegg aus der Dienstagszeitung. Detaillierte Infos trägt weiterhin rettet-basel.ch zusammen.

[listbox:title=Artikel des Tages[weiterhin: rettet-basel.ch##TAZ über SWMH##Tsp. über Berliner Piraten-Klima##Junge Presse über Berliner Pressefreiheit##Tsp. über russischen Sender "Doschd"]]

[+++] Auf dem direkten Landweg über Stuttgart (in der TAZ macht sich Steffen Grimberg die Mühe, die Struktur der Südwestdeutschen Medienholding, dieses "großen und rätselhaften Großkonzerns" zu schildern (und zwar auch, weil die von der SWMH besessenen Stuttgarter Nachrichten ihren Bericht über das neue Führungsduo "nur mit einem dpa-Bild, auf dem zwei leere Stühle zu sehen sind", dekorierten...), zurück nach Berlin.

[+++] Denn in der Haupstadt ist auch jenseits des etablierten Mainstream- und Talkshow-Spektrums Hölle los. Einerseits etwa berichtet der Berliner Tagesspiegel im Lokalressort von einem kleinen Abgrund in der digital-affinen Piratenpartei, einem Abgrund von "Erpressung, Nötigung, Datendiebstahl":

"Mehrere Parteimitglieder sagen, es sei vorübergehend kompromittierendes Material im Internet aufgetaucht: Einmal habe L.B. Bikinifotos einer jungen Parteikameradin online gestellt, ein andermal habe er bei einem Parteitag heimlich ein Pärchen gefilmt, das in einer versteckten Ecke Geschlechtsverkehr hatte – und das Video ins Internet gestellt. Im Landesverband herrsche mittlerweile ein 'unerträgliches Klima der Angst'."

Die Zitate entstammen einem langen Offenen Brief des Berliner "Basispiraten" und freien Journalisten Sebastian Jabbusch.

[+++] Andererseits aus Berliner Lokalberichten von durchaus überregionalem Interesse: eine Hausdurchsuchung inklusive Beschlagnahmung von viel digitalem Gerät, die am Dienstag früh um 6.00 Uhr beim 18-jährigen Nachwuchsjournalisten Florian K. stattfand, und zwar "aufgrund von Ermittlungen bezüglich einer Kunsturheberrechtsverletzung", wie das Blog visual-rebellion.com von der Pressestelle des LKA Berlin erfuhr.

"Hintergrund ist laut taz-Informationen eine Antifa-Webseite, auf der Porträtfotos und Namen von Berliner Rechtsextremisten abgebildet sind. Drei der Bilder sollen von Florian K. stammen, so die Ermittler", berichtete die TAZ Berlin, "ob die Ermittlungen von Amts wegen erfolgten oder auf Anzeige der abgebildeten Neonazis, ließ der Sprecher offen".

Die Junge Presse Berlin, deren Mitglied K. ist, fragt nun zurecht nach dem "Stellenwert der Pressefreiheit" in der Stadt:

"Im Zuge der Taten der rechts-terroristischen Gruppe aus Zwickau stellt diese Verharmlosung wie auch die Behinderung von Journalisten bei Ihrer Arbeit einen ernstzunehmenden Skandal dar."

Wobei Berlin zumindest an ernstzunehmenden Skandalen eben alles andere als arm ist.


Altpapierkorb

+++ Das große Hanfeld des Tages: ein Interview mit der sehr vorübergehenden Degeto-Chefin Bettina Reitz auf der FAZ-Medienseite 35. Dass auch dieses nicht frei online steht, lässt sich verschmerzen, weil Reitz von Anfang altbekannte Degeto-Sprachregelungen zum Besten gibt (".... im ARD-Verbund eine Firma mit zentraler Bedeutung. Sie übernimmt vielfältige und unterschiedliche Aufgaben und ...") und so auch ihren kürzlich abgesetzten Co-Geschäftsführer in Schutz nimmt ("...war die leichte Farbe am Freitag über viele Jahre gewünscht, und Hans-Wolfgang Jurgan hat das Gewünschte umgesetzt"). Auf die Eingangsfrage, warum sie denn nach so kurzer Zeit zum Bayerischen Rundfunk zurückkehrt, antwortet Reitz: "Wenn ich mich klonen könnte, würde ich es jetzt tun." +++ Vielleicht könnte sie die Geschichte einer erfolgreicheren Managerin, die sich zweier Herausforderungen wegen klonen lässt, ersatzweise einfach mit Christine Neubauer als Freitagsfilm verfilmen lassen. +++

+++ Medienjustiz: Weiter am Laufen bleibt der arbeitsrechtliche Streit zwischen dem WDR und seinem Redakteur Klaus Martens, den der Sender gern loswürde. Der Kölner Stadtanzeiger hat Zitate von Martens' Anwalt. +++ In der Süddeutschen ärgert sich Hans Hoff im Rahmen einer selbst erstellten Milchmädchenrechnung über die Anstalt. +++ Die Finanzierung unserer Öffentlich-Rechtlichen bleibt einstweilen dennoch gesichert, sofern sich nicht morgen im Kieler Landtag eine Sensation ereignet. Michael Ridders EPD-Bericht zur Beschlusslage der neuen Rundfunkgebühr gibt's auch hier nebenan. +++ Vom Rechtsstreit der Helmut-Kohl-Söhne Peter und Walter mit Heribert Schwan, Autor eines Buches über ihre Mutter, berichten die Süddeutsche und frei online ähnlich SPON. +++

+++ Ins aufregende Moskau schaut der Tagesspiegel, denn dort gibt es einen Fernsehsender, der "jung, unkonventionell und politisch" ist und "der Opposition eine Stimme" gibt. "Aber wie lange noch?" +++ Doschd heißt dieser Sender. +++

+++ Neuer Fernsehtrend aus den USA: "Aus der einstigen Beflissenheitsveranstaltung Fernsehdebatte", insbesondere unter Präsidentschaftkandidaturkandiaten sie "eine Variante des Reality-TV geworden", berichtet Jörg Häntzschel in der Süddeutschen. Mitschuldig sei "der seit dem Start seiner Ego-Show 'The Apprentice' 2004 als Moderator" eher denn als Immobilienzar bekannte Donald Trump. +++ Wer ab und zu Anne-Will-Shows guckt, ahnt, dass Deutschland da relativ locker Anschluss finden könnte. +++

+++ Aus dem Londoner Presseskandal-Untersuchungsausschuss berichtet Carsten Volkery (SPON) von James Murdochs neuer Verteidigungsstrategie: "Die Tatsache, dass er E-Mails am Wochenende typischerweise auf seinem Blackberry empfange und dass er bereits zwei Minuten nach Empfang der E-Mail geantwortet habe, zeige, dass er nicht den ganzen E-Mail-Verkehr gelesen habe, schrieb er." +++

+++ Ui. Bild-Zeitungs-Chefredakteur Kai Diekmann habe "inzwischen auch Kontakt mit Günter Wallraff aufgenommen" (Tsp.). +++ In der TAZ beschäftigt sich Andreas Speit mit der Geschäftslage der "Deutsche Stimme Verlags GmbH", die der NPD gehört. +++ Und Gabriela M. Keller mit Problemen der Berichterstattung aus Syrien. +++

+++ Falls sich jemand von Johannes B. Kerner als Sat.1-Magazin-Moderator verabschieden möchte, so muss er das heute abend tun (Tagesspiegel, evangelisch.de). +++ Die BLZ versucht ungemein ausführlich, dem internationalen Erfolgsrezept der Pro-Sieben-Show auf die Spur zu kommen. +++

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.

 

 

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