Nur gucken, nicht anfassen!

Nur gucken, nicht anfassen!

Von Thomas Edison bis zu Picasso reichen die Bezugspunkte in den Nachrufen auf Steve Jobs. Gelingt da immer die Gratwanderung zwischen Hommage und Distanzwahrung? Und eine ganz andere Frage: Ist die Forderung nach Transparenz „pseudointellektueller Populismus“?

Ein paar hiesige Blattmacher dürften der Königlich-Schwedischen Akademie dankbar dafür gewesen sein, dass sie Tomas Tranströmer zum Nobelpreisträger für Literatur gekürt hat. Wäre es der bei den Buchmachern hoch gehandelte Bob Dylan geworden, hätten sie vor einer kniffligen Frage gestanden: Steve Jobs oder Dylan? Genauer: Wie gewichten wir die Titelseite, wie bauen wir die Seite Drei und wie viel Platz räumen wir den Herren an anderen exponierten Stellen des Blatts ein? Schließlich dürfte der am Mittwoch verstorbene „Religionsführer“ (Berliner Zeitung) ähnlich viele Jünger in den Redaktionen haben wie Dylan. Weil dann aber doch kein alter Ami, sondern ein „alter Schwede“ (taz) und zudem bloß ein Lyriker den Nobelpreis bekam, musste wohl nicht darüber diskutiert werden, wer die höhere Berichterstattungsintensität verdient. In der FAZ sind Artikel zu Jobs heute über vier Seiten im Blatt verstreut (inclusive Titelseite), bei der SZ sind acht Texte rund um den Tod des Apple-Gründers auf fünf Seiten verteilt. Etwas aus dem Rahmen fällt die taz, die einen Kommentar zu Tranströmer auf Seite 1 bringt, während SZ und FAZ das Thema dort lediglich anteasern.

Das Kräfteverhältnis wäre kaum anders gewesen, wenn den Nobelpreis Dobrica Cosic gewonnen hätte, den einige politisch motivierte Web-Guerrilleros als Sieger vermeldet hatten - auf einer der offiziellen Nobelpreis-Seite nachempfundenen Plattform (siehe Screenshot). „Volle 15 Minuten“ habe man in Serbien (siehe auch NZZ) geglaubt, Cosic habe den Nobelpreis gewonnen, schreiben die sich damit möglicherweise irgendwie auf Andy Warhol beziehenden Aktivisten. Für kurze Zeit glaubte man dies auch anderswo.

Die Wahl zwischen Dylan und Jobs wäre manchen Redakteuren auch deshalb schwer gefallen, weil einige Fan von beiden sind. Bernd Graff etwa, der in seinem Nachruf auf Seite Drei der SZ schreibt: 

„Steve Jobs war, der Vergleich ist jetzt mal gestattet, der Bob Dylan der digitalen Welt: ein eigensinniger, manchmal unverstandener Poet, immer geradlinig, auch wenn man oft nicht wusste, wohin die Reise geht.“ 

Unterhaltsam sind solche Vergleiche ja manchmal, ob sie stimmig sind, steht auf einem anderen Blatt. Nur mal kurz gefragt: Was wären dann Jobs‘ „Basement Tapes“? Hatte er auch eine kurze christliche Phase? Anyway, „rückblickend“, schreibt Graff, erscheine Jobs

„wie der Chronist des vernetzten Lebens. Eines Lebens - auch der Vergleich ist jetzt gestattet, denn man hat allen Grund zu trauern -, das er getanzt wissen wollte, wie Dylans ‚Mr. Tambourine Man‘ tanzt: ‚Yes, to dance beneath the diamond sky with one hand waving free.'“

Darüber hinaus kommentiert in der SZ Chefredakteur Kurt Kister unter der Überschrift „Der i-Imperator“ (keine Angst, abgesehen von einer Formulierung im folgenden Zitat, ist es das für heute mit den i-Wortspielchen):

„Wenn man von Menschen spricht, welche die Welt verändert haben, fallen einem zuerst große Politiker oder große Verbrecher ein. Jobs gehörte zu keiner der beiden Kategorien, und dennoch hat seine Denkweise, die sich in jenen iSehnsuchtsmaschinen manifestiert, nachhaltig das Tun und Trachten von Abermillionen beeinflusst.“

Jordan Meijas nennt Jobs im FAZ-Feuilleton den „Thomas Edison unserer Zeit“ und beleuchtet einen zumindest in den Nachrufen unterrepräsentierten Aspekt:

„Obwohl von Selbstzweifeln nicht heimgesucht, stellte er sich lieber als das Gegenteil eines Visionärs, als Ideendieb, dar. Wie Picasso war er davon überzeugt, dass gute Künstler kopieren, große Künstler aber stehlen. Am liebsten stahl Jobs nun nicht von Konkurrenten in der Digitalbranche, sonden von Künstlern und Forschern.“

Wer nach anderen weniger ventilierten Details aus Jobs‘ Leben fahndet, findet im New-York-Times-Blog The Lede einen Überblick über Wortmeldungen, in denen seine syrischen Wurzeln betont werden. Und einen „kritischen Nachruf“ gibt es von Arno Frank in der taz:

„Steve Jobs hat das alte Hippie-Ethos der Gegenkultur auch auf Unternehmenskulturen anwendbar gemacht. Im Grunde sind deshalb auch das iPad, das iPhone oder das iPad nichts anderes als Manifestationen der romantischen Idee, das Technische könnte mit dem Sinnlichen vereinbar sein. Das Ergebnis in seinem Glanz aber hat nur einen neuen Verblendungszusammenhang geschaffen.“

Die originellste Headline ist im Übrigen diese hier. Andere Möglichkeiten, Jobs zu würdigen: Man republiziert Artikel, die bereits anlässlich seines Rücktritts vor zwei Monaten erschienen waren, oder treibt noch wesentlich ältere Bild- und Textdokumente auf. Ersteres tat Poynter mit „How Steve Jobs changed (but didn’t save) journalism“ (siehe Altpapier), Letzteres tat longform.org, das ein Playboy-Interview zugänglich machte, in dem Jobs 1985, also als 29-jähriger, sagte:

„It’s rare that you see an artist in his 30s or 40s able to really contribute something amazing. Of course, there are some people who are innately curious, forever little kids in their awe of life, but they’re rare.”

[listbox:title=Artikel des Tages[Steve Jobs war der Bob Dylan der digitalen Welt (SZ)##Transparenz ist der Fetisch der Konsumgesellschaft (Jungle World)##Siegfried Kracauer als Zeitungsschreiber (Freitag)]]

Ein Metatext sei auch noch erwähnt: Carolin Neumann deutet die Frage an, ob der „Wille, einem Visionär wie Steve Jobs eine sicherlich nicht vollkommen unangemessene Hommage zu bescheren“ vereinbar ist mit der Distanzwahrung, die ja manche von Journalisten erwarten. An die alte Erkenntnis, dass tote Stars gute Umsatzbringer sind, erinnert uns schließlich The Next Web mit der Meldung, dass der Verlag Simon & Schuster den Erscheinungstermin der autorisierten Jobs-Biographie um einen Monat vorzieht - eine vernünftige Entscheidung, wie diese Bestsellerliste von „vermutlich fast historischer Qualität“ (Katrin Schuster via Facebook) belegt.

Wer aus all der Ergriffenheit rund um Jobs‘ Tod zurück möchte in den Debattenalltag, dem dürfte Roger Behrens‘ furiose, nicht unadornitische Polemik zum Thema Transparenz in der Jungle World gerade recht kommen. Vor allem knöpft er sich die Piratenpartei vor. Deren „postpolitischer Welt“ hat die Wochenzeitung einen Schwerpunkt gewidmet. Behrens schreibt:

„Die Forderung nach Transparenz (...) reduziert das Politische auf das bloße Verfahren. Inhalt wird durch Information ersetzt. (...) Transparenz konterkariert das, was in der klassischen Politik der Moderne als Aufklärung definiert wurde. (...) Es wird (...) der bizarre Wunsch vorgebracht, dass man wenigstens, wenn die Verhältnisse schon nicht zu ändern sind, über sie korrekt informiert werden möchte.“

Dann macht der Autor gewissermaßen einen Abstecher in den Supermarkt:

„Die geforderte Transparenz hätte bestenfalls zur Folge, dass man in der institutionalisierten Politik über die Inhaltsstoffe und Herstellungsbedingungen informiert wird, ähnlich den Angaben auf Nahrungsmitteln, Bekleidung und dergleichen.“

Letztlich sei Transparenz

„die absolute Ästhetisierung der Politik als totale Durchsichtigkeit: Nur gucken, nicht anfassen!“

Auch wenn sich Behrens hier auf die Piraten bezieht, darf man bei dem Text auch an diverse Netzmeisterdenker und Netzhausmeister denken, die gern mit dem Begriff Transparenz hausieren gehen.


Altpapierkorb

+++ „Jetzt, wo die alte Bundesrepublik tot ist, liebt sie sich selbst am stärksten und sehnt sich nach Gestalten, an denen man sich auch im Hier und Heute festhalten kann“ - so leitet Torsten Körner in der Funkkorrespondenz seine sehr wohlwollende Rezension des ZDF-Sonntagsfilms „Beate Uhse - Das Recht auf Liebe“ ein. Ijoma Mangold hat dagegen „einen biederen Film“ gesehen, „der keine Ambivalenzen kennt“. Außerdem sei „das Pathos, mit dem sich der Film auf die Seite seiner Heldin schlägt, läppisch“ (Zeit, S. 60). Dass Heike Hempel, die zuständige leitende Angestellte des ZDF, sonntags um 20,15 Uhr grundsätzlich für mehr Vielfalt sorgen will, berichtet Michael Seewald in der FAZ.

+++ Da hat sich aber ein Alptraumpaar gefunden! Guido Knopp und Hans-Ulrich Jörges machen jetzt gemeinsame Sache. Die FAZ meldet (S. 37), dass die Herren was tun wollen gegen die „erschreckende Unkenntnis gerade junger Leute“ in historischen Belangen. Deshalb gibt es nun das Web-Projekt Gedächtnis der Nation: „Auf der Seite sind 1.600 Zeitzeugeninterviews aus ZDF-Beständen zu finden, geordnet nach Daten und Themen wie ‚Deutsch-deutsche Geschichte‘, ‚Holocaust‘, ‚Frauen‘ oder ‚Migration.‘“ stern.de liefert einen imposant bekloppten Satz von Guido Knopp: „History ist kalt, Memory ist warm.“ Das ZDF selbst beschreibt das Projekt so und so.

+++ Im Freitag widmet sich Michael Girke dem aktuellem Band der Siegfried-Kracauer-Werkausgabe. Der „erfasst zum ersten Mal auch viele von Kracauers frühen Zeitungstexten“, die für die Frankfurter Zeitung entstanden, wo er 1922 als Redakteur begann. „Lokalberichterstattung aus Frankfurt zumeist, wie es eben seinem Aufgabenbereich zu jener Zeit entspricht", finde man in dem Buch, „doch zeigt sich, dass es Kracauer um mehr als die Erledigung journalistischer Pflichten geht. Beispielsweise sind seine zahlreichen Tagungs- und Kongressberichte derart inspiriert geschrieben, dass (...) der heutige Leser Anteil nimmt an hitzigen Debatten von Philosophen, Soziologen, Theologen, in denen es um nicht weniger als die Selbstfindung Deutschlands nach dem Zusammenbruch des Wilhelminischen Reiches geht.“ Darüber hinaus vermöge Kracauer auf exzeptionelle Weise „in seinen hinreißenden Städtebildern, den zahllosen Texten über Straßen, Plätze, Kneipen, Warenhäuser das, was man nicht sieht – geistige Befindlichkeiten und kollektive Stimmungen – zu durchdringen.“

+++ Noch weiter zurück in die Geschichte des Journalismus geht die Jungle World in ihrem aktuellen Dossier, in dem Nellie Bly gewürdigt wird, die „erste Investigativjournalistin“. Zu lesen gibt es einen Ausschnitt aus ihrer 1887 als Buch erschienenen Undercover-Reportage aus einer psychiatrischen Anstalt für Frauen, die seit kurzem in deutscher Übersetzung vorliegt (noch nicht online)

+++ Der Tagesspiegel verquickt heute in einem Text die Sparmaßnahmen der BBC (über die in aller Ausführlichkeit der Guardian berichtet) mit der Gebührenerhöhungsdiskussion in Deutschland, die nun ergeben hat, dass es auch über die bis 2012 laufende Gebührenperiode hinaus bei 17,98 Euro bleibt. Die SZ trennt beide Themen säuberlich. Claudia Tieschky schreibt zu den Folgen der „Nullrunde“: „ARD, ZDF und Deutschlandradio werden in den kommenden vier Jahren mit einem Haushalt arbeiten, der auf Kante genäht ist. Um den Auftrag weiter zu erfüllen, sind Reformen nötig, vor allem bei der ARD. Es geht um Richtungsentscheidungen und um Programmqualität. Daran, woran die Sender sparen, wird man sie erkennen.“

+++ Am Sonntag tagt der MDR-Verwaltungsrat, um einen neuen Kandidaten vorzuschlagen. Zwei neue Namen aus der Gerüchteküche erwähnt die FAZ: „So sollen der stellvertretende Chefredakteur des ZDF, Elmar Theveßen, und der Programmgeschäftsführer von Phoenix, Christoph Minhoff, in Position gebracht werden. Die Akteure in diesem Spiel, heißt es, säßen wiederum in der sächsischen Staatskanzlei.“ 

+++ Zur EuGH-Entscheidung in Sachen Pay-TV-Vermarktungsrechte (siehe Altpapier) sagt der Medien- und Kartellrechtsexperte Sebastian von Wallwitz, dass das Urteil „seine wirkliche Tragweite jenseits des Fußballs und der Premier League entfalten“ werde. „Künstliche Ländergrenzen“, also beispielsweise jegliche Formen des „Geoblocking“ im Netz, die dafür sorgen, dass Nutzern aus bestimmten Ländern der Zugriff auf Web-Inhalte verweigert wird, dürften „im Licht des aktuellen EuGH-Urteils keinen Bestand mehr haben“ (Funkkorrespondenz; Offenlegung: Artikel von mir).

+++ Ist Neon die Hölle für freie Journalisten? Die Debatte darüber, ob es angemessen war, dass der Interessenverband Freischreiber die Jungerwachsenen-Illlustrierte von Gruner + Jahr als Kandidat für einen Negativpreis nominiert hat (siehe Altpapier), geht weiter. Christoph Koch, der den Freischreibern „sehr gewogen" und fester Freier bei Neon ist, hat während einer Zugfahrt Vermittelndes „ins Steve-Jobs-Gedächtnis-iPad gehackt“.

+++ Spin macht es wie Spex: Das wichtige US-Musikmagazin erscheint ab 2012 nur noch alle zwei Monate (AdWeek).

+++ „Welche Partei hat zurzeit das größte Humorpotenzial?“ fragt der Tagesspiegel Morten Kühne, den Chefautor der „heute-show“. „Sicher die FDP, aber sich über sie lustig zu machen, ist mittlerweile zu billig.“

Neues Altpapier gibt es wieder am Montag.

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