Zum ersten Mal seit Nietzsche

Zum ersten Mal seit Nietzsche

Beige, Hagebuttenrot und Rostrot sind die Farben der Stunde, zumindest in der ARD. Außerdem: eine US-Krimiserie und die Medienbranchenpersonalie des Monats.

„Ich glaube nicht, dass es die Aufgabe von Journalismus ist, Scheiße Scheiße zu nennen“, sagt die Ingeborg-Bachmann-Preisträgerin Kathrin Passig, und die Äußerung stammt trotz aller Grundsätzlichkeit nicht aus einem dieser berüchtigten Thesenpäckchen zur Lage beziehungsweise Zukunft des Journalismus, Der Satz ist - wie die Differenzierung „Auch Scheiße ist immer ein komplexes Thema mit mindestens zwei Seiten, und ich erhoffe mir von einem journalistischen Beitrag Aufklärung über mehr als nur eine davon“ - ein Beitrag zu einer von ihr selbst bei Google+ losgetretetenen Diskussion. Der Anlass, sie in Gang zu bringen, war ein nach Passigs Ansicht auffällig oft gelobter Artikel Benjamin von Stuckrad-Barres über Jürgen Fliege in der Welt am Sonntag. Passig kritsiert den „Ich habe mir meine Meinung schon vorher gebildet und hätte gar nicht hinfahren müssen, die Fakten sind nur Dekoration und ihr seid ja eh alle meiner Meinung, hähä"-Porträtstil des Springer-Autors. und die folgende Diskussion kreist etwa um die Frage, ob Fliege nicht „ein dankbares, zu einfaches Opfer“ sei (Sascha Lobo). Die Diskussion schweift dann teilweise zwar auf nicht immer nachvollziehbare Weise zu den Herren Thomas Leif und Christoph Lütgert ab, aber andererseits sind Abschweifungen in solchen Diskussionen ja oft besonders unterhaltsam. Diese von Sascha Lobos zum Beispiel:

„Ich habe doppelte Erfahrung mit ad-hominem-Attacken der Welt, und beide Texte (Kritiken zu meinem Roman ‚Strohfeuer‘) waren nach meinem Empfinden unfair, aber das eigentlich Schlimme war ihre fehlende Unterhaltsamkeit.“

Eine andere niveauvolle User-Debatte findet man bei stefan-niggemeier.de. Ausgelöst hat sie der Hausherr mit seiner Mitteilung, dass er ab Oktober als Autor für den Spiegel tätig sein wird. Vom Spiegel verpflichtet zu werden, galt mal als das Höchste, was im Journalismus möglich ist, aber einige lakonische Anmerkungen von Niggemeiers Fans - die sich gut ergänzen mit zwei längeren Texten über den Zustand des Spiegel, die in den letzten Tagen erschienen sind (siehe Hans Hoffs Georg-Mascolo-Interview im journalist sowie JakBlog) - machen deutlich, dass das wirklich schon sehr, sehr lange her sein muss:

„Mitnehmen, was geht.“

„Finanziell eine absolut nachvollziehbare Entscheidung.“

„Müssen wir jetzt wirklich den Spiegel lesen?“

Ein User-Kommentar ist sogar nachruf-kompatibel:

„Schade. Warst ein guter Mann.“

Tatsächlichen Nachrufcharakter hat ein Lesestück im New Yorker über den Ende Mai auf bestialische Weise ermordeten pakistanischen Investigativjournalisten Syed Sallem Shazad, der vermutlich sterben musste, weil er oft über militanten Islamismus in der Armee und vor allem beim Geheimdienst berichtet hat. Shahzad ist allerdings eine duchaus ambivalente Figur, weil er manchmal in einem etwas zu positiven Tonfall über Al-Qaeda und die Taliban geschrieben hat, man könnte vielleicht auch mit Kathrin Passig sagen, dass „Scheiße immer ein komplexes Thema mit mindestens zwei Seiten“ ist. Unterschreiben würde dies jedenfalls ein Freund und Kollege Shazads, der, anders als früher, nicht mehr in den Milieus von Taliban und Geheimdienst recherchieren mag:

„I don’t want to get killed like Saleem. I don’t want to suffer like Saleem did. So I’m not part of the war anymore. I am just writing stereotypical bullshit stories—and no one is angry. (...) I used to look for stories that would open people’s eyes. (...) Now I am just a stupid correspondent doing stupid stories. And I am happy. I am happy.”

Über einen aktuellen Mord an einem Journalisten bloggt Rubina Möhring, die Vizepräsidentin von Reporter ohne Grenzen, für den Standard. Es geht um Hadi Al-Mahdi, den am Donnerstag getöten Moderator einer irakischen Radio-Talkshow:

„In Bagdad hat sein gewaltsamer Tod die Menschen erschüttert, der Rest der Welt war gefangen im 9/11-Rausch. In einem halben Jahr kommt übrigens mit dem 11. März der nächste Hype auf uns zu: 3/11 im Doppelpack - acht Jahre Terroranschläge im Bahnhof von Madrid und ein Jahr Fukushima.“

Abgesehen davon, dass die Verwendung der Begriffe „Rausch“ und „Hype“ in diesem Zusammenhang mindestes irritierend ist, und man hier hier zu Lande muss man immerhin dem Neuen Deutschland zugestehen muss, die Ermordung Al-Mahdis eingeordnet zu haben. Wir merken uns die Warnung schon mal im Kalender vor.

Gehört es in Zeiten der ausufernden Nachtkritik (siehe gestriges Altpapier) eigentlich zu den „Aufgaben des Journalismus“ (Passig), zu vorgeblichen TV-Ereignissen noch ausgeruhte Nachkritiken hinterherzuschicken? In Sachen Günther Jauch beantworten die Medienseitenmacher diese Frage mit Ja. Für die Süddeutsche haut Kurt Kister, der Chefredakteur höchstpersönlich, in die Tasten:

„Man braucht nicht unbedingt noch einen Konflikt-Egoisten wie Plasberg am Sonntag. Aber etwas mehr Leben, etwas weniger Einspiel-Kinkerlitzchen und vor allem etwas mehr Talk in der Talkshow wären schon nicht schlecht.“

Michael Hanfeld würdigt in der FAZ das „Bild- und Schnittkonzept, hinter dem ein Mann steckt, den in der Branche viele für einen der weltbesten Live-Regisseure halten“: der unter anderem durch Fußball-Weltmeisterschaften, den ESC und ein „Kanzlerduell“ gestählte Volker Weicker:

„Hektisches Hin-und-her-Schalten gibt es bei ihm nicht, keine abrupten Schnitte, am Sonntag setzte er bei Günther Jauch Absätze, indem die Kamera in der Totalen mit der Räumlichkeit spielte – dem renovierten Gasometer in Berlin-Schöneberg, in den man einen Kuppelbau (Anm. AP: siehe heutiger Screenshot) integriert hat, welcher dem Reichstag nachempfunden ist. Das ist gewöhnungsbedürftig – insbesondere in die Bilder, die im Hintergrund an die Wände geworfen werden, muss man sich erst hineinsehen –, aber es hat Format.

[listbox:title=Artikel des Tages[Letter from Islamabad: The Journalist and the Spies (New Yorker)##Jauch und der Novitäten-Geruch von Autohäusern (BLZ)##Schmidt über Schmidt-Interviews (dwdl.de)]]

Auch Carmen Böker beschäftigt sich in der Berliner Zeitung mit der Optik. Sie schreibt über Jauchs Studio, das „ein Kind zu vieler Schulen ist“:

„Drinnen changierte die Palette herbstlich-heimelig zwischen einem seriösen Beige und einem sanften Hagebuttenrot, vertreten durch zwei Sesselgruppen in Chefvorzimmer-Look. Angesichts der sorgfältig gestaubsaugten Velours-Auslegware in Rostrot wollte sich Mitleid mit den Raumpflegern einstellen, denn solcher niedrigflorige, dennoch plüschig wirkende Teppich bedeckte diverse flach gestufte Podeste in der dominierenden Form des Abends: immer schön im Kreis herum. Das erinnerte an den Novitäten-Geruch von Autohäusern und wies, gemeinsam mit nutzlosen, gerundeten Regal-Elementen, jenen Hauch Retro-Chic auf, der in Möbelhäusern als ‚loungig‘ en vogue zu sein scheint.“

Insgesamt waren für die Berliner Zeitung gleich vier Leute im Jauch-Review-Einsatz, darunter auch Klaudia Wick, die sich von der Tatsache, dass mit Jürgen „Der Amerikaner“ Klinsmann ein Gesandter aus dem Fußballgewerbe mitredete, zu hölzernen bis komplett verunglückten Fußball-Metaphern inspirieren ließ.

Harald Schmidt, der heute, zwei Tage nach Jauch, auf Sendung geht, fand dessen Premiere im übrigen

„einmalig. Ich war stolz, bei etwas völlig Neuem dabei gewesen sein zu können.“

Weil er in vielen Interviews („Soweit ich richtig gerechnet habe, waren es 14“) zu seiner Sendung aber schon alles gesagt hat (siehe Altpapier), gibt er dwdl.de nun eine Art Meta-Interview, er redet also über Schmidt-Interviews, was insofern prima ist, als diese meistens besser sind als Schmidt-Sendungen. Schmidt sagt unter anderem, ihn langweilten Interviews, bei denen „beim Gegenlesen alles wieder rausgekürzt und geglättet wird“:

„Unterhaltung geht eindeutig vor Wahrheitsgehalt. (...) Ich rede mich immer in einen Antwortenrausch rein und in diesem Delirium laufe ich dann zu großer Form auf. Eigentlich zum ersten Mal wieder in deutscher Sprache seit Nietzsche.“

Da ist etwas Wahres dran, denn auch Nietzsche hielt unseres Wissens nichts vom nachträglichen Glätten seiner Interviews.


Altpapierkorb:

+++ Der TV-Höhepunkt jenseits von Schmidt und dem Start der letzten Champions-League-Saison „im alten TV-Schema“ (Digitalfernsehen) dürfte die heute bei RTL startende Serie „White Collar“ sein. Die ziehe „einen großen Teil ihres Humors“ aus dem „Gegensatz“ zwischem einem „wunderschönen Verbrecher und einem bestenfalls durchschnittlich attraktivem Ermittler“, schreibt Katharina Riehl in der Süddeutschen. Daniel Haas meint in der FAZ: „Diese Serie kommt zu spät. Oder zu früh, je nachdem, ob man glaubt, dass wir den schlimmsten Teil der Finanzkrise überwunden haben oder dass sich der nächste GAU bereits zusammenbraut.“ Neal, „der wunderschöne Verbrecher“ (Riehl) ist beim FBI „fester freier Mitarbeiter“ (Haas) und zudem „die perfekte Reflexionsfigur für ein sich durchsetzendes Gemeinwissen: Die Sphäre monetärer Transaktionen ist undurchsichtig und wird von Hasardeuren bestimmt. Am größten ist die Skepsis mittlerweile beim Kunstgeschäft mit seinen Fälscherskandalen und Irrsinnsbörsen, wo brillantbesetzte Totenschädel Millionen einbringen.“

+++ „Das zerrüttete Verhältnis zwischen der ARD und ihrer früheren Generalsekretärin Verena Wiedemann“ wird nun wohl doch nicht „in einem unschönen Prozess ausgebreitet“, schreibt Claudia Tieschky in der Süddeutschen. Hintergrund: „Bei einem Gütetermin vor dem Landesarbeitsgericht Berlin Brandenburg haben sich die Parteien nach einem Vorschlag des Gerichts auf einen Vergleich geeinigt.“ Der „Fall“ war überhaupt zu einem solchen geworden, weil Wiedemann ARD-Hierarchen des Mobbbings bezichtigt hatte.

+++ Aus der Süddeutschen erfahren wir darüber hinaus, dass Beige ist nicht nur ein Farbelement in Günther Jauchs Studio ist. Hermann Unterstöger war für die Seite 3 in Alice Schwarzers nicht papierlosem Emma-Büro: „Sie (...) sitzt vor ihrer beigefarbenen elektrischen Schreibmaschine und hadert mit den Stößen von unbearbeiteten Manuskripten, die sich auf dem Fenstersims türmen und ihr die Sicht auf den Rhein verstellen."

+++ Morgen läuft die Frist ab für die Unterzeichnung der Petition für ein Verbot der Vorratsdatenspeicherug“, von der bekanntlich auch Journalisten betroffen sind.

+++ Oliver Lepsius, Co-Herausgeber des Buchs „Inszenierung als Beruf. Der Fall Guttenberg“ gibt Deutschlandradio Kultur ein Interview zu den „medialen Mechanismen“ der Causa.

+++ Ärger hat seit Ende vergangener Woche der sozialdemokratische Facebook-Rüpel Sebastian „Kreuzweise“ Edathy (siehe journalist und Welt). Eine aktuelle Übersicht über einige diesbezügliche Radiobeiträge findet sich hier.
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+++ Setzt AOL künftig auf unbezahlte Kinderarbeit? (AdAge)

+++ Ein Blick nach Ägypten: Die FAZ berichtet, dass Sicherheitskräfte die dortige Filiale von Al-Jazeera gestürmt und den Sender für geschlossen erklärt haben (S. 43; siehe auch New York Times von gestern). Die Berliner Zeitung geht auf den Hungerstreik des militärkritischen Bloggers Michael Nabil ein.

+++ Die Plattform Commentarist, die Kommentare und und Kolumnen aggregiert, ist - nach siebenmonatiger Pause- seit gestern wieder am Start (netzwertig.com, taz.de).

 +++ Im Tagesspiegel lobt Markus Ehrenberg die neue Zeitschrift Sportsfreund (siehe Altpapier), auch wegen der Titelstory „über den Sinn von Comebacks, mit immerhin ungewöhnlichen Einsichten des Sportphilosophen Gunter Gebauer zum ‚symbolischen Tod‘ eines Sportlers bei Karriereende“. Weil wir mit diesen Zeilen gerade möglicherweise die Aufmerksamkeit der Sportjournalisten geweckt haben: hier eine Weiterbildungsempfehlung.

+++ Mit Brigitte Mom (siehe Altpapier) beschäftigt sich nun auch die taz, und zwar, weil man in der neuen Zeitschrift „eine Haushaltshilfe gewinnen kann“.

+++ Außerdem in der taz: eine ausführliche Besprechung der 3sat-Doku „Die ermordeten Kinder von Guatemala."

+++ Was war früher besser? Angeblich der Autojournalismus. Sagt jedenfalls Andreas Meurer, der „PR-Chef von VW Nutzfahrzeuge“ im PR-Magazin: Die über die Autoindustrie berichtendeen Online-Journalisten seien „Mädchen für alles (...) Mal berichtet der eine über die Autoindustrie, dann wieder der andere. Dadurch passieren Fehler. Da fehlt oft das Verständnis für grundlegende Zusammenhänge und Rahmenbedingungen. Ich weiß aber nicht, wen ich anrufen muss, um auf Fehler hinzuweisen. Das ist fast so wie ein Anruf im Callcenter.“

+++ Und was wird demnächst besser? Möglicherweise die Wettervorhersagen.

Neues Altpapier gibt es wieder am Mittwoch.
 

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