Grobes U

Grobes U

Heute ist Sommer, morgen ist Winter: Die ARD zwischen "Dreileben" und fünf Talkshows. Dazu weitere Verneigungen vor Loriot, die nicht-föderale Zukunft der Medienpolitik und weitere Verwirrungen in der Frage, was lechts und rinks ist

Bekanntlich beginnt, wer etwas auf sich hält, seinen täglichen Medienkonsum in unruhigen Zeiten bei den Leserbriefen. Dort gibt es Konstanz, die werden verlässlich vom Schriftsteller Martin Walser verfasst.

Nachdem er im Spiegel der vergangenen Woche auf dreizehn Zeilen eine Ungenauigkeit korrigiert hatte, die im Rahmen der fünfzeiligen Vorstellung des jüngsten Walserwerks Eingang in eine zuvor erschienene Ausgabe gefunden hatte, fand sich Walsers Foto am Samstag auf der "Forum"-Seite der Süddeutschen Zeitung. Dort drückte er Ärger über "Michael Stallknechts Verriss des Romans 'Die Dirigentin' von Wolfgang Herles", dem Moderator der Fernsehsendung "Aspekte", aus. Er schrieb:

"Ich gestatte mir, das Motiv, das uns der Kritiker verbirgt, als Vermutung nachzuliefern: Wolfgang Herles IST Fernsehen, und Fernsehen ist grobes U, Stallknecht ist feinstes E."

Ob Walser mit dieser Vermutung nun dem Kritiker gerecht wird, ist eine Frage, die der werten Userschaft zur eigenen Interpretation überlassen wird; an dieser Stelle genügt es, darauf hinzuweisen, dass von dieser Konzeption ja nun doch schon länger nicht zu lesen gewesen war: Fernsehen als grobes U, im Gegensatz zum E. Wo doch das Fernsehen neben grobem U tatsächlich auch feinstes Entertainment bietet.

Darin sind sich zumindest die Fernsehkritiker heute weitgehend einig in ihren Besprechungen der drei Filme der drei Regisseure Dominik Graf, Christoph Hochhäusler und Christian Petzold (Foto von links nach rechts), die zusammen das "Filmexperiment" (ARD-Programmdirektor Herres) namens "Dreileben" ergeben, das heute in der ARD läuft (20.15: "Etwas Besseres als den Tod", 21.45 Uhr: "Komm mir nicht nach", 23.30 Uhr: "Eine Minute dunkel"): drei zusammengehörende Filme "an einem Abend, unterbrochen nur durch die 'Tagesthemen'", wie es in den meisten Rezensionen lobend heißt.

"Und es bewegt sich doch: das deutsche Fernsehen, dieses System, dem wir hier schon so oft die Sklerose seines Programms vorgehalten haben und seinen viel zu großen Einfluss auf den deutschen Film",

schreibt Kino- und Systemkritiker Peter Körte in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Und auch sonst wird "Dreileben" entweder über alle Maßen gelobt oder E-gemäß fundiert bewertet.

Am zerrissensten ist Christopher Keil in der SZ (S. 19), der die Grimme-Nominierung fürs Gesamtkonzept dann doch noch nicht vorwegnimmt:

"Entstanden ist eine polyphone Milieustudie mit Krimihintergrund, eine lose Geschichte aus drei Perspektiven, allerdings steht jeder Beitrag auch sehr für sich. Die Verbindungen sind nicht so auffällig und stilisiert, wie man vermuten könnte, das ist auch die Schwäche. Denn wenn man sich viereinhalb Stunden Film gönnt, hofft man auf den Sog, in den man von einer guten Serie gezogen wird."

Christiane Peitz dagegen äußert sich im Tagesspiegel zu "Dreileben" ähnlich enthusiastisch wie Körte in der FAS:

"Dafür kann man den Sender nur loben. Zumal die En-suite-Ausstrahlung dem Zuschauer das Vergnügen beschert, selber Detektiv spielen zu können. Immer wieder entdeckt man Spurenelemente der jeweils anderen Filme: die Tapetentür, ein Kussmundwerbeplakat, ein Hotelbett ... Auch das ist Fernsehen: ein Medium fürs Déjà-vu, ein Heimatgefühlsgenerator."

Die En-suite-Ausstrahlung lobt auch Jens Müller in der taz: "Die Welt des öffentlich-rechtlichen Fernsehens in Deutschland ist eine mit festgefügten Programmschemata. Aber es geschehen noch Zeichen und Wunder." Und auch Klaudia Wick, die die Filme angetan in der Berliner Zeitung bespricht, sieht in der direkten Folge "eine einmalige Gelegenheit, Stil und Handschrift dreier herausragender Spielfilmregisseure im direkten Vergleich zu sehen".

Nur Dietrich Leder schert in der Bewertung der Sendeplatzwahl aus: Er spricht "Dreileben" in der Funkkorrespondenz (wie im Freitags-Altpapier bereits verlinkt und zitiert) ein "ungeschmälertes Kompliment" aus, einzig geschmälert durch die Programmierung an einem einzigen Abend, die etwa FAS, taz und Tagesspiegel so lobend hervorheben, deren Sinn er aber bezweifelt. Wer weiß, vielleicht hat er aus Zuschauerperspektive ja nicht ganz Unrecht – wenn drei Filme am Stück laufen, kommt ja im Alltag doch eher der Festplattenrekorder zum Einsatz.

Friederike Haupt (FAZ), zum Abschluss (und ebenfalls schon am Freitag erwähnt), sieht fernsehtechnisch allerdings schon mal den Winter kommen. Ist ihr "Dreileben" noch "ein Spätsommerereignis wie in der Hängematte ausgedacht", beginne tags darauf "übergangslos der Fernsehwinter, zumindest gefühlt, denn von September an wird in der ARD fünfmal pro Woche getalkt."

[listbox:title=Artikel des Tages[Dreileben 1 (FAZ)##Dreileben 2 (TSP)##Dreileben 3 (FK)##Medienregulierung 2015 (FK)]]

Und da wären wir dann auch mittendrin in der Diskussion um die fünfgleisige Talkshowschiene der ARD – quasi das grobe U des Fernsehens. Am Dienstag – sogar noch im August – beendet Sandra Maischberger die Sommerpause (in der die FTD schlimme Mächte am Werk sah) mit, wie die taz informiert, einer Runde, in der endlich auch mal Charlotte Roche sitzt, die ansonsten ja als praktisch untergetaucht gelten kann.

Am Wochenende wurden auf diversen Seiten die Verschiebung von "Anne Will" auf den Mittwoch bzw. ihr Style durchexerziert. Anlass war der Pressetermin mit Will und allen, die bei ARD und NDR etwas zu melden haben, und dessen Kernbotschaft Steffen Grimberg in der taz eher belustigt widergibt:

"(D)iese Runde ist (...) dazu da, sich im Lob zu überbieten. (...) Fünf mal Polittalk pro Woche in der ARD ist keine Fehlentwicklung, sondern richtig klasse, wiederholt auch Chefredakteur Baumann noch mal."

Den medienkritischen Satz des Tages hat dabei Joachim Huber (Tagesspiegel) von NDR-Intendant Lutz Marmor gehört: Der nämlich

"stellte in Abrede, dass, wie schon kritisiert, die große Talkflut über das Publikum hereinbrechen werde. Die Zuschauer würden sich ihre Runde, ihre Runden suchen, nur Kritiker würden sich jedes Format von Sonntag bis Donnerstag ansehen."

Na klar. Wir kochen jetzt einfach jeden Abend dieselbe Suppe, sagte der Spitzenkoch – die Leute kommen ja eh nicht jeden Tag.

Noch mehr Humor gibt es im Spiegel, der, sechs Tage nach Loriots Tod, mit einer "Verneigung" vor ihm aufmacht. Wogegen trotz Libyen und Westerwelle-Diskussion (zwischen denen sich die taz heute im Titel nicht entscheiden kann, woraus sie eine Tugend macht) gar nichts spricht; wer mag, kann das als Beleg für die Unangreifbarkeit der ausgeruhten Detailrecherche durch die dann doch deutlich schnellere Eilmeldung lesen.

Dass dann im Spiegel-Aufmachertext aber – danke für den Hinweis an einen Leser – der wohl häufigste Fehler der schneller geschriebenen Nachrufe noch einmal reproduziert wird, ist auch nicht von Pappe: "Das näselnde 'Wo laufen sie denn?'", das als berühmte Loriot-Szene zitiert wird (S. 63), ist vier Tage, nachdem das Bildblog den vielfach gemachten Fehler als solchen benannt hatte, immer noch nicht von Loriot.


Altpapierkorb

+++ Medienpolitik: Norbert Schneider, bis 2010 Direktor der Landesanstalt für Medien Nordrhein-Westfalen (LfM), setzt in der Funkkorrespondenz die Überlegungen über Gegenwart und Zukunft der Medien- und Netzpolitik fort – und plädiert im digitalen Zeitalter, in dem "(a)naloge Regulierung (...) nach wie vor Öffentlichkeit fokussieren" müsse, "digitale neuerdings Privatheit", für eine "gesellschaftliche Regulierung (...), die über Instrumente verfügt, die die bisherige Medienregulierung nicht hatte, die aber zum Beispiel für Kartellbehörden schon immer ganz selbstverständlich waren. Sie müssten beispielsweise in der Lage sein, falls es sie je geben würde, eine Verhöhnung der Regulierung durch, sagen wir, Facebook unverzüglich zu ahnden." Wie könnte das gehen? Durch eine teilweise Abkehr von der föderalen Struktur der Medienpolitik: Dass eine solche "auch in Zukunft angemessen sein könnte, ist ein Gedanke, den man sich aus dem Kopf schlagen sollte. Nicht, weil man das föderale Moment für überlebt hält. Das kann in diesem Kontext dahinstehen. Sondern weil es schon national schwer genug sein wird, wirksam zu regulieren. Aber die Aufsicht dann auch noch europaweit zu organisieren, wäre, wenn Europa besser dran wäre, sicher eine gute, jedoch keine realisierbare Idee" +++

+++ Weitere Loriot-Erinnerungen stehen im FAS-Gesellschaftsteil und in der, wiederum, Funkkorrespondenz +++

+++ Die FAS eröffnet ihr Feuilleton, zwei Wochen nach dem umfassend diskutierten Beitrag Frank Schirrmachers zur Frage, ob die Linken nicht recht hatte (siehe Altpapier) mit einem Beitrag von Michael Naumann, SPD-Kulturstaatsminister unter Schröder, zur SPD-Politik unter Schröder. Fazit: Was auf den Finanzmärkten so abgehen würde, hätten die Linken doch auch nicht geahnt +++

+++ Douglas Coupland, Schriftsteller und einer der bekannteren Verhandler der gesellschaftlichen Folgen neuer Medien, taucht noch zweimal auf: Interviews mit ihm stehen auf der FAS-Medienseite und im Freitag +++

+++ Das bestenfalls für Verleger-Verhaltensforscher lesenswerte FAZ-Interview mit WAZ-Mann und Verlegerverbandsvertreter Christian Nienhaus über u.a. die Klage von u.a. WAZ und FAZ gegen "Tagesschau"-App ist hiermit ordnungsgemäß nachgetragen +++ Dazu: die notwendige Kritik von Stefan Niggemeier +++ Und passend zum Nienhaus-Interview: 60 Jahre Micky Maus Magazin (BLZ) +++

+++ Mehr Fernsehen: Die FAZ (S. 29) bespricht "Schleierhaft" (Arte, 22.35 Uhr) +++

Das Altpapier stapelt sich wieder am Dienstag gegen 9 Uhr.

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