Ihr seid nur ein Spielzeugmagazin!

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Was ist eigentlich 1:87-Journalismus? Und was bedeutet MMOWGLI? Außerdem: Schon wieder ein Politiker-Rücktritt dank Crowdsourcing.

Dass der Spielzeugfreund aus dem süddeutschen Raum, der rein rechtlich gesehen das Erwachsenenalter bereits erreicht hat, auch heute in dieser Kolumne auftauchen würde, hätten wir zu Beginn der Woche nicht erwartet. Aber da zwei Spitzenkräfte der Medienbeobachtung sich zum Irgendwas-mit-Nannen-Skandal (siehe sämtliche Altpapiere dieser Woche) ein paar kluge Gedanken abgerungen haben, drängt es sich auf.

Dass der kurzzeitig ausgezeichnete Spiegel-Mann René Pfister „den Keller nie gesehen hat, sondern sich von Seehofer während einer Reise nach China davon erzählen lassen“, animiert Michalis Pantelouris (print-wuergt.de) zu folgender Anmerkung:

„Wenn der Journalist neben dem Ministerpräsidenten in einem Flugzeug sitzt, und Seehofer – der ja weiß, dass alles, was er sagt, einem Text über ihn dienen soll – erzählt davon, wie er im Keller Angela-Merkel-Bildchen auf Modelleisenbahnen klebt … ist das nicht die hundertmal geilere Szene? Ein Politiker, der will, dass man ihn als Stellmeister portraitiert, und dabei von infantilem Zeug wie seiner Modelleisenbahn erzählt? Die Szene im Flugzeug hätte ich lieber gelesen als das Zeug über seinen Allmachts-Keller, das Seehofer selbst verbreitet.“

Vielleicht sollten Journalisten stets skeptisch sein, wenn ihnen Politiker genau das erzählen, was sie hören wollen, es sei denn, es handelt sich um etwas inhaltlich Brisantes.

Katrin Schuster ist aufgefallen: „Wenn Seehofer sich mittels einer ‚Märklin Ho im Maßstab 1:87‘ als Herrscher über die politische Landschaft imaginiert“, gilt Ähnliches auch für den Spiegel:

„Der Maßstab 1:87 trifft die Spiegel-Prosa ziemlich genau: In vielen Porträts und Reportagen dieses Magazins wird rhetorisch vorgegeben, man blicke hier in Gehirne und durch Schlüssellöcher. (...) Als wären die Redakteure allesamt bei der Yellow Press in die Schule gegangen. Und genauso wenig wie ich der Yellow Press ihre Nähe zu den Prominenten abnehme, genauso wenig kann ich noch an die Intimität zwischen Spiegel und der großen weiten Welt glauben; allein schon deswegen, weil er sie so andauernd behauptet, dass der (wenigstens gefühlte) Mangel daran offensichtlich wird.“

Und dann kommen zwei Sätze, die man künftig wohl noch häufig wird zitieren können, wenn es um das Montagsmagazin geht:

„Vielmehr kommt mir jeder Text vor wie eine Modelleisenbahn, auf deren Loks und Waggons die Redakteure kleine Porträtfotos von Politik- und Wirtschaftsgrößen geklebt haben, um dann glücklich dabei zuzugucken, wie sie ihre Runden nach ihren Maßgaben und -stäben drehen: Ui, jetzt lassen wir aber mal die Schranke runter! Der Spiegel hat sich in Hamburg ganz offensichtlich eine Welt nach seinem Willen geformt (...)“

Was man auch als Aufforderung an den Medienjournalismus verstehen kann, sich grundsätzlich nicht allzu ausgiebig mit dem 1:87-Journalismus aus der Brandstwiete zu beschäftigen. Blenden wir also aus der Spielzeugwelt hinüber ins globale Mediengeschehen. Den Übergang überlassen wir Michael Oreskes, dem „Senior Managing Editor“ von Associated Press, der die journalistische Arbeit seiner Leute bei der Aktion gegen Bin Laden bejubelt. poynter.org referiert ein hausinternes Memo an die Kollegen der Nachrichtenagentur:

„The scene was like something from a Hollywood blockbuster, ‚The Taking of Osama bin Laden,‘ packed like the rest of the narrative with tension, intrigue and secrecy: Two ace reporters huddle in a taxi cab, racing off to mine separate sources for details of this most extraordinary of stories. A cell phone rings. On the other end is yet another source, calling back with an exceptional detail — the name of the courier who inadvertently led the U.S. to the world’s most-wanted man. This is huge. But it’s not quite enough confirmation. So the reporters split up and call more sources. And they nail it. They head to a public Wi-Fi spot to file. In the intensely competitive hunt for information in the bin Laden killing aftermath those ace reporters, Washington’s Matt Apuzzo and Adam Goldman, teamed up to score major scoops from the intelligence sources they have been assiduously building.“

[listbox:title=Artikel des Tages[Was man über Spiegel-Prosa wissen muss (katrinschuster.de)##Die Navy braucht unsere Weisheit (Wired)##Tageszeitungen ohne Aldi)]]

„Das Weiße Haus inszeniert Barack Obama nach der Erschießung von Osama bin Laden als tatkräftigen Befehlshaber“, findet die Berliner ZeitungThomas Klein fühlt sich „auf irritierende Weise“ an die TV-Figur David Palmer erinnert, der wir heute deshalb gleich mal einen You-Tube-Screenshot gewidmet haben:

„Als erster Afro-Amerikaner und gut sieben Jahre vor Obama war David Palmer, dargestellt von Dennis Haysbert, in der Serie ‚24‘ US-Präsident geworden. Der fiktive Politiker war bald nach Sende-Beginn im Oktober 2001 (!) Partner und väterlicher Freund des Anti-Terror-Agenten Jack Bauer (Kiefer Sutherland). Als Staatschef trifft er harte Entscheidungen im Alleingang und auch gegen seine Berater. Terror ist das Thema von ‚24‘, die Bedrohungen sind konkret und eindeutig, Zeit für Grundsatzfragen oder Skrupel bleibt nicht. Dringlichkeit und Einzelentscheidungen bestimmen das Tagesgeschäft. Die akute Gefahrenabwehr legitimiert auch für den Präsidenten Folter und Todesschüsse, sein gelegentlich aufblitzendes Mitgefühl und seine Betroffenheit wirken eher wie Krokodilstränen.“

Das berühmte und viel analysierte Foto, das entstand, als die Politmanager aus dem Weißen Haus den Einsatz in Pakistan bei einem intimen Public Vieweng verfolgten, gibt es auch ohne Hilary Clinton. Das berichtet Peter Münch in der Süddeutschen:

„Di Tzeitung, ein in Jiddisch erscheinendes Wochenblatt für die ultra-orthodoxe Leserschaft, hat Clinton ebenso wie eine weitere weibliche Betrachterin des Dramas dank Photoshop aus dem Bild gestrichen. So sind die Regeln des frommen Blattes: Frauen werden aus übergeordneten Gründen der Moral nicht abgebildet, und im Zentrum der Macht haben sie wohl ohnehin nichts zu suchen. (...) Das hat einen solchen Sturm der Entrüstung ausgelöst, dass das Blatt schließlich eine Entschuldigung abgeben musste.“

Gestern war „ein glorreicher Tag“, jedenfalls „für Plagiatsjäger“, meint stern.de: „Die Uni Konstanz teilte mit, dass Stoiber-Tochter Veronica Saß ihren Doktortitel verliert. Die Uni Bayreuth legte ihren finalen und vernichtenden zu den Plagiatsvorwürfen gegen Ex-Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg vor. Und als letzte im Bunde kommt die FDP-Spitzenpolitikerin Silvana Koch-Mehrin der Uni Heidelberg zuvor.“ Der Rücktritt der FDP-Frau, der für die meisten gedruckten Tageszeitungen zu spät kam, ist bekanntich dem VroniPlag Wiki zu verdanken. Passenderweise gab das Grimme-Institut gestern bekannt, dass das Vorbild GuttenPlag Wiki für die Online Awards des Hauses nominiert ist. Ein Überblick über die Nominierten findet sich im Tagesspiegel und natürlich bei Grimme.

Falls sich staatliche Institutionen hier zu Lande darüber Sorgen machen sollte, dass die Weisheit der vielen dazu beiträgt, dass Politiker ihre Pöstchen aufgeben müssen: Vielleicht tröstet es sie, dass man es in den USA jetzt mit patriotischem Crowdsourcing probiert: Die Navy hat ein Online Game zum Thema somalische Piraten entwickelt - und hofft, dass sie aus dem Verhalten der Spieler ein paar Ideen für militärische Einsätze generieren kann. Wired weiß mehr:

„Starting on Monday, the Navy will host one of the least likely online games ever: MMOWGLI, its Massive Multiplayer Online War Game Leveraging the Internet (...). In a literal sense, the game is about counterpiracy, as the game encourages players to offer their best suggestions for clearing the seas of the resurgent maritime scourge. But the real point of MMOWGLI — pronounced like the Jungle Book protagonist — is a social experiment. 'We want to test this proposition: can you get a crowd to provide you with good information?' Larry Schuette, the director for innovation at the Office of Naval Research, the Navy’s mad scientists, asks (...) 'Is the wisdom of the crowd really that wise?'”

Möglich sogar, dass die Navy zukünftig noch häufiger auf Crowdsourcing setzt:

„The technical capabilities are about as important to the Navy as the specific piracy scenario. The MMOWGLI software is ‚scenario agnostic‘, says Peter Vietti, a spokesman for the Office of Naval Research. ‚It can be used to tackle other tough challenges. What if the next scenario was the future of Navy spending, and how we respond to significant budget cuts across the Department of the Navy?‘“


Altpapierkorb

+++ Warum haben nur vier Prozent der Journalisten in Deutschland einen Migrationshintergrund? Marjan Parmandi, Redakteurin bei ARD-aktuell, nennt die Gründe in einem Interview mit der Deutschen Welle.

+++ Bei Wikileaks gab es mal wieder einen Leak. Ein Dokument, in dem drakonische Strafen für Mitarbeiter des Hauses festgelegt sind, die gegen die internen Regeln verstoßen, ist beim New Statesman gelandet.

+++ Die sich unter anderem auf Erich Mühsam berufende lokaljournalistische Plattform regensburg-digital.de feiert „drei Jahre unabhängigen Journalismus“.

+++ Ulrike Simon berichtet für die Frankfurter Rundschau und die Berliner Zeitung über Aldis Zeitungsanzeigenverzicht: „846 Millionen Euro haben Discounter im vergangenen Jahr brutto für Werbung ausgegeben, allein 386 Millionen kamen von Aldi, der damit in Deutschland drittgrößter Werbungtreibender ist. Fast das komplette Budget fließt in Zeitungen. Rund 30 bis 40 Prozent der Anzeigenerlöse von Tageszeitungen stammen von Discountern. Auch der Leser schätzt diese Schweinebauchanzeigen, die ihren Namen dem mit Preis und Gewicht versehenen Foto eines blutroten Stücks Fleisch verdanken ... Dennoch verzichtet Aldi nun in einigen seiner 31 Verkaufsregionen auf Anzeigen in Tageszeitungen.“

+++ Letzteres ist für manche Verlagsmanager ebenso wenig erfreulich wie der erste Teil des neuen „Zeitungskrisen-Reports“ von meedia.de: „Im Durchschnitt verloren die Regionalzeitungen mit mehr als 100.000 Käufern in den zehn Jahren rund 23 Prozent ihrer Abonnenten und Kioskkäufer. Am bittersten sieht es in Metropolregionen wie Berlin und dem Ruhrgebiet, sowie im gesamten Osten Deutschlands aus. Hier gehen die Auflagenverluste mit zum Teil mehr als 30 Prozent allmählich an die Substanz.

+++ Prima geht es dagegen Springer. Die FAZ bilanziert das erste Quartal: „Der Gesamtumsatz der ersten drei Monate lag bei 736,7 (663,7) Millionen. Davon tragen die Zeitungen im Inland, insbesondere die 'Bild', trotz eines Umsatzrückgangs von 3,3 Prozent auf 279,9 Millionen Euro immer noch 38 Prozent. Außerdem dürfte bei Deutschlands größter Boulevardzeitung schon bald die nächste Preiserhöhung anstehen.“

+++ Im Medienressort der FAZ (Seite 33) geht es unter darum, wie der chinesische Künstler Ai Weiwei bisher Twitter genutzt hat. „Rund 60 000 Nachrichten“ hat er an seine mittlerweile 80.000 Follower geschickt – „die letzte kurz vor seiner Verhaftung“. Lisa Zeitz schreibt des weiteren: „Ai Weiwei hat in der Vergangenheit ... politisch brisantes Material (..) über Twitter in Umlauf gebracht, etwa das Bild, das ihn selbst mit einer Kopfverletzung nach einer Notoperation zeigt, nachdem die chinesische Polizei den unbequemen Aktivisten verprügelt hatte. Ai Weiwei (..) hat Twitter als persönliches Archiv bezeichnet: ‚Wir haben keine Zeit, Autobiographien zu schreiben. Jede Minute ist schreibender Prozess. Alles noch einmal aufzuschreiben wäre Zeitverschwendung.‘“

+++ Twitpic, einer der Dienste, der es ermöglicht, Fotos auf Twitter hochzuladen, sieht sich derzeit mit einem „Shitstorm“ konfrontiert, weil „persönliche Fotos vom Anbieter genutzt, vervielfältigt, verteilt, abgewandelt sowie von Dritten übernommen und verwendet werden können - weltweit, ohne Entgelt für den Fotografen und auch für kommerzielle Zwecke“ (taz.de). Einen Übebrlick über die Debatte liefert danielbroeckerhoff.de

+++ Zum Abschluss ein medienpolitischer Gedankenanstoß aus der Schweiz. Claudia Tieschky (Süddeutsche, Seite 15) schreibt in einem Porträt über Roger de Weck, den Generaldirektor des Schweizer Rundfunks: „De Weck kritisiert: Verleger und Sender führten angesichts globaler Konzerne wie Google und Facebook ‚einen Verteilungskampf um Brosamen‘. Dabei sei es, was die Schweiz betrifft, überhaupt nicht in Marmor gemeißelt, dass es in zwanzig Jahren hier noch einen eigenständigen Medienplatz geben werde.“

Neues Altpapier gibt es wieder am Freitag.

 

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