Talkgeilheit und "Tagesschau"-Piraten

Talkgeilheit und "Tagesschau"-Piraten

Harald Schmidt düpiert gern die ARD-Chefs, die zwar weiterhin auf Getalke stehen, auf ihrer Pressekonferenz aber dummerweise kaum etwas zu sagen hatten. Unklar bleibt, wie die ARD zu den im Netz aufgetauchten "Tagesschau"-Piraten steht.

Das traditionell ziemliche erschöpfende Jahresinterview, das der Entertainer Harald Schmidt wie 2005 ("Die Ironie hat die Kotztüte erreicht"), 2006 ("Gefühl ekelt mich"), 2007 ("Hat sich alles nicht gelohnt"), 2008 ("Ich will mehr Skandale") und 2009 ("Die Strumpfhose hat Erlösungsqualität") auch 2010 der Wochenzeitung Die Zeit gegeben hat, harmoniert nicht nur glänzend mit dem heutigen Start der (vorerst) letzten ARD-Schmidt-Show-Staffel. Sondern überdies noch erstens mit der aktuellen Aufregung über Schmidts jüngsten Senderwechsel (siehe Altpapier vom Dienstag), und zweitens mit der gestern abgeschlossenen Tagung der ARD-Intendanten.

Das diesjährige Schmidt-Interview trägt die Überschrift "Die wussten nicht mehr, wohin mit mir" (S. 49 f., noch nicht frei online). Und die bezieht sich auf die Intendanten. Anfangs erzählt Schmidt, wie er dem inzwischen ehemaligen WDR-Intendanten Fritz Pleitgen einmal einen verblüffend schlechten "Ein-Satz-Witz" erzählte ("'Kommt ein Türke zur Arbeit'. Wir haben gelacht, viel mehr war nicht"), später folgen seine dank der erfolgreichen Vorabmeldungs-Politik der Zeit bereits sehr sehr breit weitergestreuten Sätze "Jetzt hinterlasse ich 26 Sendeplätze und ne Menge Kohle. Mein Etat reicht für 500 Ina-Müller-Sendungen"" (vgl. Foto).

Ein ganzes Stück weiter hinten im Interview sagt Schmidt noch "Internet ist nix für mich. Mich regt schon diese Handbewegung auf, mit der Leute auf dem iPad die Seiten weiterschieben", seinen vielleicht klügsten Zeit-Satz 2010. Kurz vorher hat Interviewer Stephan Lebert gefragt "Sie steigen also im nächsten Herbst wieder in die Mühle ein. Gibt es schon konkrete Pläne?", als sei ihm im Verlauf des bemerkenswert langweiligen Gesprächs entfallen, dass Schmidt ja auch in diesem Herbst, heute, wieder in die Mühle steigt. Oder als setze er unausgesprochen voraus, dass die diesjährige Schmidt-Show-Staffel völlig vernachlässigenswert bleibt.

Damit also zu den ARD-Intendanten, die gerade im schönen Bonn tagten. Ihre Tagungen enden seit einigen Jahren immer mit langfristig anberaumten Pressekonferenzen. Selten gab es da so wenig interessantes Neues wie gestern zu hören: Der Vertrag mit ARD-Chefredakteur Thomas Baumann wird verlängert (wäre er nicht verlängert worden, wäre das auch keine News), Susanne Holst bleibt "Tagesschau"-Moderatorin, ARD und ZDF legen schon wieder ein Gutachten vor (Grundsätzliches zur ARD-ZDF-Gutachterei und den grundsätzlich ungenannten Gutachter-Honoraren bietet Carta) usw. usf.. Wahrscheinlich hätten die Intendanten ganz gern wenigstens etwas über eine Vertragsverlängerung mit dem Promi Schmidt verkündet.

Interessantere Meldungen rund um die ARD, z.B., dass sie auf einen ihrer drei ohnehin ziemlich unbekannten Digitalkanäle verzichten könnte, befinden sich erst im Planungsstadium und haben teils auch mit einer weiteren Zeit-Vorabmeldung (nicht Schmidt, ein Wirtschaftsartikel über die ARD-Arbeitsgemeinschaft "Flottenstrategie", S. 28) zu tun. Wirtschaftlich fällt das praktisch gar nicht ins Gewicht. Der Betrieb des Wiederholungssenders "EinsPlus" kostet allenfalls fünf Millionen Euro im Jahr und reicht also nicht für vier "Tatort"-Produktionen.

Etwas mehr, zehn Mio. Euro, soll bei der ARD-Filmgesellschaft Degeto eingegespart werden - aber nicht etwa bei den seichten Freitags-Fernsehfilmen à la "Das Glück kommt unverhofft", sondern beim Einkauf von Kinofilmen. "Das ist positives Signal an die deutsche Produzentenlandschaft" (dwdl.de) - und an alle, die auf bessere öffentlich-rechtliche Hauptprogramme hoffen, ein negatives.

In dieser Hinsicht interessant, was die ARD-Intendanten in Bonn doch noch nicht entschieden haben, weil die WDR-Intendantin und künftige ARD-Vorsitzende Monika Piel gar nicht dabei war: die auf den Zeitungs-Medienseite längst diskutierte Zukunft der Talk-Sendeplätze mit Günther Jauch, Reinhold Beckmann, Sandra Maischberger, Frank Plasberg und Anne Will. Zwar ist die Lage dank Schmidts Abschied etwas weniger unübersichtlich geworden, aber gerade im WDR bestehen ja auch Pläne, den weniger seichten Mittwochs-Fernsehfilm der vom WDR produzierten Plasberg-Talkshow zu opfern. "Talk ist geil im Fernsehen, die Leute mögen das", zitiert der Tagesspiegel den ARD-Programmdirektor Volker Herres.

Noch hübschere Verrätselungen, noch detaillierte Informationen (Plasberg montags, Will mittwochs..., doch "noch gibt es ...eine oppositionelle Haltung gegen den Umbauplan"), bieten Süddeutsche und FAZ ("Die Sphinx schweigt").

[listbox:title=Artikel des Tages[Tsp. über noch unbeschlossene ARD-Aktualitäten##Carta über die ARD/ ZDF-Gutachterei##netzpolitik.org über depub.org##Thomas Schuler über Bertelsmanns Transparenz##Carta über SPON als Netzkrake##TAZ-Streik:El-Gawhary legt nach]]

Das aktuell heißeste Eisen rund um die ARD-Programme kam in Bonn nicht zur Sprache, sondern im Internet: Die clever anonym betriebene Webseite depub.org bietet jetzt nach eigenen Angaben "rund 200.000 Meldungen aus den letzten 10 Jahren tagesschau.de", die von den öffentlich-rechtlichen Sendern gegen ihren Willen, aber entsprechend dem Rundfunkstaatsvertrag gelöscht, also depubliziert wurden.

Nun will die "Tagesschau"-Anstalt NDR "mit allen juristischen Mitteln gegen Depub.org vorgehen, soweit dies möglich ist", berichtet netzpolitik.org (meint aber, dass der NDR das auch einfach bloß sagen könnte, ohne es zu meinen).

"Wir sind uns bewusst, dass die Urheber- und Nutzungsrechte für die Artikel und für die Mediatheken beim jeweiligen Autor bzw. bei tagesschau.de liegen. Für uns ist die freie Verfügbarkeit gebührenfinanzierter Inhalte allerdings wichtiger. So einfach ist das manchmal. :-)",

heißt es bei depub.org. "Rechtlich ist das illegal. Sachlich aber ist es zivile Courage", ist zeit.de ganz begeistert.

Einen Treppenwitz der Mediengeschichte könnte man es auch nennen, wenn das milliardenteure, immer noch talkshowbasiertere Anstaltsfernsehen tatsächlich solche Wikileaks-Piraten-artigen Aktionen nach sich zieht.
 


Altpapierkorb

+++ Heute in Berlin: große Bertelsmann-Sause am Gendarmenmarkt. Dazu schreibt Thomas Schuler, Autor des Buchs "Bertelsmannrepublik Deutschland", in der Berliner Zeitung "über seine Erfahrungen mit der Transparenz im Hause Bertelsmann". Schuler fand ja gerade auch in der FAZ Unterstützung für seine Bertelsmann-Stiftungs-kritischen Thesen. In der Zeit (S. 28) indes springt heute Götz Hamann kurz Bertelsmann zur Seite, wegen der schönen Geschäftszahlen und weil die Stiftung "ihre großen Erfolge am Anfang des Jahrzehnts errungen" habe: "Damals war sie Brutkasten politischer Reformen, etwa am Arbeitsmarkt. Die derzeitige, vom harten Alltagsgeschäft geprägte politische Großwetterlage liegt ihr dementsprechend nicht. Dass zum Jubiläum trotzdem ein Buch erschienen ist, das die Macht der Stiftung kritisch thematisiert, ist für sie nun eher schmeichelhaft", lautet die etwas kryptische Argumentation. +++ Auch "auf viele SZ-Anfragen zur Lage bei Bertelsmann lag bis Redaktionsschluss keine Stellungnahme vor", berichten Hans-Jürgen Jakobs und Caspar Busse in ihrem großen, ziemlich betriebswirtschaftlichen Bertelsmann-Bericht auf der SZ-Medienseite (15, derzeit nicht frei online). +++

+++ Spiegel Online sei "die wahre Krake im Netz", schreibt Wolfgang Michal und fragt "die Nutzer des Web, ob sie ihre sklavische Ausrichtung an nur einem Objekt nicht ein bisschen übertreiben?" +++

+++Kulturstaatsminister Bernd Neumann, auch ein wenig für Medien zuständig, muss jetzt "einen Konflikt entschärfen, den viele als Sprengsatz für die Presse- und Meinungsfreiheit sehen. Es geht um die Zukunft des Presse-Grosso". Die SZ (S. 15) führt in die komplexe Situation ein. +++ Michael Hanfelds Aufmacher der FAZ-Medienseite 35 gilt Dietrich "Red Bull" Mateschitz' österreichischem Privatsender "Servus TV", der "Erstaunliches bietet: Kultur und anspruchsvolles Niveau". +++

+++ Hier im Überblick das Auslands-Ressort der heute von zehn Auslandskorrespondenten bestreikten TAZ (siehe Altpapier gestern). Derweil hat Karim El-Gawhary in seinem TAZ-Blog nachgelegt: "Es geht darum, dass die taz für die gleiche Menge Arbeit weniger bezahlen will, so einfach ist das". Reiner Metzger aus der Chefredaktion hat in den Kommentaren darunter ebenfalls nachgelegt: "Diese Pauschalen beinhalten die mit Abstand teuersten Zeilen im taz-Kosmos. Wer so viel sparen muss wie das taz-Auslandsressort und an diese Sätze nicht rangeht, wird nicht weit kommen." +++ Bild.de berichtete gestern ebenfalls und sprach von "TAZ-Revolte". +++

+++ Auf der TAZ-Medienseite heute: ein verständnisvolles, äh, Porträt des NDR-Intendanten Lutz Marmor, Wissenswertes zum digitalen Antennenfernsehen von Jürgen Bischoff. +++

+++ Vorgestern offiziell eröffnet, jetzt auch im Tsp. beschrieben: der neue Berliner Hauptsitz der DPA. Ob denn nun der Tagesspiegel sein DPA-Abo tatsächlich gekündigt hat, steht natürlich nicht drin, dafür gibt's gewohnt langweilige Sätze des Bundespräsidenten Wulff, die dieser zur Eröffnung sprach. +++

+++ Die Berliner Zeitung vermeldet stolz, das ZDF "mittlerweile vergrätzt" zu haben durch ihre Nachfragen, ob denn die mit dem Telekom-Chef verheiratete Maybrit Illner noch Nachrichten moderieren kann (siehe auch Altpapier gestern). Und ist die einzige, die den heutigen Start der Schmidt-Show-Staffel in der ARD der Erwähnung wert findet: Antje Hildebrandt porträtiert den Showneuzugang Max Giermann.
 

Neues Altpapier gibt's wieder am Freitag.

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