Jetzt ist erst mal schnucki

Jetzt ist erst mal schnucki

Horst Köhler hat die Nase voll. Wie es zum Rücktritt des Bundespräsidenten kommen konnte, ist aber nicht jedem klar. Außerdem: Kinder, Kinder, Kinder, 7.000 Rinder.

Man kann von Horst Köhler halten, was man will, aber medial gesehen war sein Auftritt gestern so altruistisch wie zuletzt Michael Ballacks Grätsche im Halbfinale bei der WM 2002. Die kostete ihn bekanntlich eine Gelbe Karte – und damit das Finale.

Horst Köhler hat es für Deutschland getan. Sein Rücktritt mag die Demokratie, das Institut des Staatsoberhaupts, die Koalition in Schwierigkeiten bringen – medial betrachtet ist "Null-Bock-Horst" (Kurt Kister in der SZ) damit am Tag 1 nach Lenas Rückkehr in die "Medienstadt" Hannover eins gelungen: die Wiedergewinnung des Primats der Berichterstattung für die Politik.

Hatten sich am Sonntag Kommentatoren noch die Haare gerauft über den Gratulationsparcours der Politiker, und hatte die ARD am Sonntagabend Lenas Rückkehr in die "Medienstadt" Hannover in der Tagesschau an erster Stelle und in einem Ton gewürdigt, der normalerweise Boulevardmagazinen zur Verfügung steht, die von drittklassigen Galas berichten ("abgeräumt"), sendete sie gestern um 20.15 Uhr einen Brennpunkt zu Köhler und Israel (incl. gemeinsames Merkel-Interview mit ZDF).

Naturgemäß lassen sich auch hier Haare in der Suppe finden. In der beinahe schon klassischen Disziplin des Breaking-News-Watch stellt Michael Hanfeld in der FAZ fest:

"ARD und ZDF hatten Glück, dass sie die Meldung gerade noch kurz vor der Wetteransage in ihre 14-Uhr-Nachrichten bekamen. Und für die Privatsendergruppen RTL und Pro Sieben Sat.1 zahlte sich aus, dass sie eigene Nachrichtensender haben: N24 und n-tv schalteten schnell um auf das Chaos in Berlin und blieben dran, so wie für die Öffentlich-Rechtlichen der Parlamentskanal Phoenix. Er machte wett, dass im Ersten nach der Eilnachricht von Köhlers Flucht in die Staatskrise die Seifenoper 'Rote Rosen' lief und im ZDF abermals fleißig gekocht wurde, der Sender bat zur 'Küchenschlacht'."


Viel spannender im Falle Köhler ist nun aber die Chronologie des Köhler-Rücktritts. Bekanntlich setzte die Irritation über Köhlers lübkeeske Äußerungen vor Flugzeugmotorengeräusch im Radio-Interview zuerst in verschiedenen Blogs ein. Davon steht in der FAZ: nichts. Und es findet sich dort ebenfalls keine Antwort auf die nicht minder spannende Frage, warum der Deutschlandfunk (Köln) eine gekürzte Fassung des Deutschlandradio-Kultur-Interviews (Berlin) ausstrahlte, in der die Passage, die die Kritik erst auf sich zog, gar nicht vorkam.

"Wie dem auch sei: Am Wochenende nach Köhlers Einlassung herrschte bestenfalls Ratlosigkeit. Die wandelte sich, als 'Spiegel Online' die Sache am Mittwoch darauf aufgriff."

[listbox:title=Die Artikel des Tages[Chronologie des Köhler-Rücktritts (Carta)##Verkürzte Chronologie und Reaktion der Sender (FAZ)##Was Lena macht (Welt)##Wo die Discounter werben (TAZ)##Wie viele Rinder Ted Turner hat (Berliner)]]

Wie dem auch sei: Das ist Qualitätsjournalismus, der hinter die Kulissen gucken will. Im Tagesspiegel liest sich alles gar, als habe das DLR-Interview umgehend zu den Reaktionen geführt, derentwegen Köhler nun zurücktritt. Thank god, gibt es das Internet.

Carta hat die verdienstvolle Aufgabe übernommen, den Gang der Ereignisse zu rekonstruieren:

"Samstag, 22. Mai 2010:

Das Blog Unpolitik.de von Stefan Graunke greift die Deutschlandfunk-Meldung auf. Unter dem Titel “Unser Volk braucht Markt!” fragt Graunke."

Die Carta-Chronologie verliert über diesen Umstand die realen medialen Machtverhältnisse allerdings nicht aus dem Blick:

"Nach dem Polenz-Interview wird das Köhler-Zitat in allen Massenmedien aufgegriffen. Spiegel Online dreht das Interview mit Polenz weiter und befragt unter anderem Thomas Oppermann von der SPD. Oppermann befindet: 'Köhler schadet der Akzeptanz der Auslandseinsätze der Bundeswehr'. Mit den kritischen Äußerungen der Opposition beginnt auch die Aufarbeitung des Zitats durch den klassischen Meinungsjournalismus."

So stellt man sich journalistische Qualität vor, auch wenn die merkwürdige Kürzung durch den DLF trotz Nachfrage auch hier nicht aufgeklärt werden kann.

Und nun?

Steffen Grimberg sieht in der TAZ in der Nachfolgersuche für Köhler die nächste Aufgabe für NDR und Stefan Raab. An deren Ende könnte das glückliche Ende einer bislang unglücklichen Beziehung stehen:

"Aber - da muss die ARD jetzt ganz tapfer sein - für Günther Jauch ist der Weg nun endlich frei."

Noch größer ist nur der Spaß, den sich der Tagesspiegel erlaubt (zumindest online, Stand 7:37 Uhr). Unter der Überschrift "Köhler überrascht die Sender. Der Rücktritt des Bundespräsidenten und seine Resonanz im Fernsehen" steht noch immer der Beitrag, der Lena Meyer-Landruts Resonanz im Fernsehen referiert.

Wie dem auch sei: Für Horst Köhler ist jetzt erst mal ein bisschen schnucki.


Altpapierkorb

+++ Da ist natürlich auch was dran. Denn so ganz hat Horst Köhler Lena Meyer-Landrut nicht aus den Schlagzeilen verdrängen können. Es geht in den Berichten von FAZ, Tagesspiegel, Welt-Online und SZ (Seite 15) ums Geld, den der ESC am 21. Mai 2011 die Sender kosten wird, den Austragungsort ("Medienstadt" Hannover) und die Pressekonferenz von gestern. Sowie um die Tatsache, dass Lena nächstes Jahr wieder antreten soll. +++ Zumindest in diesem Punkt regt sich allerdings auch Widerspruch – in der TAZ ("so wahrscheinlich wie ein religiöses Wunder") und auf Meedia.de: "Raab übersieht dabei eins: Dass ein Fussball-Europameister automatisch fürs nächste Mal qualifiziert ist, liegt daran, dass ein Verband dies in seinen Statuten so festgelegt hat – und nicht ein einzelner Trainer." +++ Die Schweiz freut sich, dass sie den ESC nicht ausrichten muss. +++ Warum Tim Renner auf Carta Lena und Deutschland unbedingt in eine sentimentale Erfolgsgeschichte des "coolen" Patriotismus überführen muss, verstehe wer will. +++

+++ Geschichte heute. 30 Jahre Videotext würdigt Joachim Huber im Tagesspiegel: "Im schwarzen Loch des Fernsehbildes ist gut senden. Dort, wo die Austastlücke ist, weil von 625 Bildzeilen nur 576 für die Übertragung genutzt werden, strahlt der Teletext." +++ 30 Jahre CNN bilanziert Thomas Schuler in der Berliner, auch wenn die Stimmung beim Sender vor allem in den USA nicht gerade feierlich ist. Es gibt aber Wissenswertes über Gründer Ted Turner zu erfahren: "Er ist der weltgrößte Bison-Herdenbesitzer (50 000 Tiere) und der größte Landbesitzer in den USA, wie es auf seiner Website heißt." +++ Da fällt uns doch gleich der alte Number-One-Hit des Schweizer Cowboys Peter Hinnen ein: "7.000 Rinder, Kinder, Kinder, Kinder." +++ Rainer Stadler wäre darob bestimmt stolz auf uns, beklagt er in seiner NZZ-Kolumne ("In Medias RAs") das Kurzzeitgedächtnis der Medien: "Bei der täglichen Lektüre erschüttert mich neuerdings immer wieder die Nonchalance und Skrupellosigkeit, mit welcher Sachverhalte unterschlagen, manipuliert oder verfälscht werden, um einer Geschichte irgendeinen Dreh zu geben. Zumindest in jenen Gebieten, in denen ich mich auskenne, bleiben mir die Gaunereien nicht verborgen." +++

+++ Letzte Amtshandlung: Hans Werner Kilz, the chief himself, berichtet in der SZ (Seite 15) von einem chinesisch-deutschen Journalistentreffen mit Original-Horst-Köhler-Zitat ("Sie haben ja wirklich miteinander geredet"). +++ Die TAZ schreibt, dass Discounter, die bislang zu den wichtigsten Anzeigenkunden der Regionalpresse gehörten, neue Wege in der Werbung gehen. +++ Ebenfalls in der TAZ: Der Regionalteil der Süddeutschen wird renoviert. +++ Und im KStA orientiert Tilmann P. Gangloff über Diskussion zu einer Reform der ARD-Politmagazine. +++

Neues Altpapier gibt's morgen wieder ab 9 Uhr.
 

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