EKD-Denkschrift: Neuer Streit um Krieg und Frieden

EKD-Friedensdenkschrift
epd-bild/Paul-Philipp Braun
Die EKD-Denkschrift "Welt in Unordnung" wurde in den letzten Wochen viel diskutiert. Unser Kolumnist Alexander Maßmann findet den Grundtenor richtig, hat aber auch einige Kritikpunkte.
Kolumne evangelisch kontrovers
EKD-Denkschrift: Neuer Streit um Krieg und Frieden
Die EKD hat eine neue Denkschrift veröffentlicht, die militärische Interventionen teilweise gutheißt, wenn sie dem Schutz der Zivilbevölkerung dienen. Damit greift sie nach früheren Veröffentlichungen die Arbeit an der Friedensethik wieder auf, angesichts der aktuellen internationalen Situation. Ist das nun Realpolitik im schlechten Sinne oder gut christlich?

Aktueller hätte die neue Publikation nicht sein können. Im Oktober hat die EKD die Denkschrift  "Welt in Unordnung – Gerechter Friede im Blick" veröffentlicht, in der sie sich zu den ethischen Fragen rund um Krieg und Frieden erklärt. Kurz darauf sickerte in den USA ein Papier durch, mit dem Trump die Ukraine dazu nötigen wollte, alle Kampfhandlungen mit Russland einzustellen, scheinbar damit es zu einem Frieden komme.

Unter den europäischen Regierungschefs setzte sich die Meinung durch, dass der neue Vorschlag für die Ukraine und für Europa inakzeptabel sei. Womöglich gewinne Russland mit einem solchen "Frieden" die Freiheit, sich auch den Rest der Ukraine einzuverleiben und bald auch andere Länder zu bedrohen. Im Augenblick lassen russische Militärs die eigenen Soldaten erschießen, wenn sie sich weigern, als Kanonenfutter aufs Schlachtfeld zu gehen. In den besetzten Gebieten werden ukrainische Männer zum Wehrdienst für Russland verpflichtet.

Diese Situation zeigt auch, weshalb nach 2007 eine neue Friedensdenkschrift erschien. Die damalige Publikation trug noch den Namen "Aus Gottes Frieden leben." Außerdem führt die Denkschrift den Terrorangriff der Hamas vom 7. Oktober an, um den ersten grundlegenden Punkt zu machen: Der Ansatz der früheren Veröffentlichung lässt sich so nicht mehr vertreten, denn der bestand darin, vor allem mit zivilen Methoden der Konfliktlösung auf Frieden hinzuarbeiten.

Die Realität der Sünde unterschätzt

Dass die bisherige Friedensethik in einer gewandelten Situation überarbeitet werden muss, leuchtet ein. Die Denkschrift betont weiterhin Gottes Verheißung des Friedens, doch die bliebe abstrakt und abständig, wenn kategorisch pazifistische Hoffnungen und Bestrebungen anscheinend unvermittelt auf eine brutale Realität prallen. Gegenüber der Friedensethik von 2007 betont die EKD jetzt die Bedeutung des militärischen Schutzes der leiblichen Integrität klar stärker. Zwar sollen Abschreckung und Militärgewalt weiterhin nur "letztes Mittel" im Konfliktfall bleiben. Aber in der Vergangenheit habe man die Realität der Sünde und die schiere Brutalität mancher Akteure unterschätzt.

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In der Situation unverhohlener Gewaltanwendung würde dieser zivile Ansatz bedeuten, dass Deutschland seine Verantwortung womöglich vernachlässigen würde, andere Menschen – und womöglich die eigenen Staatsbürger:innen – vor nackter Gewalt zu schützen: Mord, Entführung, Vergewaltigung und Raub. Dem wirkt Deutschland etwa durch die Lieferung von Waffen an die Ukraine entgegen - aber deutsche Soldaten sind bereits im Baltikum stationiert, und in der Zukunft wäre eventuell eine Entsendung deutscher Soldaten in die Ukraine zur Absicherung eines zukünftigen Friedensabkommens denkbar.

Zivile Möglichkeiten bleiben

An der bisherigen Friedensethik erkennt die EKD an, dass der effektive, wehrhafte Schutz der leiblichen Integrität ein Ziel ist, das man nicht gegen andere Ziele ausspielen darf. Der deutsche Staat und die Zivilgesellschaft sollen neben der leiblichen Integrität auch der Förderung von Freiheit verpflichtet sein, dem Abbau von Ungleichheiten und einem friedensfördernden Umgang mit Pluralität. Hier haben auch zivilgesellschaftliche Initiativen reale Möglichkeiten, Entwicklungen hin zu Gewalt und Krieg entgegenzuwirken. Denn zur Gewalt kommt es, wenn politischer Autoritarismus und Ungerechtigkeit überhand nehmen. Man darf also nicht bloß auf militärische Reaktionen oder die Krisendiplomatie setzen, wenn das Kind bereits in den Brunnen gefallen ist.

Auch Demokratieförderung, Sozialstaatlichkeit und humanitäres Engagement sind Sicherheitspolitik. Wer den Frieden will, so heißt es seit längerem, solle nicht mehr – gemäß der klassischen Devise – den Krieg vorbereiten, sondern vielmehr den Frieden. Die neue Denkschrift fügt dem aber hinzu, dass es für die Friedensarbeit durchaus sinnvoll ist, sich außerdem ebenfalls auf den Krieg vorzubereiten.

Militärische Gewalt als wichtiges Instrument

Hier schießt die Denkschrift über das Ziel hinaus mit der Aussage, es könne die Friedenslogik "nur dort Raum gewinnen, wo die Sicherheitslogik Bedingungen dafür schafft", also wo man zumindest schon ein militärisches Abschreckungsszenario aufgebaut hat. Dass es bestimmte Konflikte gibt, in denen das so ist, lässt sich wohl nicht bestreiten. Das kann man aber nicht als die allgemeine Aussage der Denkschrift darstellen, denn viel häufiger heißt es dort, zivile Maßnahmen der Gewaltprävention und der Friedensarbeit hätten "grundsätzlich Vorrang vor militärischen Mitteln". Außerdem bleibe der Friede ohne weiteren zivilen Einsatz stets "gefährdet und labil."

Friedensethik bedeutet weiterhin, dass man längerfristig ein Abnehmen der Gewalt anstrebt. Wie schon in den letzten Jahrzehnten geht es nicht bloß darum, dass längerfristig die Waffen schweigen sollen, sondern man strebt ein umfassenderes Verständnis von Frieden an, so, wie die Hebräische Bibel ihn versteht: Es sollen "Gerechtigkeit und Friede sich küssen", wie es in Psalm 85,11 heißt.

Das ist kein weltfremder Idealismus, weil Gott diesen Frieden verheißen hat. Dennoch benennt die neue Veröffentlichung die militärische Abschreckung und den Einsatz von militärischer Gewalt stärker als zuvor als ein wichtiges Instrument, diesem Frieden Anerkennung zu verschaffen, der in unserer Erfahrung immer wieder äußerst gefährdet bleibt. Denn damit politische Freiheit, Gerechtigkeit und Pluralität nicht bloß Wunschträume bleiben, dürfen Tyrannen und Terroristen nicht mehr Leib und Leben bedrohen. Wo sie ihr Unwesen treiben, wäre es fahrlässig, die militärischen Mittel prinzipiell zu vernachlässigen.

Internationaler Kontext

Die Denkschrift schätzt die Abschreckung durch Nuklearwaffen als problematisch, aber möglicherweise sinnvoll ein. Sie spricht aber nicht an, dass etwa das "Bulletin of the Atomic Scientists"  der Ansicht ist, die Welt sei der nuklearen Katastrophe so nahe wie kaum bislang. Dazu trägt auch bei, dass die Zahl der Atommächte durchaus bald bei zehn oder mehr liegen könnte, doch diese Entwicklung spiegelt sich kaum in der Denkschrift wieder. Im konventionell-militärischen Bereich dagegen halte ich die größeren Linien der Denkschrift für sinnvoll. Dennoch habe ich auch kritische Bemerkungen.

Wie fügen sich militärische Operationen, wie die Denkschrift sie sich vorstellt, in den internationalen Kontext ein? Wenn ein Staat zu Unrecht angegriffen wird, kann es für Drittstaaten moralisch sein, dem ersten militärisch beizustehen, um Unschuldige zu schützen. Eine allgemeine "Schutzverantwortung", also eine moralische Pflicht zur militärischen Nothilfe gegenüber Bürger:innen eines anderen Staates, bejaht die Denkschrift jedoch nicht. Hier verweist sie auf den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen. Eine allgemeine Schutzverantwortung für fremde Staatsbürger würde dessen Funktion untergraben, denn er soll ja erst über das angemessene internationale Vorgehen entscheiden.

Nationale Alleingänge

Es soll die Kriegsführung nicht jeweils im freien Ermessen des einzelnen Staates liegen: Voreilige Alleingänge können in einem Wild-West Szenario enden, in dem die gemeinsamen Entscheidungen der regelbasierten Ordnung nicht mehr zustandekommen. Dass einzelne Staaten die internationale Konfliktregelung nicht in die eigene Hand nehmen, ist dagegen eine "zivilisatorische Errungenschaft." Andererseits stellt die Denkschrift fest, dass einzelne Großmächte den Sicherheitsrat immer wieder blockieren, was ein echtes Interesse am Frieden untergräbt. Traditionell verfolgen besonders China und Russland im Sicherheitsrat oft Eigeninteressen zulasten der kollektiven Sicherheit. So kann das nackte Machtstreben einer Großmacht die regelbasierte internationale Ordnung zurückdrängen.

Angesichts dessen greift dann im rechtlichen Rahmen wieder die "individuelle oder kollektive Selbstverteidigung" in der Regie der Einzelstaaten. Hier wiederum gibt es zwar keine Pflicht zum Beistand. Aber wenn der militärische Schutz der leiblichen Integrität der Bürger:innen ethisch so wichtig ist, wie die Denkschrift hervorhebt, dann ist er doch löblich, zumindest in der Intention. Soll nun ein Staat den militärischen Schutz eines befreundeten Staates dennoch unterlassen, aus Rücksicht auf eine internationale Entscheidungsfindung – deren Funktionieren aber durchaus zweifelhaft ist?

Ältere Probleme kehren zurück

In dieser Situation wären effektive Strategien zur zivilen Konfliktlösung der goldene Schlüssel, auf dem die ältere Denkschrift nachdrücklich insistierte. Angesichts effektiver ziviler Methoden wären militärische Interventionen nur schwer zu begründen, weil sie überflüssig und sogar mehrfach schädlich wären. Das Problem der nationalen Alleingänge im Gegensatz zur kollektiven Sicherheit wie auch der Blockade der internationalen Entscheidungen würde entschärft. Doch die krassen Gewaltausbrüche in der Ukraine und im Nahen Osten haben diese scheinbar optimale Lösung als unzureichend erwiesen.

Diese Problematik ist hinreichend bekannt, und man kann von einer kirchlichen Denkschrift keine Lösungen für diese vertrackte Lage erwarten. Aber immerhin schlägt die Denkschrift mit der stärkeren Betonung des militärischen Schutzes eine neue Richtung ein, so dass die älteren Probleme der internationalen Ordnung auf der Ebene der Theorie wieder besonders virulent werden. In der friedensethischen Konzeption muss die Denkschrift das offen benennen. Zum Abschluss dieses Abschnitts weist sie zwar, an sich korrekt, auf die "zivilisatorische Errungenschaft" der kollektiven Sicherheit hin, "trotz aller nicht zu leugnenden Schwierigkeiten". Das wirkt im Kontext aber abwiegelnd, wo die Denkschrift eigentlich darauf hinweisen müsste, dass mit ihrer ethischen Neuausrichtung ältere Probleme nun auch auf der Theorieebene wieder zurückkommen.

Wahrhaftigkeit in der Diskussion

Eine längere Diskussion würde weitere wichtige Themen aus der Denkschrift besprechen. Ich halte sie für eine sinnvolle Fortführung einer notwendigen Debatte. Obwohl ich bestimmte Punkte kritisch sehe, stimme ich mit dem Ansatz überein, in einer gewandelten Situation militärische Maßnahmen stärker zu betonen, als es die Denkschrift 2007 tat. Als Ausblick möchte ich jedoch noch ein weiteres Problem der Denkschrift darstellen.

Im UN-Sicherheitsrat blockieren einzelne Großmächte immer wieder aus Eigeninteresse die Prozeduren der internationalen kollektiven Sicherheit. Außerdem spricht die Denkschrift kurz den Internationalen Strafgerichtshof an als eine Instanz, die die Stärke des Rechts zur Geltung bringen kann und die daher die Unterstützung der Kirchen verdient. Dann ist es aber inkonsequent, dass die Denkschrift an ein oder zwei wichtigen Stellen das Bemühen um eine möglichst objektive Einschätzung internationaler Konflikte aufgibt – nicht aus Eigeninteresse, aber aus einer fragwürdigen Form der Parteilichkeit.

Besonders im Vorwort zur Denkschrift fällt auf, wie die Ratsvorsitzende, Bischöfin Kirsten Fehrs, die aktuellen Konflikte eigenartig selektiv benennt, die eine Neuausrichtung der evangelischen Friedensethik begründen können. Dort spricht sie von dem "völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine," der nun "ins vierte Jahr geht," und von dem "Terrorakt der Hamas gegen Israel am 7. Oktober 2023". Recht hat sie, die genozidalen Verbrechen hier ausdrücklich zu nennen. Im Gegensatz zu ihrer bisher präzisen Sprache heißt es dann aber schwammig: Seither "verschärft sich die Situation im Nahen Osten immer weiter – mit grausamen humanitären Folgen". Und dann wird die Aufmerksamkeit der Leserinnen und Leser zügig in die Subsahara-Region Afrikas bugsiert.

Zwischen Präzision und Schwammigkeit

Was hat es mit den vagen "grausamen humanitären Folgen" in der Region namens "Naher Osten" auf sich? Im Alltag haben viele Menschen Schwierigkeiten, eine kompliziertere Form eines Konflikts anzuerkennen, in dem eine Seite zwar ein unentschuldbares Verbrechen erlitten hat, in dem dann aber ein plakativer Kontrast zwischen einem guten und einem bösen Lager verschwimmt. Nach dem 7. Oktober hat nicht nur die Hamas im Laufe von fast eineinhalb Jahren viele neue Verbrechen begangen. Zahlreiche israelische Kriegsverbrechen gegen die palästinensische Zivilbevölkerung des Gazastreifens sind breit belegt. Schon die EKD-Synode 2024  klagte zwar zurecht die Hamas an und identifizierte sich mit den Geiseln. Als es aber um das "unermessliche Leiden der Zivilbevölkerung" ging, nannte sie nicht gleichermaßen Ross und Reiter – fast so, als ob es dort um Naturkatastrophen gehe. Die Denkschrift selbst nennt ebenfalls die Hamas-Attacke und Russlands Angriff, um daraufhin aber unvermittelt, unspezifisch und obskur im unpersönlichen Passiv zu schreiben: "Der Gazastreifen ist durch den Krieg [geführt durch wen?] in weiten Teilen unbewohnbar geworden – mit katastrophalen humanitären Folgen."

Dieser Kontrast zwischen Präzision und Schwammigkeit ist fehl am Platz, zumal wenn es darum geht, gewaltsame Konflikte möglichst objektiv darzustellen und ethisch zu bewerten. Wer meint, Militäroperationen können ethisch vertretbar sein – was ich auch denke –, darf den Verdacht auf Kriegsverbrechen auf keinen Fall verwischen! Vielleicht gab es hier Auseinandersetzungen in der Kommission. Dann wäre es aber passender gewesen – und vermutlich auch evangelischer – den Dissens offen zu benennen.

Mehrfach hebt die Denkschrift allgemein die Rolle des Internationalen Strafgerichtshofs hervor, nicht aber die des Internationalen Gerichtshofs, vor dem ein Verfahren gegen Israel wegen des Verdachts auf Genozid anhängig ist. An anderen Verfahren an diesem Gerichtshof war auch der prominente Jurist Philippe Sands  beteiligt, der meint: Die Problematik des Genozid-Vorwurfs an Israel bestehe besonders darin, dass eine derart moralisch aufgeladene Anklage ablenkt von israelischen Kriegsverbrechen und von möglichen israelischen Menschheitsverbrechen gegen die Palästinenser im Gazastreifen. Aus juristischer Sicht könnten die in etwa so schlimm sein wie ein möglicher Genozid.

Zurecht spricht die Denkschrift von der "besonderen Verantwortung Deutschlands gegenüber Israel". Verharmlosend um wahrscheinliche israelische Kriegsverbrechen herumzureden, wird dieser Verantwortung aber nicht gerecht, besonders dann, wenn man Parteilichkeit in anderen sicherheitspolitischen Prozeduren beklagt.