Die wissenschaftliche Aufarbeitung sexualisierter Gewalt in der verbandlichen Jugendarbeit hat im Evangelischen Kirchenkreis Bielefeld begonnen. Untersucht werden speziell Vorgänge in der "Nachbarschaft 06" in der Dietrich-Bonhoeffer-Kirchengemeinde zwischen 2000 und 2021, wie das Berliner Forschungsinstitut Dissens am Montag in Bielefeld mitteilte. Auslöser war der vor vier Jahren bekannt gewordene Fall eines Jugenddiakons, der im Juni wegen sexuellen Missbrauchs von Schutzbefohlenen in sieben Fällen zu 23 Monaten Haft auf Bewährung und einer Geldstrafe verurteilt wurde.
Mit der Studie solle ein Beitrag zur Anerkennung des Leids der Betroffenen geleistet werden, erklärten Malte Täubrich und Johanna Hess vom Dissens-Institut. Man wolle Wissen über Ausmaß, Art und Häufigkeit der Vorfälle erlangen, Tatkonstellationen sowie die Folgen für die Opfer der sexualisierten Gewalt analysieren. Zudem gehe es darum, welche Strukturen die Gewalt begünstigt und erleichtert hätten.
Bisherige Gespräche mit Betroffenen zeigten, dass es wahrscheinlich mehr als die bisher bekannten Fälle gegeben habe, betonte Täubrich. Untersucht wird laut der Wissenschaftlerin Hess auch, ob möglicherweise mehr als nur ein Täter gehandelt hat. Während bei dem Strafprozess gegen den Diakon nur der Tatzeitraum von 2005 bis 2011 betrachtet worden sei, nehme die Studie die gesamte Beschäftigungszeit des Mannes in der Gemeinde von 2000 bis 2021 in den Blick.
Wissenschaftler bitten Betroffene um Mitwirkung
Neben der Auswertung von Akten des Kirchenkreises und von Medienberichten stehen nach Angaben des Instituts problemzentrierte Interviews im Mittelpunkt der Studie. Hess und Täubrich riefen sowohl Betroffene aus der verbandlichen Jugendarbeit, (ehemalige) Mitglieder der Bonhoeffer-Gemeinde, Zeitzeugen, Eltern sowie in dem fraglichen Zeitraum tätige haupt- und ehrenamtliche Mitarbeitende von Gemeinde und Kirchenkreis auf, sich zu melden. Auch frühere und aktuelle "Schlüsselpersonen" aus den kirchlichen Strukturen wolle man befragen. Namen der Befragten würden auf keinen Fall gegen deren Willen veröffentlicht, sicherte das Institut zu.
Die Studie soll laut den Wissenschaftlern bis Juni 2027 laufen und anschließend veröffentlicht werden. Auf Basis der Erkenntnisse wollen die Forscher abschließend Empfehlungen zur Prävention von sexualisierter Gewalt und zum Abbau von Machtstrukturen formulieren. Täubrich betonte, das Institut sei bei der vom Kirchenkreis veranlassten Studie völlig frei, "mit wem wir sprechen, was wir fragen, wie wir auswerten und publizieren". In einer Begleitgruppe sind demnach Gemeinde und Kirchenkreis, Betroffenenvertreter und weitere Expertinnen und Experten vertreten.
Der Bielefelder Superintendent Christian Bald betonte zum Start der Studie, der Kirchenkreis wolle "aus den Erfahrungen lernen, Schwächen unserer Organisationsstruktur erkennen, Risiken identifizieren und weitestgehend minimieren". Die Pfarrerin der Bonhoeffer-Gemeinde, Nora Göbel, erklärte, es sei wichtig, dass alle, die Übergriffe erlebt hätten, Unterstützungsangebote bekämen. Betroffenenvertreter äußerten die Erwartung, dass die Kirche die Unabhängigkeit der wissenschaftlichen Arbeit achte und alle relevanten Informationen und Dokumente dafür zur Verfügung stelle.
Betroffene und Zeitzeugen können sich mit einer kurzen Mail melden bei johanna.hess@dissens.de oder malte.taeubrich@dissens.de. Die Forscher melden sich dann zurück.



