So vielfältig war jüdischer Widerstand

Schwarz-weiß Foto zeigt: Gruppe von Juden wird im Mai 1943 mit erhobenen Händen von Einheiten der Waffen-SS nach dem Aufstand im Warschauer Ghetto zur Deportation abgeführt.
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Gefangene Juden nach dem Aufstand im Warschauer Ghetto im Mai 1943.
Geschichte des Holocaust
So vielfältig war jüdischer Widerstand
Es steht bis heute noch in vielen Schul- und Geschichtsbüchern: 1933 übernahmen die Nazis die Macht in Deutschland und begannen mit der Judenverfolgung und schließlich -vernichtung. 6 Millionen Juden starben im Holocaust. Dass Jüdinnen und Juden sich aber nicht einfach willenlos abtransportieren ließen, sondern Widerstand leisteten, wird in der Öffentlichkeit erst allmählich aufgedeckt.

Am bekanntesten ist bis heute der Aufstand im Ghetto Warschau, der Mitte April 1943 begann. Mit einfachsten Mitteln kämpften Jüdinnen und Juden gegen die deutsche Übermacht.

Der Aufstand endete im Mai 1943 mit der vollständigen Zerstörung des Warschauer Ghettos. Dabei wurden 60.000 Juden getötet. Lange Zeit galt dieser Aufstand als ein singuläres Ereignis jüdischen Widerstands.

Da der jüdische Widerstand in der deutschen Öffentlichkeit kaum bekannt ist, hat sich das Bild von wehrlosen Jüdinnen und Juden verfestigt, die sich fast wie Lämmer zur Schlachtbank führen ließen. Doch dieses Bild ist falsch. Jüdischen Widerstand habe es in vielfältigen Formen gegeben, belegt Stephan Lehnstaedt, Professor für Holocaust-Studien und Jüdische Studien in Berlin, in seinem jüngsten Buch. Nur müsse vieles noch erforscht werden. 

"Wir haben das grundsätzliche Problem, dass vieles auch deswegen nicht bekannt ist, weil die Juden alle ermordet wurden, weil Dokumente vernichtet wurden, weil uns niemand darüber etwas erzählt hat", sagt Lehnstaedt.

 

Auch habe in den 1960er Jahren die Philosophin und Publizistin Hannah Ahrendt mit ihrem Bild von der Totalität des Bösen und der vermeintlichen jüdischen Passivität die öffentliche Wahrnehmung geprägt. Erst heute aber ergebe sich ein differenzierteres Bild. "Diese Jüdinnen und Juden waren nicht passiv. Sie waren vielleicht überfordert, weil der Holocaust eben präzedenzlos war. So etwas hatte es vorher nicht gegeben. Aber das heißt nicht, dass sie passiv waren. Sie haben die ganze Zeit gehandelt", so Lehnstaedt weiter.

Ausharren oder Widerstand leisten?

Mit der zunehmenden Unterdrückung und Ausgrenzung durch die deutschen Nazis setzte auch unter Juden die Diskussion ein, wie man reagieren sollte. Schließlich kannte man vor allem in Osteuropa das immer wieder Aufflammen von Pogromen. Sollte man aushalten, denn es werde doch nicht wieder so schlimm kommen? Oder aber aktiv Widerstand leisten?

"Dann veröffentlicht Abba Kovner im Ghetto Wilna, einer der Vordenker des jüdischen Widerstands, ein einflussreicher Intellektueller, eine Druckschrift, in der er sagt: Wir lassen uns nicht wie die Lämmer zur Schlachtbank führen.", erklärt Holocaustforscher Lehnstaedt.

Es war ein Aufruf, der besonders in zionistischen Organisationen auf fruchtbaren Boden fiel. Gerade die sozialistisch geprägten Jugendlichen nahmen als erste die Waffe in die Hand, flohen raus aus den Ghettos hin zu den Partisanen in die Wälder. Oder sie gründeten eigene jüdische Partisanengruppen. Ein Phänomen vor allem in den osteuropäischen Ländern. Abba Kovner selbst etwa kämpfte als Kommandeur der "Fareinikte Partisaner Organisatzije" rund um Wilna gegen die Deutschen.

Historische Vorbilder

Im Westen Europas schlossen sich Jüdinnen und Juden eher dem nationalen Widerstand an, etwa der Resistance, weil sie sich zuerst als Franzosen fühlten und auch so wahrgenommen wurden.

Dabei war lange Zeit die Totalität der anstehenden Vernichtung gar nicht klar. Schließlich brauchten die Deutschen Arbeitskräfte, etwa in der Rüstungsindustrie. Der Holocaust sei somit irrational gewesen, sagt Stephan Lehnstaedt: "1940 wissen die Deutschen auch noch nicht, dass sie alle Juden umbringen wollen. Selbst 1942, als die Vernichtung auf Hochtouren läuft, sagen Jüdinnen und Juden, die einen Arbeitsplatz haben: Deportiert werden nur die, die nicht arbeiten. Was soll mir schon passieren?" 

Widerstand war aber nicht nur eine Angelegenheit der linken zionistischen Bewegungen. Es gab auch bei den konservativ und orthodox geprägten Juden so etwas wie einen religiös motivierten Widerstand. Die Verteidigung der Wüstenfestung Massada oder der spätere Bar Kochba-Aufstand gegen die römische Übermacht waren dabei historische Vorbilder jüdischen Widerstands, an denen sich alle orientieren konnten.

Amidah - Widerstand im Kleinen wie im Großen

Im Angesicht des Hungers versuchten etwa religiös observante Juden, koscher zu essen. Bei einer Deportation versuchten sie, ihre Tefillin mitzunehmen oder gar eine Thorarolle zu retten. Sie versuchten, in Ghettos oder sogar in Konzentrationslagern weiter ihre Riten zu pflegen. Das war eine Form von Selbstbehauptung.

Jüdischer Widerstand drückte sich auch darin aus, dass heimlich Beweise und Dokumente der Unterdrückung gesammelt und aufbewahrt wurden. So schrieben im Ghetto Warschau die Archivare rund um Emanuel Ringelblum auf, was dort vor sich ging. Es waren wichtige Informationen, die geheim an die polnische Exilregierung in London weitergeleitet wurden.

"Die Idee des Dokumentierens hat für mich Widerstandscharakter, weil es sich gegen die deutschen Verbrechen richtet. Ich möchte damit eine Aufmerksamkeit erzeugen, ich möchte Beweise sammeln, die Alliierten informieren, auch um Täter später zur Rechenschaft ziehen zu können", sagt Lehnstaedt.

Was bis heute auch kaum Beachtung fand, ist die Rolle der Frauen im jüdischen Widerstand. Es ging etwa um Kurierfahrten oder das Schmuggeln von Waffen.
"Es gibt Dinge im Widerstand, die Frauen besser tun können als Männer. Warum? Weil Frauen nicht beschnitten sind. Wenn sie erwischt werden, fallen sie nicht so auf", erklärt Lehnstaedt.

Erst allmählich werde auch in Deutschland begriffen, dass jüdischer Widerstand mehr war als der Kampf mit der Waffe. Ende der 1960er-Jahre wurde dafür schon von Israel aus der Begriff der "Amidah" entwickelt, was so viel wie "Beharren" bedeutet, erläutert der Berliner Holocaustforscher:
"Unter Amidah kann auch eine Theaterveranstaltung im Ghetto fallen. Unter Amidah kann fallen: Wir organisieren Suppenküchen, damit die Leute nicht verhungern. Unter Amdiah kann sogar das Organisieren von Gottesdiensten unter Bedingungen des Ghettos beispielsweise fallen."

Von daher müsse auch in Deutschland die Geschichte des jüdischen Widerstands während der NS-Zeit neu bewertet werden. Das neue Buch von Stephan Lehnstaedt ist da ein wichtiger Schritt.

Stephan Lehnstaedt, Der vergessene Widerstand, Jüdinnen und Juden im Kampf gegen den Holocaust, C.H. Beck, 383 Seiten, 28,00 €