An der Endstation: Feuerlilien

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Spiritus Blog mit Birgit Mattausch
Geistvoll in die Woche
An der Endstation: Feuerlilien
Mit Grüßen aus Wien

Man fährt mit der U3 Richtung Simmering, steigt am Enkplatz aus, nimmt dann den Bus 76A bis zur Endstation. Von dort folgt man einem verblassten Schild, geht vorbei an Lagerhallen, Getreidesilos und über Wiesen, findet einen Trampelpfad und ist dann an dem anrührendsten Ort, den Wien (die ja ohnehin schönste Stadt der Welt) zu bieten hat: der Friedhof der Namenlosen.

Der kleine Friedhof liegt nahe der Donau. An einer Stelle, an der bis Ende der 1930er Jahre Hunderte von Ertrunkenen angeschwemmt wurden, die meisten hatten sich suizidiert. An diesem Ort wurden sie beerdigt. Die örtliche Tischlerei machte die Särge.

Ein Mann begrub diese Toten und pflegte ihre Gräber. Sein Name: Josef Fuchs. Seinetwegen steht nicht auf allen Namensschildern der einheitlichen schmiedeeisernen Grabkreuze „Namenlos“. Es gelang ihm, fast alle der von ihm begrabenen Toten zu identifizieren. Auf dem Friedhof der Namenlosen haben sie wieder Namen, einen Todestag und oft auch einen Geburtstag.
Bis zu seinem Tod im hohen Alter in den 1990er Jahren sorgte Josef Fuchs für diesen Ort, für diese Toten - und auf seine Weise für die Würde aller Menschen. Heute tun das seine Nachkommen.

Auf den Gräbern wachsen in diesem Sommer Feuerlilien. An jedem Grabkreuz hängt ein Glaskristall, in dem sich das Licht fängt. Auf den Kindergräbern sitzen vom Regen struppig gewordene Plüschtiere. 
An der Friedhofskapelle aus Beton gibt es (wie könnte es anders sein in Österreich) eine Gedenktafel für Josef Fuchs, „Inhaber des goldenen Verdienstzeichens des Landes Wien“.

An einem großen Kreuz hängt eine Tafel mit einem Gedicht:

Wenn Ruh´ und Frieden Jhr gesucht
Jhr arggequälten Herzen
Fern von der Welt, die euch nun sucht
Hier giebt es keine Schmerzen.

Fehlt auch moderner Gräbertand
Nennt Euch kein Kreuz mit Namen
Jhr ruhet hier in Gottes Hand
In seinem Frieden. Amen.

Und kommt es einst zum Wiederseh`n
Geniesst die Ruh indessen.
Der einstens ruft das „Aufersteh`n“
Wird Eurer nicht vergessen.

 

Eine Woche, nachdem ich auf der Bank am Rand des Friedhofs der Namenlosen saß, nachdem ich zwischen den Gräbern herumging, Fotos machte und meinen Dank für Josef Fuchs in den Himmel über den Bäumen, Gräbern und Getreidesilos schickte - eine Woche danach lese ich die nächste Studie zu sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche.

Der 2011 gestorbene Täter war ein Mann, der gern auf Bühnen stand, an Lesepulten und in voll gefüllten Missionszelten. Seine Stimme wurde auf Kassette und Schallplatte aufgenommen. Wäre er heute jung, er hätte wohl einen erfolgreichen Youtube-Kanal, ein Manosphere-Buch in der Spiegel-Bestsellerliste und wäre ein gern gesehener Gast in religiösen Podcasts. Viele haben diesen Täter geliebt, manche tun es noch heute. Einige sind auch durch ihn in hohe kirchliche Positionen gelangt. Und viele, auch Kinder und Jugendliche, wurden von ihm benutzt, missbraucht, manipuliert, sexuell ausgebeutet, mussten ihr durch ihn beschädigtes Leben mühsamst wieder zusammensetzen. Wie tief die Spuren sind, die seine Worte und seine Taten in meiner Kirche hinterlassen haben, das kann ich nur erahnen. Am nächsten Morgen schreiben mir zwei Frauen von dem, was sie an Heilungsarbeit bis heute leisten - an sich und an anderen.  

Und ich wünschte, meine ganze Kirche nähme die U3 Richtung Simmering und den Bus 76A bis zur Endstation. Ich wünschte, wir stünden alle auf dem kleinen Rasenstück mit Blick auf die Feuerlilien, die Bäume, die Gräber. Und wir würden einander versprechen, mehr wie Josef Fuchs zu sein. Wir würden versprechen, nicht die zu ehren, die die höchsten Ämter oder die eindringlichste Predigtgabe oder den größten Ehrgeiz haben, sondern die, die an all ihren Orten für die Würde aller Menschen sorgen - auch gegen Widerstand. Und für dieses eine Mal wäre es nicht ein sorgsam vorbereiteter Pressemeldungstext, nicht ein bei der nächsten Studie schon wieder gebrochenes Versprechen. Es gebe keine übergroßen Worte, gefolgt von den immer gleichen Fehlern.

Für dieses Mal meinten wir es wirklich ernst.

 

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