"Minuten später wäre ich tot gewesen"

Der ICE 884 "Wilhelm Conrad Röntgen" entgleiste
© © epd-bild / Stefan Arend
Bei dem Zugunglück am 3. Juni 1998 waren nach der Entgleisung eines ICE-Zuges im niedersächsischen Eschede bei Celle fast 100 Menschen getötet worden.
25 Jahre nach Zugunglück Eschede
"Minuten später wäre ich tot gewesen"
Am 3. Juni 1998 stieg Udo Bauch in den ICE "Wilhelm Conrad Röntgen", da war er 30 Jahre alt und kerngesund. Als der Zug in Eschede entgleiste, konnte Bauch gerettet werden. Doch bis heute leidet er an den Folgen seiner Verletzungen.

Udo Bauch hat die Summe in Tagessätze umgerechnet. Rund 17 Euro Schmerzensgeld hat er in den vergangenen 25 Jahren pro Tag von der Deutschen Bahn bekommen. "Genauer: 16,80 Euro", sagt er im Wohnzimmer seines Hauses im hessischen Eichenzell bei Fulda. Insgesamt rund 153.000 Euro. "Ein Witz" sei das, fügt er an, mit Blick auf die Schmerzen, unter denen er seit dem schwersten Zugunglück in der deutschen Nachkriegsgeschichte bis heute leide.

Am 3. Juni 1998 entgleiste der ICE 884 "Wilhelm Conrad Röntgen" im niedersächsischen Eschede bei Celle. Seitdem ist Udo Bauch linksseitig teilweise gelähmt. Das Bein zieht der 55-Jährige nach, die Hand kann er nur eingeschränkt bewegen. 101 Menschen kamen bei der Katastrophe ums Leben. 105 wurden verletzt. Udo Bauch lag über Monate im künstlichen Koma, mit schwerer Hirnblutung, Knochenbrüchen, gerissener Milz und weiteren Verletzungen.

Seine Rettung kam im letzten Moment, wie er heute sagt: "Minuten später wäre ich gestorben." Sorgsam hat er Dokumente und Zeitungsartikel zu Eschede abgeheftet. Prall gefüllt liegt der Ordner vor ihm auf dem Tisch. Zum Jahrestag hat Bauch bereits sein zweites Buch über das Zugunglück im Selbstverlag veröffentlicht. "Von Herzen und mit viel Emotionen", wie er im Vorwort schreibt. Es ist ihm wichtig, dass nicht in Vergessenheit gerät, was aus seiner Sicht vermeidbar gewesen wäre. Für ihn teilt sich das Leben in ein "Davor" und ein "Danach".

Udo Bauch errichtete eine kleine Kapelle auf seinem Grundstück im hessischen Eichenzell - zum Dank dafür, dass er das schwerste Zugunglück in der deutschen Nachkriegsgeschichte überlebt am 3. Juni 1998 in Eschede hat.

Am 3. Juni 1998 brachte ihn seine Frau zum Bahnhof nach Fulda. Der Regionalleiter einer Mineralölgesellschaft wollte zu einer Tagung nach Hamburg reisen. Er war 30 Jahre alt, hatte zwei kleine Kinder, sah sich auf der Karriereleiter. "Und dann sollte alles anders ausgehen."

Nahtod-Erfahrung vor Rettung

Bei einem Tempo von 200 Kilometern pro Stunde brach ein Radreifen des ICE. Der Zug entgleiste. Ein Wagen riss den Pfeiler einer Brücke weg. Die nachfolgenden Waggons schoben sich ineinander. Udo Bauch saß in Wagen 11 - allein im Abteil. Er hörte einen mörderisch lauten Knall. "Es war wie im Krieg", so beschreibt er es. "Es ist alles auf mich eingestürzt." Flehend habe er um Hilfe gerufen, sein Leben, Kindheit, Jugendzeit seien in einer Nahtod-Erfahrung an ihm vorübergezogen.

Der Polizist Andreas Effinghaus, der als erster seine Stimme hörte, wurde später sein Freund. Doch erst bei der Gedenkfeier vor fünf Jahren erfuhr Bauch, wer ihn aus dem Waggon befreite und unter welch dramatischen Umständen das geschah: Der Berufsfeuerwehrmann Friedemann Schuster war am Tag des Zugunglücks zu einem Lehrgang in Celle. Noch kurz zuvor hatte ein Kollege das Beil geschärft, das Schuster bei sich hatte, so hat dieser es später Udo Bauch geschildert.

Um ihn aus dem Waggon zu schaffen, musste der Feuerwehrmann sich mit dem Beil durch das Sicherheitsglas der Fenster hacken "wie ein Specht". Nur weil das Werkzeug so scharf gewesen sei, sei es Schuster gelungen, überhaupt zu ihm zu gelangen, erzählt der Gerettete. Als eine Folge aus den Ereignissen von Eschede wurden später deutlich mehr Notausstiegsfenster mit Sollbruchstellen in die Züge eingebaut.

Wichtig wäre für ihn gewesen, dass die Bahn-Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen worden wären, sagt Udo Bauch. Mit seinem Schicksal hadere er nicht, aber die Frage der Schuld habe ihn nicht losgelassen. Die Bahn habe grob fahrlässig gehandelt, weil sie den Zug mit einem abgefahrenen Radreifen auf die Reise geschickt habe. Der Strafprozess gegen drei Ingenieure wurde im April 2003 nach langem juristischen Tauziehen gegen eine Geldstrafe von 30.000 Euro eingestellt.

Die Angst bleibt

Die Begegnung mit Friedemann Schuster hat Udo Bauch geholfen, für sich selbst die Ereignisse von damals besser zu sortieren. Neben den körperlichen Einschränkungen reagierte später seine Psyche. Ängste sind seitdem seine Begleiter geblieben, wie er sagt. Aber er sei dankbar, dass ihm ein zweites Leben geschenkt worden sei, unterstreicht Bauch.

In seinem Einfamilienhaus hängen die Wände voll mit Schwarzwälder Uhren. "Regulatoren", sagt der aus Villingen-Schwenningen stammende Bauch stolz - eine Erinnerung an seine Heimat und die seiner Frau Monika. Ein Bild zeigt die beiden strahlend Arm in Arm auf einer Kreuzfahrt. Es sei Jahre nach dem Zugunglück aufgenommen worden, erzählt Udo Bauch. "Das sind Momente, in denen man sagt, das Leben ist doch schön." Neben vier Kindern, von denen zwei nach der ICE-Katastrophe geboren sind, hat das Paar inzwischen zwei Enkel.

Überleben ist Fügung Gottes

"Für mich ist das eine Fügung Gottes, ein großer Segen, dass ich dieses Unglück überleben durfte", sagt Udo Bauch. Im Garten hat der gläubige Katholik sogar eine kleine Kapelle bauen lassen, zum Dank für seine Rettung. Als Behinderten-Beauftragter seiner Gemeinde engagiert er sich ehrenamtlich. Arbeiten konnte er nicht mehr, auch wenn er zunächst versucht hatte, in seinen Beruf zurückzukehren. Durch seine Verletzungen ist er zu 100 Prozent schwerbehindert.

Udo Bauch will auch diesmal an der Gedenkveranstaltung zum Jahrestag am 3. Juni an der Gedenkstätte in Eschede teilnehmen, vielleicht im Gottesdienst am Vorabend ein Gebet sprechen. Dabei geht es ihm auch um Menschen, die es noch viel schwerer getroffen hat, wie er sagt: "Es sind Kinder umgekommen. Ein damals vierjähriges Kind wäre heute 29. Die Eltern hätten es aufwachsen sehen."