Hilfe und Chaos in Afghanistan

Blick in ein vollgesetztes Transportfligzeug der Bundeswehr
© Bundeswehr/Marc Tessensohn
Evakuierte Personen aus Afghanistan warten in einem A400M auf die Registratur in Taschkent in Usbekistan am 17.08.2021. Die Gesichter wurden zur Sicherheit der abgebildeten Personen unkenntlich gemacht.
Ortskräfte der Bundeswehr
Hilfe und Chaos in Afghanistan
Seit die Taliban an der Macht sind, fürchten ehemalige Helfer der Bundeswehr um ihr Leben. Einige haben es nach Deutschland geschafft, andere berichten aus Kabul, wie ihre Rettung gescheitert ist.  

Als die Fallschirmjäger aus Seedorf Ende August auf dem Fliegerhorst Wunstorf landeten, wurden sie dort von der deutschen Verteidigungsministerin begrüßt. Die Soldatinnen und Soldaten hätten „Unfassbares gesehen und erlebt und Unglaubliches geleistet“, sagte Annegret Kramp-Karrenbauer.

Die Fallschirmjäger waren Teil der größten Evakuierungsmission in der Geschichte der Bundesrepublik. Ein gefährlicher Einsatz, unter großem Zeitdruck geplant und ausgeführt. Innerhalb von elf Tagen hatten Bundeswehrsoldaten rund 5000 Menschen aus Afghanistan ausgeflogen: deutsche Staatsbürger, Journalisten, Mitarbeiter von Hilfsorganisationen. Auch mindestens 110 ehemalige Ortskräfte der Bundeswehr konnten mit ihren Kernfamilien aus Kabul gerettet werden.

Marwa gehört nicht dazu. Einen Tag nach Abzug der US-Truppen am 1. September schickt die 29-Jährige eine Sprachnachricht. „Wir verstecken uns in einem Haus in Kabul. Vor wenigen Tagen mussten wir unseren Unterschlupf wechseln, weil uns jemand erkannt hat“, erzählt sie. Marwa war von 2016 bis 2021 am Bawar Media Center (BMC) in Masar-i-Scharif als Medienanalystin tätig. Im Auftrag der Bundeswehr wertete sie Nachrichten über Operationen und Anschläge der Taliban aus und erstellte Berichte zur Sicherheitslage. Nun befürchtet sie, dass sie und ihre Familie selbst Opfer der Taliban werden.

Am 27.08.2021 kehten die ersten Soldaten der Bundeswehr von ihrer Evakuierungsmission in Afghanistan nach Wunsdorf zurück und wurden von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (Dritte von rechts) begrüßt.

Die Bundeswehr schätzt, dass sich noch 600 ehemalige Ortskräfte und ihre Familien in Afghanistan befinden, insgesamt circa 3000 Personen. Es sind Sprachmittler, Wachleute, Facharbeiter oder Hilfskräfte, ohne die der Einsatz in Afghanistan nicht möglich gewesen wäre. Weil sie für die ausländischen Truppen tätig waren, gelten sie in den Augen der Taliban als „Ungläubige“ und „Spione der Besatzer“.

Verzweifelt im Kabuler Versteck

Auch Fahim versteckt sich vor den neuen Machthabern in Kabul. Er habe mehrere Jahre als IT-Fachmann für das BMC gearbeitet, erzählt er über Whatsapp und schickt Bilder, die ihn gemeinsam mit Bundeswehrsoldaten zeigen. Nun habe er kein Geld mehr und wisse nicht, wie er seine sechs Kinder mit Essen und Wasser versorgen soll. „Die Deutschen haben uns hier alleingelassen“, sagt der 43-Jährige.

Dass Marwa und Fahim noch immer um ihr Leben bangen müssen, hat viel mit dem Chaos am Flughafen in Kabul zu tun, aber auch mit deutscher Bürokratie und mit der zögerlichen Politik der Bundesregierung, die eine frühe Rettung der Ortskräfte verhindert hat.

Soldaten sind am 18.08.2021 am Flughafen Kabul im Einsatz. wo tausende Menschen in der Hoffnung auf einen Evakuierungsflug ins Ausland ausharren.

Als die Bundesregierung am 15. August nach dem Einmarsch der Taliban in Kabul die Evakuierungsmission beschließt, ist klar, dass nur wenige Tage bleiben, Gefährdete auszufliegen. Bis zum 31. August wollen die USA ihre Truppen abziehen. Und auf deren Kräfte, die den militärischen Teil des Flughafens kontrollieren, sind die Nato-Verbündeten angewiesen.

Schüsse und Explosionen

Rund 450 Bundeswehrsoldaten sind im Einsatz: Fallschirmjäger, Soldaten des Kommandos Spezialkräfte, Sanitäter, Feldjäger, Angehörige der Luftwaffe. Brigadegeneral Jens Arlt, Kommandeur der Mission, berichtet am dritten Tag des Einsatzes von dramatischen Szenen am Flughafen. Die größte Herausforderung für die Schutzsuchenden sei es, sich durch die Menschenmassen vor den Zugangstoren zu kämpfen. Dort seien deutsche Soldaten positioniert, um die Ausweisdokumente zu prüfen und berechtigte Personen einzulassen.

Für die Kontrolle an den Gates sind Fallschirmjäger aus Seedorf zuständig. Sie unterstützen die Krisenunterstützungsteams der Bundesregierung, die vor Ort die Evakuierung organisieren. Je rund 60 Soldaten sind sechs Tage am Stück in Kabul und bilden dann die Reserve in Taschkent. Der Einsatz sei sehr fordernd gewesen, erzählt Thomas Bretz-Rieck später. Er ist Militärpfarrer in Seedorf und war im August gemeinsam mit einem Truppenpsychologen für mehrere Tage in Taschkent, um die Soldaten zu betreuen. „Der Druck war enorm. Von draußen hörten die Soldaten Schüsse und Explosionen. Drinnen hatten sie engen Kontakt mit verängstigten und panischen Menschen. Die Soldaten mussten sie medizinisch versorgen, sie durchsuchen, getrennte Familien wieder zusammenführen oder sich um Kinder kümmern, die den Kontakt zu ihren Eltern verloren hatten.“ All das hätten die meist jungen Soldatinnen und Soldaten mit großer Professionalität bewältigt, sagt der Seelsorger. „Sie sind bei diesem Einsatz über sich hinausgewachsen.“

Sinnvoll, aber auch ­belastend

Als Terrorristen des „Islamischen Staats“ am 26. August bei einem Anschlag am Flughafen 183 Menschen töten, darunter 13 US-Soldaten, ziehen gerade die letzten Bundeswehrsoldaten aus Kabul ab. „Das hat die Soldaten natürlich bewegt. Manche kannten vielleicht getötete US-Soldaten. Und es hätte auch sie selbst treffen können“, sagt Bretz-Rieck. Auch das Wissen, nicht allen helfen zu können, sei belastend. „Der Einsatz war unglaublich sinnvoll, weil man mit jeder Stunde Menschenleben gerettet hat. Aber zugleich war klar, dass viele zurückbleiben werden.“

Menschen, die bei den Anschlägen auf den Flughafen von Kabul am 30.08.2021 verletzt wurden, wurden ins Wazir Akbar Khan Krankenhaus gebracht.

Offenbar auch, weil Fehler gemacht wurden. Marwa und Fahim berichten, dass die Bundeswehr sie am 19. August telefonisch informiert habe, für die Ausreise zum Flughafen zu kommen. Marwa machte sich mit ihren beiden Kindern und ihrem Mann auf den Weg. „An diesem Tag war totales Chaos, wir hatten keine Chance reinzukommen“, sagt sie. „Es gab zu viele Menschen und die US-Soldaten haben mit Tränengas geschossen, um uns auseinanderzutreiben. Es war die Hölle.“

Insgesamt fünfmal sei sie in den nächsten Tagen am Flughafen gewesen. Am 25. August sei es ihr schließlich gelungen, mit deutschen Soldaten vor einem der Tore zu sprechen. „Sie haben meine Ausweisdokumente geprüft und gesagt, ich solle vor dem Tor warten, damit uns jemand reinbringt. Doch sobald die Deutschen weg waren, haben uns US-Soldaten mit vorgehaltener Waffe bedroht und vertrieben. Ich war verzweifelt, aber mir blieb nichts anderes übrig, als zurückzugehen.“

Unvollständige Listen

Auch der IT-Fachmann Fahim hatte keinen Erfolg. „Als wir am 19. August zum Flughafen kamen, konnte ich mit deutschen Soldaten sprechen. Aber sie meinten, wir stünden auf keiner Ausreiseliste“, sagt er. Auf dem Rückweg sei er von den Menschenmassen fast erdrückt worden. „Einer meiner Söhne ist hingefallen und ich habe mich auf ihn geworfen, um ihn zu schützen. Er hat sich ein Bein gebrochen und musste ins Krankenhaus.“

Hunderte von Menschen versammelten sich in der Nähe eines Transportflugzeugs der US-Luftwaffe von Typ C-17  auf dem Gelände des internationalen Flughafens in Kabul, stürmten das Rollfeld stürmten und klammerten sich an US-Militärflugzeuge.

Die Schilderungen von Marwa und Fahim decken sich mit Berichten anderer Medien. Ein Sprecher des Einsatzführungskommandos der Bundeswehr spricht von „sehr bedauerlichen Missverständnissen“, die der unübersichtlichen Lage am Flughafen geschuldet seien. Ein Callcenter der Bundeswehr habe Berechtigte kurzfristig per E-Mail oder Telefon informiert, ihre Namen kamen auf die Ausreiselisten des Auswärtigen Amts, die dann an die Verantwortlichen in Kabul weitergeleitet wurden. Die Listen seien ständig erneuert worden und womöglich nicht immer auf dem aktuellsten Stand gewesen.

Hauptmann Marcus Grotian ist seit Wochen mit den Mitarbeitern des BMC in Kontakt. Er ist Vorsitzender des „Patenschaftnetzwerks Afghanische Ortskräfte“. Der Verein engagiert sich für ehemalige Ortskräfte. In den vergangenen Monaten sind Grotian und seine Mitstreiter – meist aktive oder ehemalige Soldaten – zu Fluchthelfern für afghanische Ortskräfte geworden. Bis zum Einmarsch der Taliban hatte der Verein in Kabul drei „Safe-Häuser“ finanziert, also Verstecke, in denen Ortskräfte aus anderen Landesteilen Unterschlupf fanden.

Viel zu lange gezögert

Grotian berichtet von mehr als einem Dutzend Familien, die trotz gültiger Dokumente am Flughafen abgewiesen worden seien. „Das ist nicht die Schuld der Soldaten. Die haben einen guten Job gemacht und die Regeln befolgt.“ Genau diese Regeln aber verhinderten in manchen Fällen, dass mehr Leute gerettet worden seien, sagt Grotian. „Eine Familie konnte nur aus dem Grund nicht ausreisen, weil ein Visum für ein Kind fehlte, das erst im Juli geboren worden war.“

Die Bundesregierung habe viel zu lange gezögert, unbürokratisch zu helfen, sagt Grotian. Bereits im Frühjahr kritisierte er, dass zunächst nur Ortskräfte aufgenommen werden sollten, die in den vergangenen zwei Jahren für die Bundeswehr tätig waren. Und dass Personen, die für Subunternehmen tätig waren, grundsätzlich abgelehnt wurden. Dabei machten die Taliban keinen Unterschied, ob Ortskräfte mit der Bundeswehr oder mit einem Dienstleister einen Vertrag hatten.

Die strikte Regelung traf auch Mawar und Fahim. Bis Ende 2016 waren beide direkt bei der Bundeswehr angestellt, danach wurde das BMC offiziell als eigenständiges Unternehmen geführt. Ihr Antrag auf Aufnahme in Deutschland, den beide bereits im Mai gestellt hatten, wurde deshalb abgelehnt. Erst mit Beginn der Evakuierungsmission im August kündigte das Verteidigungsministerium an, die rund 70 Mitarbeiter des BMC doch einreisen zu lassen.

Endlich in Sicherheit

Dass frühere Zusagen geholfen hätten, zeigt das Beispiel von Asim. Er spricht gut Englisch und hat als Sprachmittler fast 14 Jahre für die Bundeswehr in Faisabad und Masar-i-Scharif gearbeitet. Und er gehört zu den knapp 500 Ortskräften, die bereits im Frühjahr ein Visum für Deutschland erhielten. Seit Mitte Juli wohnt Asim mit seiner Familie in einer Flüchtlingsunterkunft in der Nähe von Frankfurt. „Ich bin den Deutschen dankbar, in Sicherheit zu sein“, sagt er bei einem Treffen.

Asim hat sein altes Leben aufgegeben. Er hat sein Haus in Masar-i-Scharif verkauft und mit seinen Ersparnissen die Ausreise nach Deutschland bezahlt. Nun will er schnell Deutsch lernen und eine Arbeit finden, um nicht von der Sozialhilfe leben zu müssen. Seine vier Kinder werden in die Schule und in den Kindergarten gehen. Sorgen macht sich der 38-Jährige um seine Angehörigen in Afghanistan. „Ich spreche jeden Tag mit ihnen. Für die Männer hat sich nicht so viel geändert, sie ziehen traditionelle Kleidung an und gehen arbeiten. Aber meine zwei unverheirateten Schwestern haben Angst, nach draußen zu gehen“, erzählt er.

Kämpfer der Taliban stehen nach dem Abzug der USA vor dem internationalen Flughafen Hamid Karzai in Kabul.

Um die verbliebenen Ortskräfte aus Afghanistan zu retten, ist die Bundesregierung auf Verhandlungen mit den Taliban angewiesen. Bis sich neue Fluchtwege auftun, müssen Mawar und Fahim weiter in ihren Verstecken ausharren. Wie lange sie dort sicher sind, wissen sie nicht. In einem Brief an Bundeskanzlerin Angela Merkel schildern sie am 6. September ihre Lage. „Sobald die Taliban sich geordnet haben, werden sie uns jagen“, heißt es darin.

evangelisch.de dankt dem JS-Magazin für die Kooperation und die Genehmigung für die Vorabveröffentlichung dieses Artikels von Sebastian Drescher.