"Homosexuelle auszuschließen ist evangeliumsfeindlich"

Frauenpaar auf einer Bank
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"Homosexuelle auszuschließen ist evangeliumsfeindlich"
Was sagt die Bibel zu Homosexualität? Ein Interview mit Pastor Nils Christiansen
In der Debatte um die "Homo-Ehe" haben gleichgeschlechtliche liebende Christen es oft besonders schwer. Sie werden mit biblisch begründeter Homophobie konfrontiert. Pastor Nils Christiansen aus Hamburg sagt, es sei nicht evangeliumsgemäß, Homosexuelle aus der christlichen Gemeinschaft auszuschließen. Er hat theologische Argumente gesammelt.

Sie bieten "Biblisches Training gegen Homophobie" an. Für wen und warum?

Nils Christiansen: Ich biete es in erster Linie für Menschen an, die verunsichert werden durch biblizistische Christen, hauptsächlich für Schwule und Lesben, Transgender und Bisexuelle selber, um sie zu stärken, damit sie auf professionelle und theologische saubere Weise etwas entgegnen können.

Was steckt Ihrer Meinung nach hinter einer homophoben Haltung bei Christen?

Christiansen: Homophobe Haltungen – das wird auch gerade in Frankreich deutlich – entstehen bei vielen Menschen aus einer grundsätzlichen Veränderungsangst. Unsere modernen nordwestlichen Gesellschaften sind ja innerhalb der letzten 150 -200 Jahre von dramatischen Veränderungen gekennzeichnet, und manche Menschen können das nicht angstfrei nachvollziehen, sondern sie entwickeln eine innere Angst davor und versuchen an den Kriterien von bürgerlichem Leben festzuhalten, wie sie sie gelernt haben. Dabei übersehen sie, dass die Lebensverhältnisse von Menschen und die politischen und gesellschaftlichen Verhältnisse sich fortlaufend weiter verändern.

Es steckt aber auch viel Unwissenheit dahinter. Manche Christen – übrigens auch ausgebildete Theologen, auch Geistliche, auch kirchenleitende Persönlichkeiten – wissen oft nicht die historisch-kritische Exegese-Methode anzuwenden auf die entsprechenden wenigen Bibelstellen, um die es in diesem Zusammenhang geht, obwohl sie studiert haben. Und viele Theologen vergessen meiner Bewertung nach das grundsätzliche Auslegungskriterium, das Martin Luther aufgestellt hat.

Welches Kriterium ist das und wie wird es angewandt?

Christiansen: Martin Luther hat gesagt, dass jedes einzelne Wort der gesamten Bibel darauf hin überprüft werden müsse, ob es "Christum treibet", also ob es den Kern des Christlichen vorantreibt und lebendig macht oder behindert. Das ist ein sehr scharfes Auslegekriterium. Etliche Theologen, Geistliche und kirchenleitende Personen vergessen meiner Ansicht nach seine Bedeutung und tun so, als ob auch heute im 21. Jahrhundert noch die wortwörtliche Auslegung biblischer Schriften die gläubigste oder frömmste Auslegungsmethode sei. Das ist aber ein schweres Missverständnis.

"Aufgabe einer christlichen Kirche und ihrer Theologie ist immer, den Kernbestand des Christlichen herauszuarbeiten"

Die wesentlichen Bibelstellen sind 3. Mose 18,22 und Römer 1,26-27. Würden Sie also sagen: Diese Stellen können wir in Klammern setzen, sie "gelten" nicht mehr?

Christiansen: Ja, natürlich. Das tun wir ja bei unzähligen anderen Bibelstellen auch. Im 3. Buch Mose – im so genannten Heiligkeitsgesetz des jüdischen Glaubens – stehen unzählige Regeln, die wir heute aus christlicher Perspektive überhaupt nicht mehr befolgen. Da steht zum Beispiel, dass Kinder, die ihren Eltern widersprechen, gesteinigt werden müssen. Im Neuen Testament schreibt Paulus: "Das Weib schweige in der Gemeinde." Die biblischen Schriften widersprechen sich an vielen Stellen inhaltlich.

Die Aufgabe einer christlichen Kirche und ihrer Theologie ist immer, den Kernbestand des Christlichen herauszuarbeiten und auf die jeweils gegenwärtige gesellschaftliche Situation zu beziehen. Natürlich sagen wir heute nicht: Kinder, die ihren Eltern widersprechen, müssen gesteinigt werden, genauso wenig, wie wir sagen, dass Frauen die Klappe zu halten haben im Gemeindeleben, weil Paulus an einer anderen Stelle widersprüchlicherweise sagt: "Hier ist nicht Mann noch Frau, hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, sondern wir sind alle eins in Christus." Das halte ich für einen Kernbestand einer christlichen Haltung.

Das wäre also so eine Stelle, die "Christum treibet"?

Christiansen: Meiner Auffassung nach ja. Oder das andere Bild des Paulus, das ich auch für zentral christlich halte, im 1. Korintherbrief im 12. Kapitel, wo er das Bild von dem Körper mit den verschiedenen Gliedern entwirft. Da sagt Paulus: Körperteile sind vielleicht unterschiedlich wichtig in der landläufigen Bewertung – also ein Haar wird nicht für so wichtig erachtet wie das Herz oder die Nieren – und drückt damit aus: Eine Menschengemeinschaft ist dann christlich, wenn alle Teile, ob als wichtig oder unwichtig angesehen, sich als gleichwertig erachten, sich gegenseitig die gleiche Würde und Wichtigkeit geben als Ebenbilder Gottes. Das ist meiner Ansicht nach ein Kern dessen, was wir christlich nennen.

Wenn er aber sagt: Frauen sollen die Klappe halten in der Gemeinde, widerspricht er sich meiner Auffassung nach selber, und nach Luthers Kriterium müssen wir sagen: Der eine Satz von Paulus ist wirklich christlich und treibt Christus voran, der andere Satz behindert das Christliche. Und so bewerte ich – und viele andere Theologinnen und Theologen – auch diese Stellen, die schwules und lesbisches Leben, das es damals in der heutigen Form ja gar nicht gegeben hat, herabwürdigen. Das hat mit einer christlichen Grundhaltung gar nichts zu tun, sondern diese Stellen haben damit zu tun, wie Menschen damals üblicherweise mit diesem Phänomen einer Homosexualität umgingen.

"Jesus von Nazareth ist ausgesprochen familienkritisch gewesen"

Oft wird auch ein Vers aus der Schöpfungsgeschichte angeführt: "Und er schuf sie als Mann und Frau…", deswegen müssten alle Leute als Mann und Frau zusammenleben. Wie argumentieren Sie da?

Christiansen: Der Satz steht ja so nicht im Schöpfungsbericht…

Ich habe ihn extra falsch - beziehungsweise nach der Luther-Übersetzung - zitiert.

Christiansen: Das ist aber wichtig, und es werden biblische Stellen – das ist meine Vorwurf – interessegeleitet interpretiert oder, wie Sie es jetzt exemplarisch getan haben, weiterinterpretiert, ohne beim Wortsinn zu bleiben. Im Schöpfungsbericht heißt es erst einmal: Gott schuf den Menschen. Punkt. In der Einzahl. Er schuf das menschliche Wesen überhaupt. Und dann im nächsten Vers steht nicht: Er schuf "Mann und Frau", sondern "männlich und weiblich" (im hebräischen Text, Anm.d.Red.). Dagegen ist ja nichts zu sagen, das ist eine ganz sachliche Beschreibung. Alles andere, was homophobe Bibelausleger dann daraus folgern, hat mit einer christlichen oder zumindest lutherischen Auslegungsweise des Schöpfungsberichtes nichts zu tun.

Ein Hauptmerkmal der homophoben oder biblizistischen Bibelauslegung ist ja, dass man sehr viel Wert darauf legt, dass biologisches Leben weiter gegeben werden müsse und dass man dazu Geschlechtsverkehr zwischen Männern und Frauen braucht. Das ist ja ein überhaupt nicht bestreitbarer Umstand. Aber auch das ist nicht Kernbestand christlichen Bekenntnisses. Jesus von Nazareth ist ausgesprochen familienkritisch gewesen und hat den Spitzensatz gesagt: "Wer den Willen meines Vaters tut, der ist meine Mutter und mein Bruder und meine Schwester." Wer auf gottgemäße Weise miteinander umgeht, der bildet die Familie Gottes.

Natürlich ist es für den Fortbestand der Menschheit wichtig, dass auf biologische Weise Kinder entstehen, aber aus christlicher Sicht ist das Biologische nicht das Wichtigste, sondern den Geist Gottes in Wort und Glauben und Tat weiterzugeben und miteinander zu teilen und zu leben, das ist das Entscheidende und das einzig Christliche. Und das vermögen Schwule und Lesben und Bis und Transgender und Hermaphroditen natürlich genauso wie Heteros und wie jeder Mensch. Sie auszuschließen aus der Gemeinschaft ist meiner Ansicht nach völlig evangeliumsfeindlich.

"Weder eine zu fette Sahnetorte zu essen oder schwul oder lesbisch zu sein ist Sünde"

Ein anderer Begriff, der oft oberflächlich angewandt wird, ist der Begriff der Sünde. "Homosexualität ist Sünde", wird gesagt. Was ist Sünde?

Christiansen: Es gibt Sünde nicht in der Mehrzahl, "Sünden", auch das hat Martin Luther klargestellt. Sondern es gibt eine zentrale Sünde und alles andere, was daraus an konkreten sündhaften Taten folgt, das hat Luther "Tätelsünden" genannt, also ausführende Einzelhandlungen, die mit der Ursünde etwas zu tun haben. Die einzige Ursünde ist, dass ein Mensch sich dazu aufwirft, wie Gott zu sein. Das ist der Kern der Paradies- und Sündenfallgeschichte: Adam und Eva gehen an den Baum der Erkenntnis heran, weil sie so weise und unendlich sein wollen wie Gott.

Nur das ist Sünde, und das äußert sich vor allem darin, dass ich Leben bewerte. Wenn ich zu einem Menschen oder einem anderen Teil der Schöpfung sage: "Das ist übermäßig viel wert oder nichts wert", und wenn ich so tue, als ob ich den letzten Wert eines Lebens festzulegen vermag. Dann werfe ich mich dazu auf, Gott zu sein, und das ist Sünde. Denn nach jüdischem und christlichem Verständnis wird der letzte Wert eines Lebens nicht durch und Menschen festgelegt, sondern durch eine Kraft, die jenseits unserer Zugänglichkeit liegen und die wir Gott nennen. Weder eine zu fette Sahnetorte zu essen noch schwul oder lesbisch zu sein ist Sünde.

Für alle, denen solches "Biblisches Training gegen Homophobie" zu kompliziert ist: Was wäre Ihr wichtigster Merksatz, den Sie den Teilnehmern zur Ermutigung mitgeben?

Christiansen: Der wichtigste Merksatz ist: Macht euch deutlich, welchen Wert ihr habt nach christlichem Verständnis. Den Wert drücken wir in der christlichen Taufe aus. Jeden Menschen, den wir taufen, taufen wir mit den Worten Gottes, die aus dem Himmel erklangen, als Jesus getauft wurde: "Du bist mein geliebtes Kind, an dir habe ich Wohlgefallen." Diese unumschränkte Zustimmung durch Gott gegenüber jedem Menschen, dieses Urvertrauen Gottes in uns, dass wir "richtig" sind, so wie wir sind, und dass wir mit Glück und Elend in unserem Leben potenziell sinnvoll umgehen können, dieser absolute Respekt Gottes gilt jedem Menschen.

Und Schwulen und Lesben und Bis und Transgendern und Hermaphrotiten und so weiter sage ich: Senkt diese Weisheit und diese Gnade Gottes in die Mitte eurer Seele hinein und haltet sie dort fest und lasst sie euch von niemandem rauben. Denn das ist eure Würde als Gottes Ebenbild und diese Würde darf euch niemand bestreiten.

Schreibt die Bibel ein Familienbild vor? Kirchenhistoriker Christoph Markschies antwortet.