Als Pfarrersfamilien Jüd:innen halfen

Max Krakauer und seine Frau Karoline Krakauer
Calwer-Verlag/Unbekannter Autor/Wikimedia Commons
Max und Karoline Krakauer überlebten als jüdisches Ehepaar die NS-Zeit in der Illegalität, indem sie sich in über 60 Verstecken, meist in evangelischen Pfarrhäusern, versteckten und von mutigen Helfern unterstützt wurden.
Nationalsozialismus
Als Pfarrersfamilien Jüd:innen halfen
Es gab sie, die "guten" Deutschen, die "stillen Helden", die Jüdinnen und Juden in der Nazi-Zeit versteckt haben. Nicht spontan, sondern wohl überlegt, durchdacht und gut organisiert.

Auch evangelische Pfarrer und vor allem deren Frauen und Familien beteiligten sich. Es gab sogar regelrechte Pfarrhausketten. Doch dass darüber bis heute wenig bekannt ist, liegt vor allem am gesellschaftlichen Klima nach 1945. Hilfe für verfolgte Juden und Jüdinnen galt vielen auch im Nachkriegsdeutschland als Tabu.

Aus heutiger Sicht könnte man annehmen, dass nach der Befreiung und dem Sieg über die Nazis nun alle, Helferinnen und Helfer wie auch untergetauchte Jüdinnen und Juden frei und offen über die Jahre im Versteck hätten reden können und wollen. Doch oftmals war genau das Gegenteil der Fall. 

Die Historikerin Martina Voigt forscht in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin schon lange über die so genannten Pfarrhausketten. Noch in den 1980er Jahren hat sie versucht, Interviews mit Überlebenden zu führen.
"Sie wollten nur unter Pseudonym genannt werden. Sie wollten völlig veränderte Namen genannt haben. Ich habe immer noch diese Vorsichtsmaßnahmen gespürt. Dass niemand etwas sagen wollte, ohne sich erst mal mit den anderen zu besprechen, ob denen das Recht ist, was gesagt wird. Die waren total verängstigt", erinnert sich Martina Voigt. Hinzu kamen die Erfahrungen, dass Helfer im Nachkriegsdeutschland beschimpft und bedroht wurden.

"Es gibt etwa den Fall einer Berliner Helferin, die Ende der 1950er Jahre dafür das Bundesverdienstkreuz erhielt. Das stand in der Zeitung. Daraufhin sind der Frau Morddrohungen zugegangen. Sie musste unter Polizeischutz gestellt werden", weiß Martina Voigt.

Zu dem Schweigen bzw. nur verklausuliert Sprechen der Untergetauchten kam die Verschwiegenheit der Helferinnen und Helfer, die alles andere als prahlen wollten. Im Gegenteil.

"Es gab das Gefühl: Wir konnten nur so ein bisschen helfen. Wir hätten viel mehr tun müssen. Und das andere: Die Atmosphäre in der Nachkriegszeit war in keiner Weise geeignet, darüber öffentlich zu sprechen und Zeugnis darüber abzulegen. Es hat niemand danach gefragt, außer in privaten Gruppen", so die Berliner Historikerin. 

Die Historikerin Martina Voigt forscht in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin zu den "Pfarrhausketten".

Es gab zwar nach dem Krieg enge Freundschaften zwischen den Geretteten und den Helferinnen und Helfern. Der gesamte Widerstand der Pfarrhausketten wurde aber öffentlich zunächst nicht als Form einer Widerstandshandlung anerkannt.

So sind bis heute nur drei Pfarrhausketten belegt: Die württembergische, die in Pommern und in Ostpreußen. Ob es etwa auch in Norddeutschland, in Hessen oder Bayern solche Pfarrhausketten der Hilfe gegeben hat, ist bis heute unbekannt, aber nicht ausgeschlossen. Es ist ein Desiderat der deutschen Widerstands-Forschung.

Was man bis heute weiß: Alles nahm wohl seinen Anfang in Berlin-Prenzlauer Berg in der Gethsemane-Gemeinde. Dort predigte der Bekenntnis-Pfarrer Walter Wendland, der in heftigen Auseinandersetzungen mit den Deutschen Christen stand und gesundheitlich schwer angeschlagen war. Seine Frau Agnes wollte ihn schützen und erzählte ihm nichts.

Agnes Wendland war eine evangelische Pfarrfrau der Gethsemanegemeinde in Berlin, die während der NS-Zeit unter Einsatz ihres Lebens Juden in ihrer Wohnung versteckte und schützte.

Heimlich organisierte sie Treffen von Gleichgesinnten, um eine "Judenhilfe" zu organisieren. Unterstützt wurde sie dabei von ihrer Tochter Ruth, später Vikarin der Bekennenden Kirche, und Tochter Angelika, später verheiratet mit dem Brandenburger Pfarrer Günther Rutenborn. Sie versteckten selbst Juden oder sorgten dafür, dass Verfolgte in anderen Haushalten sicher unterkamen. 

"Es gab zwei Treffen in der Pfarrwohnung in der Gethsemanestraße 9. Das ging nicht vom Reichsbruderrat der Bekennenden Kirche aus, sondern dort hatte sich ein kleiner Kreis zusammengefunden, der sich gegenseitig hundertprozentig vertrauen konnte, die 'Kirchliche Arbeitsgemeinschaft'. Das war Anfang 1943. Es gab Absprachen, dass man im Notfall jüdische Menschen in Pfarrhäuser der Region vermitteln konnte", sagt Martina Voigt.

Mehr als 40 Pfarrhäuser

Am bekanntesten ist bis heute die württembergische Pfarrhauskette, auch weil der jüdische Psychiater Herman Pineas unmittelbar nach seiner Befreiung zusammen mit seiner Frau darüber einen ausführlichen Bericht geschrieben hat. Auch das Ehepaar Max und Inis Krakauer schrieben einen Bericht, zuerst jedoch aus Furcht vor Nachstellungen nur mit Abkürzungen und Initialen der helfenden Pfarrfamilien. Erst später gab es eine Fassung mit Klarnamen.

Pfarrer Peter Haigis hat darüber ein Buch geschrieben: "Sie halfen Juden. Schwäbische Pfarrhäuser im Widerstand, Stuttgart (Evangelische Gemeindepresse) 2007". Seine kleine Gemeinde Stetten in Remstal war Teil der damaligen württembergischen Pfarrhauskette. Das seit mehr als zwei Jahren untergetauchte Ehepaar Max und Inis Krakauer verbrachte dort die letzten Kriegstage bis zur Befreiung durch die Amerikaner. 

Treibende Kraft im Südwesten war wohl der gut vernetzte Pfarrer Theodor Dipper, Leiter des Büros der Bekennenden Kirche in Württemberg. Er hat die Leute, die er für verlässlich hielt, angesprochen und sie zusammengeführt. 
"Es gab etliche Juden, die unterwegs waren, auch durch die Dringlichkeit der Wannsee-Konferenz und den Beschluss der totalen Judenvernichtung. Immer mehr Juden wurden durch die Pfarrhäuser hindurchgeschleust. Das waren eingefahrene und eingeschliffene Beziehungen, die erprobt und auch tragfähig waren", weiß Peter Haigis heute.

Es waren mehr als 40 Pfarrhäuser in Württemberg, die sich an der Hilfe für die jüdischen Untergetauchten beteiligten. Eberhard Busch schreibt in seinem Buch über Kurt Müller, Pfarrer der Reformierten Gemeinde in Stuttgart, sogar von mindestens 60 schwäbischen Pfarrhäusern. 150 bis 200 Christen hätten sich an der württembergischen "Judenhilfe" beteiligt. 

Herman Pineas schrieb dazu in seinen Erinnerungen: "Als der Theologe Karl Barth unter dem Druck des Hitlerregimes seinen Lehrstuhl in Bonn mit dem in Basel vertauschte, forderte er vor seiner Abreise seine mit Pfarrstellen ausgestatteten ehemaligen Schüler auf, so viele Juden als möglich zu retten. In Württemberg folgte dieser Aufforderung die ‚Sozietät‘, eine lose Verbindung von bekenntnistreuen protestantischen Pfarrern und ihren Vertretern, an deren Spitze der aus Bremen stammende frühere Anwalt und spätere Pfarrer Kurt Müller in Stuttgart stand."

Obwohl die Nazis Müller und andere Pfarrer im Visier hatten, flog das Netz der "Judenhilfe" nie wirklich auf. Wie viele Juden insgesamt gerettet werden konnten, weiß heute nieman. Es sind wie bei den Krakauers und dem Ehepaar Pineas immer nur wenige Einzelschicksale bekannt. 

Welche Juden sollen aufgenommen werden?

Umstritten war offenbar auch, welche Juden in Pfarrhäusern aufgenommen wurden. Eberhard Busch beschreibt den Fall des Pfarrehepaars Pfäfflin in Waldenbuch. Frau Pfarrer konnte sich dort nicht überwinden, ins Pfarrhaus "richtige" Juden aufzunehmen, sondern nur solche, die getauft waren. Von den Nürnberger Rassegesetzen waren eben auch getaufte Juden betroffen. Auch sie wurden von den Nazis deportiert und getötet.

Sonst aber schien die Pfarrhauskette nahezu perfekt funktioniert zu haben. Es ging um Nächstenliebe, nicht um etwaige Mission an Glaubensjuden, sie zur Konversion zu bringen. Wenn ein Pfarrhaus zu sehr im Visier der Behörden stand, dann wurde es aus der Kette herausgenommen. Da man fürchten musste, überwacht zu werden, fanden Absprachen nur persönlich statt, nicht etwa über das Telefon.

"Es war im Grunde kaum ein Problem, Geflüchtete in Pfarrhäusern unterzubringen. Pfarrhäuser waren groß. Sie hatten viele Räume und es war üblich, Bombenflüchtlinge aus den Städten unterzubringen. Zum Teil hat man da auch mit gefälschten Papieren gearbeitet. Für die Öffentlichkeit war das wenig Aufsehen erregend", sagt Peter Haigis heute.

Schnell weiterziehen

Nur gab es die Notwendigkeit eines permanenten Quartierwechsels. Martina Voigt aus der Gedenkstätte Deutscher Widerstand ergänzt: 
"Es gab eine Anmeldepflicht. Wenn Leute sechs oder acht Wochen an einer Stelle lebten, dann mussten die angemeldet werden. Das war die Tücke. Denn dazu brauchte man relativ stabile Papiere, die nicht als Fälschung auffielen. Da konnten Nachfragen entstehen. Die Geschichte von den ausgebombten Verwandten war immer nur für kurze Zeit haltbar."

Und Peter Haigis weiter: "Die waren oft nur eine Woche oder 14 Tage vor Ort und dann mussten sie weiterziehen. Sie lebten aus dem Koffer und wussten selber kaum wohin. Die kannten ihre neuen Gastgeber auch nicht und mussten sich immer wieder auf neue Verhältnisse einstellen. Mit zunehmender Länge der Flucht war das auch psychisch belastend. Es gibt Zeugnisse davon, dass manche schier ausgerastet sind und sich selbst und andere damit in Gefahr gebracht haben."

Isolde und Horst Symanowski waren evangelische Christen aus Ostpreußen, die während der NS-Zeit mutig verfolgte Juden in ihrem eigenen Zuhause versteckten.

Auch in Pommern gab es eine Pfarrhauskette, bekannt aus den späteren Erinnerungen von Andrea Wolffenstein: Pfarrer Johannes Strecker (1875-1966) und Pfarrfrau Julie Strecker (1891-1975) in Wusterhanse, das heutige Ostrowasy. Pfarrer Karl Heinrich Reimer und Gemeindeschwester Anita (Nachname unbekannt) in Naseband. Pfarrer Joachim Schmidt (1905-1997) und Pfarrfrau Gertrud Schmidt (1908-1976) in Pielburg bei Neustettin. 

Beim ersten konspirativen Treffen in der Berliner Gethsemane-Pfarrwohnung war auch Pfarrer Horst Symanowski anwesend, der die Pfarrhauskette dann in Ostpreußen mitorganisierte. Der Rechtsanwalt Adolf Bunke, Justiziar der ostpreußischen Bekennenden Kirche, betreute das ehemalige Predigerseminar in Blöstau, an dem auch Bonhoeffer zuvor lehrte. In diesem abgeschiedenen Haus haben Bunkes dann im Rahmen der ostpreußischen Pfarrhauskette mehrere Verfolgte aufgenommen.

Die Pfarrhausketten sind somit Beispiel für eine heute wenig bekannte Form des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus. Für den heutigen Pfarrer Peter Haigis jedenfalls sind sie vorbildlich:

"Vielleicht ist das etwas, was wir lernen müssen. Wir haben die Vorstellung, dass das System der Nazis wasserdicht war. Doch es hatte viele Löcher. Widerstand im Kleinen war mehr möglich, als wir denken, aber er wurde nicht geübt. Das ist der Skandal, dass es so viele Mitläufer gab, die vielleicht im Kleinen Möglichkeiten gehabt hätten, etwas zu tun. Aber sie haben es nicht getan."