Abitur machen mit Aufmerksamkeitsstörung

Klassenzimmer mit Einzeltischen und Trennwänden als Sichtschutz am Privaten Gymnasium im baden-württembergischen Esslingen
epd-bild/Judith Kubitscheck
Einzeltische und Trennwände als Sichtschutz helfen, dass der Blick der Schüler nicht umherwandert.
ADHS in der Schule
Abitur machen mit Aufmerksamkeitsstörung
Gehirnlüften, Gespräche und Gutscheine - das gibt es im Privaten Gymnasium im baden-württembergischen Esslingen. Hier wird auf die besonderen Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen mit Aufmerksamkeitsstörungen eingegangen.

Deutschunterricht in Klasse 5: Knapp 15 Schülerinnen und Schüler sitzen an Einzeltischen im Klassenzimmer. An drei hinteren Plätzen stehen zwischen den Kindern zusätzlich Trennwände als Sichtschutz, die helfen, dass der Blick nicht umherwandert. Das Klassenzimmer in dem Gymnasium speziell für Kinder mit der Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADS/ADHS) ist reizarm eingerichtet: kaum Plakate und Poster an den Wänden, Teppichboden zur Lärmreduzierung.

Heute geht es darum, was einen Sachtext von einem Erzähltext unterscheidet. Nach einem Quiz über Spinnen erhalten die Kinder zwei Texte über die achtbeinigen Tiere und sollen Unterschiede herausarbeiten. Ein Junge, der zwischen zwei Trennwänden sitzt und unaufhörlich mit seinen Stiften spielt, erzählt, wie sich eine Spinne einmal direkt über ihm abgeseilt hat, als er im Bett lag. "Jetzt bist du etwas vom Thema abgekommen", sagt Deutschlehrerin Annika Lutz ruhig und führt ihren Schüler wieder zum Thema.

Nach einigen Minuten geht ein Mädchen mit einem Heft ans Pult der Lehrerin. Diese trägt darin die aktuelle Uhrzeit und eine Unterschrift ein. Das Mädchen verlässt das Klassenzimmer zum "Gehirnlüften" - eine kurze Auszeit, wenn die Konzentration nicht mehr da ist. "Die Schülerinnen und Schüler kommen dann zu uns und wir besprechen mit ihnen, was sie brauchen", erklärt Andreina Serra, Leiterin des Psychologisch-Pädagogischen-Teams (PPT) das Prinzip. Wollen sie lieber einen Comic in Ruhe lesen oder an die frische Luft? Dann erhalten sie einen Timer, der nach einer gewissen Zeit klingelt. Dann gehen sie wieder in den Unterricht.

Im "Gehirnlüftebuch" wird vom Lehrer die Uhrzeit eingetragen wenn ein Schüler das Klassenzimmer für eine Auszeit verlässt.

Das "Gehirnlüften" gehört zum pädagogischen Konzept der Schule ebenso wie ein Punkteplan, bei dem die Schülerinnen und Schüler sich in jeder Stunde durch Verhalten und Mitarbeit Punkte verdienen können. Diese werden in Gutscheine umgetauscht, die zum Beispiel für den Kuchenverkauf eingesetzt werden können. Für jede Klasse ist eine Person des PPT zuständig und unterstützt die Lehrkräfte, hält den Kontakt zu Ärzten, Therapeuten und dem Jugendamt. Geregelte Abläufe helfen bei einer Aufmerksamkeitsstörung.

"Bei uns gibt es manche Schüler, die mit einer auffälligen Symptomatik zu uns kamen, oder so von ihrer früheren Schule beschrieben wurden und sich dann hier völlig unauffällig verhalten", beobachtet Schulleiterin Audrey Zanin. So ging es auch dem Elftklässler Levin. Er war bis zur siebten Klasse auf der Realschule und dort kurz davor, sitzen zu bleiben. "Die Lehrer wussten nicht, wie sie mit meinem ADHS umgehen sollen, und haben es dann eigentlich meistens ignoriert", erinnert er sich. "Oft habe ich mir gewünscht, kein ADHS zu haben." Heute habe er sich in fast allen Fächern um zwei Noten verbessert. "Manchmal vergesse ich hier sogar, dass ich ADHS habe".

Klarer Stundenablauf mit festen Routinen

Laut Anna Strelow, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Klinische Kinder- und Jugendpsychologie an der Universität Marburg, wissen vor allem gymnasiale Lehrkräfte zu wenig über ADHS, da es in ihrer Ausbildung kaum eine Rolle spielt. Ein klarer Stundenablauf mit festen Routinen, Bewegungspausen und der Einsatz von Timern könnten auch an staatlichen Schulen helfen - und zwar nicht nur Kindern mit ADHS, sagt Strelow, die über "ADHS im Klassenzimmer" promoviert hat.

Entstanden ist das Privatgymnasium aus der Not heraus: In Esslingen gab es ein Therapiezentrum, das sich schwerpunktmäßig mit ADHS befasste, erklärt Markus Reitzig, Vorstandsvorsitzender der Stiftung, die die Schule trägt. Da zunehmend Kinder kamen, die wegen ihres ADHS in keiner Regelschule beschult werden konnten, wurde eine Art Notschule gegründet. Als die Zahl der "Notschüler" stieg, entschied man sich 2009 dazu, eine private Schule zu gründen, die 2014 staatlich anerkannt wurde.

Erst um 8.30 Uhr startet die erste Stunde

Heute besuchen 116 Schülerinnen und Schüler das Private Gymnasium Esslingen. Etwa 95 Prozent der Kinder erhalten Eingliederungshilfe, was neben den Schulgebühren, die sozial gestaffelt sind, und dem regulären staatlichen Zuschuss für Privatschulen zur Finanzierung der Schule beiträgt. Die meisten haben die Diagnose ADHS, es gebe auch Kinder mit Autismus oder Lernschwierigkeiten, erklärt Reitzig.

Der Tag an der Schule mit Ganztagsunterricht beginnt relativ spät: Um 8.30 Uhr startet die erste Stunde. Der Grund: Viele Kinder und Jugendliche haben einen langen Anfahrtsweg per Bus und Bahn. So auch Schülersprecher Marwin. Der 17-Jährige ist seit der 5. Klasse auf der Schule, da es mit seinem ADHS und einer Legasthenie "auf einem normalen Gymnasium für mich nicht gut gelaufen wäre."

"Ich schätze es unfassbar hier, dass wir so gute und kompetente Lehrkräfte haben, die einen gemeinsam mit dem pädagogisch-psychologischen Team durch den doch relativ anstrengenden Schulalltag begleiten", sagt Marwin. Die kleinen Klassen mit bis zu 15 Schülern finde er hilfreich, da dadurch Lehrer besser auf jeden eingehen könnten.

An der Schule habe er gelernt, sein ADHS unter Kontrolle bekommen. Ihm mache es nichts aus, dass er insgesamt zwei Stunden pro Tag unterwegs ist. "Ich werde hier wahrscheinlich ein gutes Abitur machen und kann dann studieren. Das hätte ich ohne diese Schule gar nicht geschafft."