Der Alptraum aller Lehrkräfte: Irgendwo im Gebäude fallen Schüsse, dann reißt jemand die Tür auf und stürmt bewaffnet ins Klassenzimmer. Es gab schon einige Dramen über Amokläufe an Schulen, aber dieser "Polizeiruf" aus Magdeburg erzählt eine besondere Geschichte: Kurz vor dem Abitur hat Jeremy den Durchblick verloren. Seine geschiedene Mutter ist ihm keine Hilfe, sie leidet an Multipler Sklerose. Der Film führt sie mit einem Telefonat ein, bei dem ihr eine Frau versichert, der Tod sei nicht das Ende, es gebe Hoffnung auf eine Wiedergeburt. Jeremy zieht sich in sein dunkles Kellerzimmer zurück und öffnet einen Chat. Auch er hat einen unheilvollen Ratgeber. "Du bist ein Gott und ein Krieger", schreibt ihm sein Chat-Partner: Man werde ihm ein Denkmal setzen. Jeremys Vater hat einen Wachschutz und mehrere Pistolen in seinem Tresor. Der Junge knackt den Safe und rüstet sich für seine mörderische Mission.
Der Begriff Amoklauf legt eine gewisse Willkür nahe: Eine (meist männliche) Person schießt auf alles, was sich bewegt. Zwischendurch gesteht Jeremy auf dem zuvor eingerichteten Live-Stream zwar, ihm werde schlecht, aber davon abgesehen hält er sich offenkundig an einen konkreten Plan: Er tötet den Rektor und dessen Stellvertreterin, lässt die Sekretärin jedoch am Leben. Bei der Umsetzung der Mordserie war es Esther Bialas sichtlich wichtig, die optische Ebene so wenig spekulativ wie möglich und auf keinen Fall voyeuristisch zu gestalten. Auf diese Weise ist der Krimi tatsächlich über jeden Verdacht der Gewaltverherrlichung erhaben: Während sich vergleichbare Filme gern der subjektiven "Egoshooter"-Optik aus einschlägigen Killerspielen bedienen, finden abgesehen vom Auftakt die meisten Gewalttaten außerhalb des Bildes statt.
Darüber hinaus hat die Regisseurin konsequent auf Thriller-Elemente verzichtet; nicht mal die Musik setzt entsprechende Akzente, als Jeremy (Mikke Rasch) fünf Menschen erschießt und zwei weitere schwer verletzt. Das ändert sich jedoch, wenn die Ereignisse aus der Perspektive der Opfer geschildert werden: Nun treibt die Musik die Spannung in die Höhe. Die Tonspur spielt mit ihrer Hervorhebung bestimmter Geräusche ohnehin eine wichtige Rolle. Zum Thriller wird die Handlung, als sich rausstellt, dass Jeremy einen Mittäter hat, der ihn unter anderem über die Scharfschützen auf einem gegenüberliegenden Dach informiert.
Tilmann P. Gangloff, Diplom-Journalist und regelmäßiges Mitglied der Jury für den Grimme-Preis, schreibt freiberuflich unter anderem für das Portal evangelisch.de täglich TV-Tipps und setzt sich auch für "epd medien" mit dem Fernsehen auseinander. Auszeichnung: 2023 Bert-Donnepp-Preis - Deutscher Preis für Medienpublizistik (des Vereins der Freunde des Adolf-Grimme-Preises).
Bialas hat zuletzt für die ARD die vierte "Charité"-Staffel gedreht, war zuvor jedoch vor allem fürs ZDF tätig; zu ihren Arbeiten zählen unter anderem die ausgezeichnete Zeitschleifen-Serie "Another Monday" (2022), das intensive "MeToo"-Krimidrama "So laut Du kannst" (2022) mit Friederike Becht als Frau, die um Gerechtigkeit für ihre vergewaltigte Freundin kämpft, sowie ein packender Thriller aus der Reihe "Solo für Weiss" ("Das letzte Opfer", 2021). Ihr Debüt beim Sonntagskrimi im "Ersten" zeichnet sich nicht zuletzt durch eine vorzügliche Bildgestaltung (Martin Neumeyer) aus: Die Kamera ist viel in Bewegung und bleibt auf diese Weise stets ganz nah an den Figuren; wenn Hauptkommissarin Doreen Brasch (Claudia Michelsen) rennt, rennt sie mit. Die denkbar düstere Anmutung passt perfekt zur Handlung. Gerade die gern mit einem dunklen Blaustich versetzten und mit viel Dunst in der Luft versehenen Schulszenen sind kühl und unwirtlich; die Flure, durch die Jeremy auf der Suche nach dem nächsten Opfer wandert, wirken wie dunkle Tunnel.
Die Vorlage zu "Sie sind unter uns" stammt von Jan Braren, dessen Debütdrehbuch zu dem Mobbing-Drama "Homevideo" 2011 gleich mit dem Grimme-Preis gewürdigt wurde. Gewisse Parallelen sind gerade bei den beiden jugendlichen Außenseiterfiguren nicht zu übersehen. Der "Polizeiruf" aus Magdeburg schlägt allerdings eine völlig andere Richtung, als Brasch den Auftrag bekommt, mehr über Jeremy rauszufinden, um den Verhandlungsführer (Ulrich Brandhoff) der Polizei mit Informationen zu versorgen. Sie stößt auf eine absurde Verschwörungserzählung, die an John Carpenters Science-Fiction-Film "Sie leben" (1988) erinnert.
Den eigentlichen Knüller seiner Geschichte hat sich Braren für den grimmigen Epilog nach dem tragischen Ende aufgehoben. Er entschuldigt die Taten nicht, erklärt sie jedoch. Schon vorher haben verschiedene Aussagen und Aufnahmen eine gewisse Empathie für den Jungen geweckt. Das gilt auch für die am Schluss aus dem Off eingespielte Ansprache einer Mitschülerin, die die Überlebenden und somit auch das Publikum dazu aufruft, gegen den Hass aufzustehen und aufeinander aufzupassen.