Wo Gott zeltet, wird alles neu

Jahreslosung 2026
Sara Keller
Die Jahreslosung für 2026 stammt aus dem Buch der Offenbarung.
Auslegung zur Jahreslosung 2026
Wo Gott zeltet, wird alles neu
"Gott spricht: Siehe, ich mache alles neu!" (Offenbarung 21,5) Die Jahreslosung für 2026 stammt aus dem einzigen prophetischen Buch des Neuen Testament. Sie verweist nicht nur in die Zukunft, sondern spricht mitten in unsere Gegenwart hinein – in Zeiten von Umbrüchen, Erschöpfung und Hoffnungslosigkeit. Der katholische Theologe Wolfgang Baur deutet sie als eine "Temperamentswende Gottes", der den Menschen unglaublich nahekommt und sich um alles kümmert.

Wenn Wolfgang Baur über die Jahreslosung für 2026 nachsinnt, denkt er an ein Zelt. Warum? Weil der den Vers "Siehe, ich mache alles neu!" (Offenbarung 21,5) im Kontext liest: "Und ich hörte eine große Stimme von dem Thron her, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! Und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden seine Völker sein, und er selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein.‘" (Offenbarung 21,3). Das Wort, das Luther mit "Hütte" übersetzt, heißt auf griechisch "σκηνή (skēnē)" – Zelt. "Dieses Zelten ist kein Zufall", meint Wolfgang Baur, "denn es greift das hebräische mishkan auf, das Zelt der Offenbarung, das Mose draußen vor dem Lager aufbaut, und in dem Gott gegenwärtig ist. Spannend ist, dass Mose das Zelt draußen aufbaut, und hier ist es nun ein Wohnen mitten in seinem Volk, mitten in der Stadt – also viel näher."

Wie immer klingt Begeisterung aus Wolfgang Baurs Stimme, wenn er gerade intensiv einen biblischen Text analysiert und Bezüge gefunden hat. Die Sache mit dem Zelt findet er besonders spannend, "weil Gott in der Offenbarung vorher so majestätisch und unerreichbar fern dargestellt wird – mit Thron, gläsernem Meer, Engeln, himmlischem Lobpreis. Und plötzlich ist er ganz nah, zeltet mitten unter seinem Volk, beugt sich herab, trocknet Tränen. Das ist eine richtige Wende – nicht nur eine Zeitenwende, sondern fast eine Temperamentswende Gottes. Eine unglaubliche Nähe entsteht da." 

Obwohl er mittlerweile im Ruhestand ist, wirkt Baur jedes Jahr als Delegierter des Katholischen Bibelwerks in der Ökumenischen Arbeitsgemeinschaft für Bibellesen (ÖAB) an der Auswahl der Jahreslosung mit. Anders als das Wort es vermuten lässt, wird die Jahreslosung nicht ausgelost, sondern in intensiven Diskussionen aus mehreren Vorschlägen ausgewählt. Für 2026 fiel die Wahl auf den Vers aus der Offenbarung des Johannes: "Gott spricht: Siehe, ich mache alles neu." (Offenbarung 21,5)

Gerechtigkeitsfragen als Kernthema

Bei der Entscheidung für diesen Vers "ging es sehr stark um Gerechtigkeitsfragen, soziale Fragen, das war so ein Kernthema", berichtet Wolfgang Baur von der Konferenz, auf der das Leitwort für 2026 ausgewählt wurde. "In der Offenbarung wird ja vorher auf ganz dramatische Weise das Leiden beschrieben, und zwar mit Vorgängen, die wir im Augenblick auch kennen – die Teuerung von bestimmten Speisen, von Öl und Getreide. Manchmal denkt man wirklich, Johannes hätte uns schon ins Tagebuch geschaut." 

Damals, als der Prophet Johannes seine Vision aufschrieb (ca. 90-95 nach Christus), standen Christinnen und Christen unter Druck, weil sie sich weigerten, den römischen Kaiser als Gott anzubeten. Die Menschen hatten eine große Sehnsucht nach Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden. "Diese Sehnsucht, die steckt ganz stark drin in dem Vers ‚Siehe, ich mache alles neu‘", sagt Wolfgang Baur und zieht eine Parallele zum Propheten Jesaja: "Denn siehe, ich will einen neuen Himmel und eine neue Erde schaffen, dass man der vorigen nicht mehr gedenken und sie nicht mehr zu Herzen nehmen wird." (Jesaja 65,17; geschrieben im 5. Jahrhundert vor Christus). Schon immer hatten Menschen Sehnsucht nach einem Ende dessen, was belastet und unterdrückt. Und schon immer hofften Menschen auf Gott, der alles neu macht – durch sein Wort, wie bei der ersten Schöpfung. 

Das Sprechen ist bedeutsam

"Gott spricht" – die Einleitung gehört unbedingt zur Jahreslosung dazu. "Das Sprechen Gottes, der Logos, das Wort Gottes, das ist ja was ganz Bedeutsames. Das Wort ist ja nicht bloß Information, sondern ist etwas Kreatives, das Neues hervorbringt." In der ersten Schöpfung schuf Gott laut dem 1. Buch Mose einen Garten. "Die zweite Schöpfung geschieht auf der Grundlage einer Stadt, also eines menschlichen Produktes", ist Wolfgang Baur aufgefallen. "Sie kommt zwar vom Himmel, aber Gott bedient sich dessen, was Menschen geschaffen haben, um darauf Neues zu bauen. Er ignoriert das Frühere nicht, sondern nimmt das Gute, das Fundament, und baut darauf weiter." Damit verändert sich auch das erwartete "Neue" – auf Griechisch καινὰ (kainá) .

Bei Jesaja soll an das, was vorher war, nicht mehr gedacht werden. In dem Vers aus der Johannesoffenbarung dagegen heißt es nicht: "Cut, alles Alte zählt nicht mehr, sondern: Das Gute der ursprünglichen Schöpfung wird herausgehoben, gereinigt, verwandelt – und daraus entsteht etwas Neues, von dem Gott wieder sagen kann: ‚Es ist sehr gut.‘" Im himmlischen Jerusalem ist alles hell, alles glänzt – "mit Mauern aus Edelsteinen, mit zwölf Toren aus Perlen. Die Mauern dienen nicht als Schutz, sondern als Schmuck. Die Tore stehen immer offen für alle. Niemand wird ausgeschlossen." Tatsächlich heißt es im griechischen Text: "Sie werden seine Völker sein" – im Plural! "Das Neue gilt also nicht nur einem Volk, sondern allen – die Verheißung weitet sich auf die ganze Schöpfung." 

Gott lässt Menschen nicht allein

Auf das schöpferische "Gott spricht" folgt nach dem Doppelpunkt das kleine Wörtchen  Ἰδού (idoú) – "Siehe". Wolfgang Baur erinnert das "an Prophetenworte wie Jesaja 43,19: ‚Denn siehe, ich will ein Neues schaffen, jetzt wächst es auf, erkennt ihr’s denn nicht?‘ Dieses ‚Siehe‘ weist darauf hin: Es wächst doch schon! Macht die Augen auf, seht und nehmt wahr, was passiert! Dieses Neue kann mitten unter uns beginnen, wenn auch unscheinbar." Gott ist am Werk – seit Anbeginn der Zeiten, schon immer – jetzt – und in Zukunft. Die Jahreslosung müsste eigentlich in einer Verlaufsform stehen, die es im Deutschen aber nicht gibt. Doch im Griechischen steckt sie in dem Verb ποιῶ (poió) – "ich mache" – drin: "Das hat was Präsentisches und was Futurisches", erklärt Wolfgang Baur. "Das ist ein Prozess, der immer noch im Gange ist. Also: ‚Ich mache etwas und es tut sich gerade was, schau mal hin, was sich da tut.‘ Das ist wirklich wie wenn im Reagenzglas der Rauch aufsteigt und ich sehe: Gleich tut sich was Größeres. Das Poió zeigt: Gott ist noch nicht fertig."

Schließlich ist Gott ja auch dabei, alles – griechisch πάντα (pánta) – neu zu machen, und der Umfang von "allem" ist nicht wirklich vorstellbar. "Der Begriff zeigt, dass Gott in allem drin ist, von allem berührt ist, und dass es eigentlich nichts gibt, das mit Gott nichts zu tun hat. Wenn Gott sich selbst in die schlimmste Situation – die Passion – hineingibt, dann kann man mit Fug und Recht sagen: Er hat mit allem etwas zu tun, auch mit den schwersten Situationen, in die Menschen kommen können, und lässt sie da auch nicht allein. ‚Ich mache alles neu‘ heißt nicht: Ich beseitige alles andere, sondern: Ich kümmere mich um alles – sogar um das, wo keiner hinlangen will."

"Gott spricht: Siehe, ich mache alles neu!" (Offenbarung 21,5) – Die Jahreslosung ist ein Wort der Sehnsucht und der Hoffnung. Sie fordert auch heraus, denn "dieses Neue kann auch in unserer Mitte beginnen, ich kann es spüren und kann mitmachen in diesem Neuen", sagt Wolfgang Baur. "Das ist ja letztlich die Aufforderung, sich auf das Reich Gottes einzulassen. Und wir stecken in einem Prozess, der durchaus die Berechtigung hat, all den Schwarzsehern entgegenzuhalten: Doch es gibt neben allem Destruktiven nach wie vor den Keim der Verwandlung zum Guten, und er wird sich durchsetzen."

Gott spricht, Gott handelt, Gott kommt – ganz nahe – und wohnt bei den Menschen. "Das Zelt Gottes ist offen. Es ist ein Zelt der Begegnung, in dem man spürt: Da ist ein Hoffnungsraum, von dem Neues ausgeht ."