evangelisch.de: Guten Tag Herr Westphal, die Berichte der Mitarbeiter verschiedener Hilfsorganisationen sind erschütternd. Sie sprechen von einer wachsenden Mangelernährung, die besorgniserregend ist. Einige sprechen von einem gezielten Aushungern der Palästinenser. Was sagt Save the Children dazu?
Florian Westphal: Anfang des Jahres, während des Waffenstillstands, war es noch möglich, Hilfsgüter in ausreichender Menge in den Gazastreifen zu bringen. Allerdings ist das jetzt seit Monaten nicht mehr möglich. Nach wie vor ist es so, dass die meisten Hilfsgüter, darunter auch Nahrungsmittel, nicht in den Gazastreifen hineingelassen werden - auf Veranlassung der Regierung und des Militärs von Israel. Scheinbar hat sich die Lage in den letzten Tagen etwas gebessert, aber bei weitem nicht ausreichend.
Wir von Save the Children sehen, dass wichtige Nahrungsmittel, zum Beispiel auch Babynahrung und ähnliche Dinge blockiert und nicht hineingelassen werden. Gleichzeitig kommt hinzu, dass auch private Importe von Nahrungsmitteln gar nicht mehr möglich sind, das heißt, auch die Märkte und die Läden in Gaza haben keine Nahrungsmittel mehr zu verkaufen. Unsere Kolleg:innen vor Ort, die ja natürlich ein Gehalt bekommen und somit auch eigentlich eine gewisse Kaufkraft hätten, können sich nicht mehr versorgen, weil es wirklich nichts mehr gibt. Und das Wenige, das es gibt, ist für die meisten Familien nicht erschwinglich.
Nach ihrem Volontariat in der Pressestelle der Aktion Mensch arbeitete Alexandra Barone als freie Redakteurin für Radio- und Print-Medien und als Kreativautorin für die Unternehmensberatung Deloitte. Aus Rom berichtete sie als Auslandskorrespondentin für Associated Press und für verschiedene deutsche Radiosender. Seit Januar 2024 ist sie als Redakteurin vom Dienst für evangelisch.de tätig.
"Während einer Belagerung wird die Zivilbevölkerung systematisch vom größten Teil der Hilfe abgeschnitten"
Das entspricht einem regelrechten Belagerungszustand. Während einer Belagerung wird die Zivilbevölkerung systematisch vom größten Teil der Hilfe abgeschnitten. Das betrifft natürlich Nahrungsmittel, aber nicht nur: Wir haben nun mitbekommen, dass zumindest die Stromversorgung wieder etwas hochgefahren worden ist, damit wieder die Wasserentsalzungsanlagen betrieben werden können.
Das Beispiel macht deutlich, dass es letztendlich die Entscheidung der israelischen Regierung ist, zu bestimmen, wie viele Hilfsgüter, wie viel Strom, wie viel Treibstoff, der ja auch für die humanitäre Arbeit und für die medizinischen Einrichtungen dringend benötigt wird, wie viel davon letztendlich in den Gazastreifen hineingelassen wird oder nicht. Somit ist diese katastrophale Situation das Ergebnis politischen Handelns.
"Israel muss als Besatzungsmacht den Hilfsgütertransport schützen"
Mitarbeiter der verschiedenen Hilfsorganisationen, wie auch Ihre Kollegin Rachael Cummings und Dr. Tarek Loubani von der Gaza Medical Support Initiative sehen keine Verbesserung der humanitären Lage: Israel blockiert trotz internationalen Drucks weiterhin die Hilfsgüter mit der Begründung, dass die Hamas diese Hilfsgüter verwendet. Ist Israels Einwand haltbar? Gilt das auch für Babynahrung? Warum passiert weiterhin nichts?
Westphal: Bei der Beantwortung der Frage gibt es, meiner Meinung nach, mehrere Aspekte zu beleuchten. Der erste ist der, dass rein rechtlich gesehen Israel die Besatzungsmacht im Gazastreifen ist. Im Hinblick auf das humanitäre Völkerrecht heißt das, sie haben die Verantwortung, sicherzustellen, dass die Bevölkerung Zugang zu lebensnotwendigen Gütern hat. Es geht also darum, Hilfstransporte innerhalb des Gazastreifens vor Verbrechern oder vor bewaffneten Gruppen zu schützen und zu verhindern, dass sie geplündert werden.
Das israelische Militär hat also nicht nur die Fähigkeit, dies zu tun, sondern auch die Verantwortung, den Transport der Hilfsgüter sicherzustellen. Das muss man ganz klar sagen. Eine andere Möglichkeit wäre, dass Israel der Polizei vor Ort erlaubt, diese Rolle zu erfüllen. Das scheint im Moment nicht der Fall zu sein. Dies wäre sozusagen die erste Voraussetzung, um sicherzustellen, dass Hilfslieferungen nicht in die falschen Hände gelangen, weil das wollen wir ja logischerweise auch nicht.
Der zweite Aspekt ist der, dass wir gesehen haben, was im Rahmen eines Waffenstillstands möglich ist, nämlich dass es ausreichend Nahrungsmittel gab, da auch kommerzielle Importe in den Gazastreifen erlaubt werden.
Der dritte Aspekt dreht sich um die Behauptung seitens der israelischen Regierung, scheinbar aber auch seitens deutscher Regierungskreise, dass große Teile der Hilfslieferungen von kriminellen oder bewaffneten Gruppen entwendet oder missbraucht werden. Zu diesem dritten Aspekt gibt es ganz unterschiedliche Aussagen, und da können wir auch als Save the Children nicht definitiv wirklich Stellung zu nehmen, da wir an diesen Nahrungsmitteltransporten im größeren Rahmen nicht direkt beteiligt sind.
Zu diesem Thema gibt es allerdings auch gegenläufige Berichte, die sagen, dass dafür letztendlich keine wirklichen Beweise vorgelegt worden sind. Ich kann das abschließend nicht beurteilen, aber ich fände es angemessen, wenn man so eine Behauptung aufstellt, dass man irgendwann dafür auch stichhaltige Beweise vorlegt, zumal die Vereinten Nationen, die für den Nahrungsmitteltransport und die Verteilung zuständig sind, dies bestreiten.
"Hunderte von Lkws mit Hilfsgütern stehen nur einige Kilometer direkt hinter der Grenze bereit"
Als letzten Punkt möchte ich Folgendes hinzufügen: Selbst wenn die Behauptung der israelischen Regierung richtig wäre, also Hilfslieferungen von Verbrechern oder bewaffneten Akteuren gestohlen wurden, die Antwort doch nicht darin bestehen kann, dass man gar keine Hilfsgüter mehr liefert und schwerstmangelernährten Kindern vorenthält. Denn so bezahlt ja die sowieso schon hungernde Bevölkerung letztendlich noch zusätzlich den Preis dafür, wenn jemand die Hilfe stiehlt, die für sie gedacht war.
Die Bundeswehr hat am Freitag (01.08.25) mit dem Abwurf von Hilfsgütern über den Gazastreifen begonnen. Die Idee, über eine Tonne schwere Hilfspakete über den Gazastreifen abzuwerfen, ist bereits auf heftige Kritik gestoßen. Was halten Sie davon?
Westphal: Natürlich ist man zuerst immer verleitet zu sagen: "Jede einzelne Kalorie, die zusätzlich in den Gazastreifen kommt, ist willkommen." Aber ich frage mich, ob dieser Abwurf von Hilfsgütern tatsächlich nötig ist, wenn doch Hunderte von Lkws nur einige Kilometer direkt hinter der Grenze bereitstehen. Zumal die Hilfe aus der Luft völlig unzureichend ist vom Volumen her. Des Weiteren ist es sehr teuer und auch potenziell gefährlich.
Sie müssen sich vorstellen, die Hilfe aus der Luft ist keine Luftbrücke im eigentlichen Sinne, wie das nach dem Zweiten Weltkrieg in Berlin praktiziert wurde. Damals konnten die sogenannten Rosinenbomber sicher in Tempelhof landen, die Nahrungsmittel sicher ausladen und gezielt an die Bevölkerung verteilen – vor allem aber an die Schwächsten, also Kinder, Alte und Menschen mit Behinderung.
"Diese Art der Hilfslieferung begünstigt letztendlich die Stärksten, weil sie nicht gezielt an Kinder und schwangere Frauen verteilt werden kann"
Bei der Nahrungsmittelhilfe aus der Luft, so wie sie jetzt von der deutschen Regierung im Gazastreifen praktiziert wird, werden sehr große und schwere Paletten an Fallschirmen abgeworfen. In diesem Fall sind schon Menschen verletzt worden, aber auch ertrunken, als sie versucht haben, die Hilfslieferungen, die ins Meer gefallen waren, zu bergen. Diese Art der Hilfslieferung begünstigt letztendlich die Stärksten, weil sie ja überhaupt nicht gezielt, also zum Beispiel an kleine Kinder und schwangere Frauen verteilt werden kann.
Das Prinzip der humanitären Hilfe ist schließlich, dort zuerst zu helfen, wo der Bedarf am größten ist. Und das kann man nicht mit dieser Art von Hilfe aus der Luft sicherstellen. Es hat natürlich in verschiedenen humanitären Großkrisen diese Art der Hilfe gegeben, aber sie sollte wirklich nur als letztes Mittel, wenn es gar keine Alternativen mehr gibt, in Betracht gezogen werden.
Hier in Gaza gibt es allerdings eine Alternative, und das konnte man noch vor wenigen Monaten sehr deutlich sehen, dass sie funktioniert: nämlich eine Waffenruhe – und letztlich einen Waffenstillstand – und die sofortige Öffnung der Grenzen für Hilfsgüter. Diese Hilfsabwürfe aus der Luft sind keine wirkliche Antwort auf das Problem.
Kann es sein, dass die deutsche Regierung tatsächlich nur noch diese Möglichkeit sieht, weil sie denkt, sie kann oder will nicht politisch auf Israel einwirken?
Westphal: Neben der "Luftbrücke", die ja keine richtige ist, hat die Bundesregierung auch kommuniziert, dass diese Lufthilfen natürlich bei weitem nicht ausreichen und dass sie auch keine Lösungen darstellen. Die Bundesregierung hat ja weiterhin zumindest öffentlich betont, dass es deutlich mehr Hilfslieferungen geben müsste, dass es einen deutlich verbesserten Zugang der notleidenden Menschen zu Hilfe geben muss, und das muss sie auch weiterhin tun: Also alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel ausnutzen, politische und diplomatische, um dementsprechend auch Druck auf die Regierung in Israel auszuüben.
"Nichts ist wieder in Ordnung, solange die israelische Regierung weiterhin die Hilfsgüter blockiert und nur eine Handvoll Lkws nach Gaza kommen"
Diese Luftabwürfe dürfen nicht dazu führen, dass von dem eigentlichen Problem abgelenkt wird. Sie dürfen nicht einen falschen Eindruck vermitteln, im Sinne von: "Jetzt ist alles wieder in Ordnung." Nichts ist wieder in Ordnung, solange die israelische Regierung weiterhin die Hilfsgüter blockiert und nur eine Handvoll Lkws nach Gaza kommen. Deutschland muss sich also weiterhin dafür einsetzen, dass wir wirklich zu einem dauerhaften Waffenstillstand kommen und Hilfsgüter verteilt werden.
Man darf nicht vergessen, dass diese katastrophale Situation bereits seit 21 Monaten andauert. Abgesehen von der allgemeinen Mangelernährung der Bevölkerung sterben immer mehr Kinder.
In den Medien wird verhältnismäßig wenig von dieser katastrophalen Lage berichtet, vielleicht auch, weil sie nicht in Gaza einreisen dürfen. Doch Nachrichten und Videos sickern durch und die deutsche Bevölkerung reagiert endlich. Jetzt wollen mehrere Städte Kinder aus Gaza und Israel aufnehmen. Sind dies, wie auch die "Luftbrücke" nur Tropfen auf einen heißen Stein?
Westphal: Ich würde einen Unterschied machen zwischen diesen Luftabwürfen einerseits und der Initiative der Städte andererseits. Ersteres wird von der Bundesregierung organisiert, die auch andere Mittel zur Verfügung hat, wie beispielsweise den politischen und diplomatischen Einfluss, um auf die Konfliktparteien einen gewissen Druck auszuüben. Städte haben diese Möglichkeit nicht, und sie verdienen Anerkennung dafür, dass sie im Rahmen ihrer Möglichkeiten alles versucht, um den Menschen in Gaza zu helfen.
"Viele deutsche Bürger und Bürgerinnen denken, eigentlich müsste viel mehr geschehen"
Ich finde es wichtig, dass auch die Städte und die Bevölkerung reagieren, da das ja auch eine Art von Druck auf die deutsche Regierung ausübt. Diese Hilfe seitens der Städte bringt ja auch etwas zum Ausdruck, was auch viele deutsche Bürger und Bürgerinnen denken, nämlich das Gefühl, eigentlich müsste viel mehr geschehen. Eigentlich müssten wir viel mehr machen, aber wir sind Bürger und Bürgerinnen, wir sind Kommunen, wir haben nicht die Mittel, die die Bundesregierung hat, um politisch Druck auszuüben.
Wichtig ist aber, dass diese Aktionen Aufmerksamkeit auf dieses unglaubliche Leiden lenken und so vielleicht auch alle Hilfsmöglichkeiten ausgeschöpft werden. So könnten beispielsweise sehr kranke Kinder in Deutschland behandelt werden. Auch wenn wir wissen, dass man immer so weit wie möglich versuchen sollte, Kinder dort zu versorgen, wo sie leben - in einem vertrauten Umfeld.
Wichtig ist, dass wir reagieren, denn diese Katastrophe spielt sich nicht im Verborgenen ab, sondern ist für jeden sichtbar – auch wenn keine internationalen Medien nach Gaza dürfen. In der öffentlichen Debatte ist Objektivität auch sehr wichtig. Die Auseinandersetzung um diese Katastrophe in Gaza ist extrem polarisiert worden, und das darf nicht sein. Ich möchte daher noch mal klarstellen: Uns von Save the Children geht es nicht um die militärisch-politische Auseinandersetzung, sondern um die Hilfe für Kinder, für Zivilist:innen.
Uns geht es um die Menschen, die aus gutem Grund von internationalem Recht geschützt werden müssen, weil sie nicht ein aktiver Teil dieses Konfliktes sind. Und das geht mir in der Debatte in Deutschland ein bisschen zu sehr unter, da man schon differenzieren muss zwischen politischen Auseinandersetzungen einerseits und dem grundlegenden Bedarf und Anspruch auf humanitäre Überlebenshilfe andererseits.
Was könnten die Kirchen in Deutschland tun, außer Spenden zu sammeln, wie jetzt beispielsweise die Rheinische Kirche oder die Lippische Landeskirche und an die Politiker zu appellieren?
Westphal: Kirchen erreichen nach wie vor sehr viele Menschen in diesem Land. Es ist wichtig, dass christliche Kirchen ganz bewusst keinen Unterschied machen und sich rein an humanitären Prinzipien ausrichten: Sich also für Kinder in Not einsetzen, egal wo diese Kinder herkommen und welcher Religion sie angehören. Das scheint mir eine sehr wichtige, grundlegende humanitäre Botschaft zu sein.
Die Kirchen können durch ihren Einsatz Aufmerksamkeit wecken und die eigenen Gemeinden mobilisieren. Es geht hier um den grundlegenden Anspruch auf humanitäre Hilfe, nicht um politische Zielsetzungen oder Auseinandersetzungen. Schließlich haben wir uns ja auch für Kinder in der Ukraine eingesetzt. Der Schutz der Kinder ist nicht nur im Völkerrecht verankert, sondern auch in unseren Werten, und das kann die Kirche meiner Meinung nach gut vermitteln.