"Nur wer einen Standpunkt hat, kann seinen Blick weiten"

Frau vor Schulklasse an Tafel
Matthias Bein/dpa/Matthias Bein
Reicht es für eigene Reli-Klassen für katholische und evangelische Kinder? Über neue Konzepte, alte Fragen und Museumsvitrinen spricht Pfarrer Jürgen Belz.
Zukünftiger Religionsunterricht
"Nur wer einen Standpunkt hat, kann seinen Blick weiten"
Das Schuljahr ist auf der Zielgeraden, in vier Wochen fangen die Sommerferien in einigen Bundesländern an. Doch die Schulleitungen planen längst das nächste Jahr. Wiederkehrende Frage in den Amtsstuben: Reicht es für eigene Reli-Klassen für katholische und evangelische Kinder? Denn längst schlagen Traditionsabbruch und Mitgliederschwund der Kirchen auf das Schulfach Religion durch. Über neue Konzepte, alte Fragen und Museumsvitrinen spricht Pfarrer Jürgen Belz, Direktor des Religionspädagogischen Zentrums der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern.

epd: Herr Belz, analog zum Mitgliederschwund der evangelischen Kirche sinken auch die Schülerzahlen im Religionsunterricht seit Jahren kontinuierlich. Wie begleitet das Religionspädagogische Zentrum Heilsbronn diesen Wandel?

Jürgen Belz: Zunächst muss man festhalten, dass etwa 15 bis 20 Prozent der Kinder im evangelischen Religionsunterricht gar nicht Mitglied der evangelisch-lutherischen Kirche sind. Das zeigt, dass unser Angebot auch bei Menschen ohne Konfession oder beispielsweise bei freikirchlichen oder orthodoxen Christen gern angenommen wird.

Dennoch wirkt sich der demographische Wandel natürlich auf die Schülerzahlen aus. Wo nicht genügend Kinder für eine eigene Religionsklasse zusammenkommen, können die Schulen deshalb seit einiger Zeit einen konfessionell-kooperativen Unterricht anbieten.

Was bedeutet das?

Belz: Das bedeutet, dass zum Beispiel die katholische Lehrkraft den Unterricht nach katholischem Lehrplan hält, dabei aber in besonderer Weise auf die evangelischen Kinder eingeht. Die Schätze ihrer Konfession werden zum Leuchten gebracht - das geht in beide Richtungen.

Bislang befanden sich der "Konfessionelle Religionsunterricht kooperativ" für die 1. und 2. Klasse sowie der "Religionsunterricht mit erweiterter Kompetenz" bis Klasse 9 in Grund- und Mittelschulen im Projektstadium. Ab dem nächsten Schuljahr 2025/26 werden sie als Unterrichtsformen verstetigt, weil sie sich bewährt haben.

Die Prognosen für die beiden großen Kirchen sind deutlich, bis etwa 2050 verliert die bayerische Landeskirche die Hälfte ihrer Mitglieder. Braucht es auch in Bayern schon rein aus organisatorischen Gründen bald Modelle wie beispielsweise in Hamburg, wo Schülerinnen und Schüler unabhängig von ihrer Religion einen gemeinsamen "Religionsunterricht für alle" besuchen?

Belz: Das ist nicht unser Ziel. Der "Religionsunterricht für alle" ist keineswegs einfacher zu organisieren, mit seiner Lehrplanentwicklung sind riesige Kommissionen befasst. Zudem hat er ein eher museales Konzept, das alle Religionen - bildlich gesprochen - nebeneinander in verschiedenen Vitrinen präsentiert. Das ist ein stark informativer Ansatz.

Reicht es für eigene Reli-Klassen für katholische und evangelische Kinder?, fragt sich Pfarrer Jürgen Belz.

Wir sind aber der Ansicht, dass Kinder sich eher eine eigene Haltung bilden können, wenn sie in einem konfessionellen Unterricht - ausgehend von ihren Fragen und ganz praktisch mit Bezug auf ihre eigenen Lebenswelten - Antworten des christlichen Glaubens kennenlernen. So können sie einen Standpunkt entwickeln, von dem aus sie ihren Blick und das Verständnis weiten für andere Religionen.

Natürlich sind die Prognosen zu den Mitgliedszahlen deutlich, und wir müssen auch beim Religionsunterricht mit neuen Konzepten darauf reagieren. Aber ich bin sicher, dass wir in Bayern auch in Zukunft den konfessionellen Religionsunterricht, wie er in der Verfassung festgeschrieben ist, haben werden.

Schwindende Schülerzahlen, neue Konzepte, fortschreitende Digitalisierung - da braucht es ständig angepasstes Unterrichtsmaterial. Lohnt sich das überhaupt noch für die Verlage?

Belz: Wir sind froh, dass wir da mit dem Claudius Verlag und dem Evangelischen Presseverband für Bayern langjährige Partner haben, mit denen wir eng zusammenarbeiten, Materialien entwickeln und neue Trends testen. So hat der Claudius Verlag als Modellprojekt vor einiger Zeit ein rein digitales Religionsbuch herausgebracht.

Es fand aber in den Schulen nicht den erhofften Anklang. Das zeigt uns: Natürlich sind digitale Materialien auch für den Religionsunterricht wichtig. Aber das Medium Buch trägt zur Entschleunigung bei und fördert den Lernprozess, indem man einen besseren Überblick gewinnt, als wenn man sich durch eine große Zahl von Textseiten scrollt. Klassische Unterrichtsbücher mit digitalem Zusatzmaterial bewähren sich.

Das RPZ bietet auch Beratung für Lehrkräfte an. Was sind da momentan die Hauptthemen?
Belz:
Zum einen natürlich die neuen Modelle von Religionsunterricht, zu denen wir viele Fortbildungen anbieten. Sehr häufig geht es aber auch um die schwierigen Verhaltensweisen von Schülerinnen und Schülern. Da bieten wir mit unseren Fortbildungen Methoden zum Classroom-Management an.

Dabei arbeiten Lehrkräfte mit Kolleginnen und Kollegen daran, mit Störungen produktiv umzugehen, damit sich trotzdem eine gute Lernatmosphäre für die ganze Klasse entwickelt. Die Arbeit an der eigenen Autorität und Leitungskompetenz steht ebenfalls im Mittelpunkt.

Wie erreicht man Kinder und Jugendliche heute mit religiösen Inhalten?

Belz: Indem man einen Zugang zu ihrer Lebenswelt findet. Kindheit und Jugend haben sich verändert, aber die Grundfragen sind die gleichen geblieben: Wo ist mein Platz in einer Gruppe? Auch die großen Lebensfragen tauchen immer wieder auf, zum Beispiel: Was passiert nach dem Tod? Ich bin überzeugt, dass Kinder bei solchen Fragen sprachfähig sind - das sollte man fördern, zum Beispiel durch das Konzept "Theologisieren mit Kindern".

Insgesamt habe ich den Eindruck, dass die Freiräume und Spielräume für Kinder und Jugendliche heute geringer sind als früher. Vieles ist durchstrukturiert, die Leistungsanforderungen und Bildungsansprüche sind höher. Es ist wichtig, dass wir die Kinder dabei begleiten. Dieser Aufgabe stellt sich auch der konfessionelle Religionsunterricht.