"Wir bleiben, weil wir nichts mehr zu verlieren haben"

Rauch steigt aus dem Gebäude des iranischen Staatssenders in Teheran auf nach einem israelischen Angriff.
AP/dpa
Nach den Angriffen Israels auf den Iran spitzt sich die Lage in Teheran immer mehr zu. Die iranische Bevölkerung kann sich nicht in Schutzbunker zurückziehen.
Israel-Angriffe im Iran
"Wir bleiben, weil wir nichts mehr zu verlieren haben"
Gastkommentar
Für Soheila und ihre Familie gibt es keinen sicheren Ort, an den sie sich zurückziehen könnten. Die iranische Regierung hat gesagt, dass sich die Menschen in U-Bahn-Stationen in Sicherheit bringen könnten – aber sind diese wirklich sicher? Ein Gastkommentar von Amal-Redakteurin Maryam Madani.

Gestern habe ich mit meiner Freundin Soheila in Teheran gechattet. Das Internet war so schwach, dass wir nur texten konnten, ein Videocall war unmöglich. Sie schrieb, dass sie gerade mit ihrer Tochter und ihrem Mann am Fenster stand und die Raketen und Drohnen beobachtete, die aus Israel kamen.

"Was macht ihr?", fragte ich. "Wir bleiben, weil wir nichts mehr zu verlieren haben", schrieb sie zurück. Sie wolle in Teheran ausharren, solange es geht – auch wenn das Internet abgeschaltet wird und Strom und Gas ausfallen. Seit gestern habe ich nichts mehr von ihr gehört.

Für Soheila und ihre Familie gibt es keinen sicheren Ort, an den sie sich zurückziehen könnten. Die iranische Regierung hat gesagt, dass sich die Menschen in U-Bahn-Stationen in Sicherheit bringen könnten – aber sind diese wirklich sicher? In den sozialen Netzwerken schreiben viele, dass die U-Bahnen vermutlich bei einem Raketeneinschlag einstürzen und die Menschen unter den Trümmern begraben. Gleichzeitig kursieren Bilder von sicheren unterirdischen Tunneln in Israel – Orte, in die sich Menschen zurückgezogen haben, um ihr Leben zu schützen. Sie zweifeln nicht, dass sie überleben werden.

Genau an diesem Punkt richtet sich die Kritik und der Vorwurf gegen das Regime der Islamischen Republik: Denn die Machthaber im Iran haben zwar in den vergangenen 46 Jahren ständig Propaganda betrieben und über einen Krieg gegen das, was sie "Imperialismus und Zionismus" nennen, gesprochen. Sie haben enorme Summen in das Atomprogramm investiert.

Menschen zwischen zwei Feinden eingeklemmt

Aber für den Fall, dass es wirklich einmal zum Krieg kommt, haben sie keinen einzigen Schutzbunker für die Bevölkerung gebaut. Ein Regime, das jeden Morgen Schulkinder dazu zwingt, "Tod Israel" und "Tod Amerika" zu rufen – hat es nie damit gerechnet, dass es tatsächlich einmal zu einem Krieg mit diesen Ländern kommen könnte? Diese zentrale Frage offenbart das wahre Verhältnis des Regimes zu seinem Volk.

Die Menschen im Iran sind derzeit zwischen zwei Feinden eingeklemmt: einem inneren Feind – dem eigenen Regime – und einem äußeren. Seit seiner Gründung hat das Regime der Islamischen Republik keine Hemmungen gezeigt, jegliche Form von Opposition brutal zu unterdrücken. In den letzten Jahren wurden viele Oppositionelle, etwa der Grünen Bewegung oder der "Frau, Leben, Freiheit"-Bewegung ermordet. Aber die Menschen haben sich nicht kleinkriegen lassen, mit zivilem Ungehorsam reagiert und immer wieder, wo sich Gelegenheiten boten, die Machthaber in Bedrängnis gebracht.

Hoffen auf ein schnelles Kriegsende

Die Menschen im Iran haben kein Vertrauen in ihre Regierung. Seit Beginn der israelischen Militäraktion am Freitag, dem 13. Juni, sind viele von widersprüchlichen Gefühlen erfasst. In den sozialen Netzwerken sieht man, dass sie einerseits über den Tod führender Regimevertreter froh sind, andererseits aber Angst vor den Konsequenzen des Krieges haben. Viele hofften, dass der Krieg nach ein, zwei Tagen vorbei wäre – doch nicht nur dauert er an, er eskaliert mit jeder Stunde weiter.

Israel, das zunächst nur Atomanlagen angreifen wollte, forderte am Morgen des 16. Juni die Bevölkerung auf, Teheran zu verlassen. Das würde für über fünfzehn Millionen Einwohner:innen bedeuten, ihr Zuhause zu verlassen. Seit Beginn des Krieges wurde der Benzinverkauf auf 15 Liter pro Person reduziert, und die Menschen müssen für den Kauf stundenlang in langen Schlangen stehen.

Menschen wissen nicht, wohin sie gehen sollen

Eine große Frage, die viele Nutzer:innen in den sozialen Netzwerken stellen, lautet: "Wohin sollen wir gehen?" Nicht jeder kann einfach so gehen, und niemand weiß, wie lange das alles dauern wird. Angesichts der Sanktionen und des wirtschaftlichen Drucks der letzten Jahre können es sich viele Menschen nicht leisten, auf unbestimmte Zeit in einer anderen Stadt ein Hotel zu nehmen. Sie sind gezwungen, Zelte aufzuschlagen und auf der Straße zu leben. Aber was ist mit denen, die kein Auto haben – wie sollen sie fliehen?

All das geschieht, während die Führungskader der Islamischen Republik nach und nach ihre Koffer packen und gemeinsam mit ihren Familien das Land verlassen. Obwohl der Flughafen Mehrabad in Teheran – wie viele andere Flughäfen im Iran – angegriffen und geschlossen wurde, startet täglich mindestens ein Passagierflugzeug mit unbekannten Passagieren aus Teheran.
Die israelische Aufforderung zur Evakuierung Teherans hat bei vielen die letzte Hoffnung zerstört. Diese Forderung zeigt, dass der Krieg in eine neue, ernstere und brutalere Phase eintritt.

Heute habe ich wieder versucht, meine Freundin zu erreichen – bisher ohne Erfolg. Wie so oft in Krisensituationen hat die Islamische Republik das Internet gedrosselt, um die Menschen zu isolieren und ihre Stimmen nicht über die Landesgrenzen hinausdringen zu lassen. In den sozialen Netzwerken sehe ich Bilder von Autokolonnen, die Teheran verlassen. Aber ist meine Freundin Soheila mit ihrer Familie in einem dieser Autos?