Einst waren es fast 2.000 Familien mit Kindern, die den langen Weg durch die Gerichtsinstanzen antraten. Heute ist nur noch eine Familie mit vier minderjährigen Kindern aus Waldshut-Tiengen (Kreis Waldshut) übrig, die mithilfe des Deutschen Familienverbands und des Familienbunds der Katholiken Beschwerde vor dem Europäischen Menschengerichtshof in Straßburg eingelegt hat. Sie argumentiert, dass ihr Einsatz und finanzieller Aufwand bei der Kindererziehung bei den Beiträgen zur Renten- und Krankenversicherung nicht angemessen berücksichtigt wird. Vertreten wird sie vom früheren hessischen Landessozialrichter Jürgen Borchert.
Die Verbände verweisen darauf, dass Eltern mit minderjährigen Kindern de facto doppelt in die Sozialversicherungen einzahlen: Von ihnen fließen nicht nur Geldbeiträge in die Renten-, Kranken- und Pflegeversicherung, sie tragen auch die Kosten für die Erziehung ihrer Kinder. Und sie betonen: Ohne die Beitragszahlerinnen und -zahler von morgen würde der Generationenvertrag nicht funktionieren. "Bisher wird die Bedeutung der Kindererziehung nur völlig unzureichend berücksichtigt", erläuterte Geschäftsführer Matthias Dantlgraber vom Familienbund der Katholiken.
Doch das Bundesverfassungsgericht folgte 2022 dieser Argumentation für die Renten- und Krankenversicherung nicht. Einen Teilerfolg konnten die Kläger verbuchen: Bei der Pflegeversicherung gab das Gericht den Familien recht. "Dadurch bezahlen Millionen Familien seit August 2023 weniger Pflegeversicherungsbeiträge - im Durchschnitt 150 Euro weniger pro Jahr und Kind", erklärt der Familienbund der Katholiken.
Das Bundesverfassungsgericht befand, dass die elterlichen Nachteile durch die Anrechnung von Kindererziehungszeiten in der Rente sowie die beitragsfreie Mitversicherung in der Krankenversicherung ausgeglichen seien. Dass die Beitragsstrukturen Ursachen für Kinder- und Familienarmut sind, sei kein Problem der Sozialversicherung. Familien könnten sich an die Jobcenter wenden oder Sozialhilfe beziehen. Ebenso könnten Mütter der drohenden Altersarmut durch eine höhere Erwerbsbeteiligung entgegenwirken.
Abgabenzwang ist Ursache der Verarmung
Dem widerspricht Jürgen Borchert entschieden: "Der Abgabenzwang zur Sozialversicherung ist die wesentliche Ursache der Verarmung sozialversicherter Eltern." Familien mit einem Durchschnittseinkommen und zwei Kindern landeten netto durch die Abgabenlast unweigerlich unter dem Existenzminimum. "Mit einem Kinderfreibetrag in der Sozialversicherung könnten finanzielle Belastungen abgefedert werden, ohne dass Familien auf Sozialleistungen angewiesen sein müssten", sagt der Jurist.
"Als Ausgleich für diese Schieflage braucht es in der Sozialversicherung einen Kinderfreibetrag, der sicherstellt, dass auf das Existenzminimum von Kindern keine Sozialabgaben erhoben werden. Im Steuerrecht ist das eine Selbstverständlichkeit und verfassungsrechtliche Vorgabe", sagt Sebastian Heimann, Bundesgeschäftsführer des Deutschen Familienverbands.
"Bei der Menschenrechtsbeschwerde in Straßburg geht es darum, die Beitragsstrukturen mit der Wirklichkeit des Dreigenerationenvertrags in Einklang zu bringen", sagt Borchert. "Nicht die Beiträge der Vergangenheit, sondern nur die zukünftigen Beiträge der Nachwuchsgeneration können den Alten einen sorgenfreien Lebensabend verschaffen." Wer keine Kinder großziehe, baue seine Zukunft auf die Kinder anderer Leute. Diesen Zusammenhang missachte das Beitragsrecht der Sozialversicherung und diskriminiere die Elternleistungen, führt Borchert weiter aus.
Niemand kann vorhersagen, wie Straßburg entscheidet. "Das Gericht könnte einen Verstoß gegen die Menschenrechtskonvention feststellen", sagte Katja Weniger, Sprecherin des Familienbunds der Katholiken, dem Evangelischen Pressedienst (epd). Zwingend gewonnen sei damit aber noch nichts: "Der Gesetzgeber verfügt über einen eigenen Spielraum, wie er damit umgehen möchte."