evangelisch.de: Herr Professor Lohmann, wie nehmen Sie die derzeitige gesellschaftliche Stimmung in Deutschland wahr – wie erleben Sie Ihre Student:innen? Stichwörter: Unsicherheit, Kriegssorgen und innenpolitische Spannungen…
Friedrich Lohmann: Mein Eindruck ist, dass mit dem Antritt der neuen Koalition politisch etwas Ruhe eingekehrt ist. Die Ampelkoalition hatte, teilweise ja auch durchaus berechtigt, jedes Vertrauen in der Bevölkerung verloren. Nun herrscht die Stimmung: "Schaun wir mal", wobei sich das schnell ändern kann, denn die Herausforderungen sind riesig.
Meine Studierenden, alles Offiziere der Bundeswehr am Anfang ihrer Laufbahn, sind natürlich vor allem wegen der außenpolitischen Lage besorgt. Die Bundeswehr-Brigade in Litauen wäre ganz dicht dran, wenn es zu einem russischen Angriff auf das Baltikum käme. Niemand setzt gern sein Leben aufs Spiel. Zugleich sehe ich eine klare Bereitschaft, unsere Wertordnung gegen einen Angriff zu verteidigen, wenn es sein muss. Vor dieser Haltung habe ich großen Respekt.
Viele Menschen empfinden ein diffuses Gefühl von Bedrohung. Halten Sie diese Sorgen für übertrieben?
Lohmann: Keineswegs. Ich stimme denen zu, die sagen, dass die gegenwärtige Situation die gefährlichste ist, seit es die Bundesrepublik gibt. Wir sind ziemlich nah dran an dem, was man einen perfekten Sturm nennt: Mehrere Faktoren, die zusammenkommen und die Lage hochschaukeln. Ein revisionistisches Russland, eine USA, die ihr Sicherheitsversprechen gegenüber West- und Mitteleuropa in Frage stellt, wirtschaftspolitische Experimente des US-Präsidenten, eine wachsende Polarisierung der deutschen Gesellschaft, den Klimawandel, der uns immer größere Probleme machen wird.
Die Bundesregierung hat ein milliardenschweres Schuldenpaket auf den Weg gebracht – vor allem für Verteidigung und Infrastruktur. Wie bewerten Sie diese Maßnahme aus Ihrer Sicht (auch ethisch)?
Lohmann: Wenn ich mal mit der Ethik anfange: Sicherheit, Schutz der Bürgerinnen und Bürger vor Gewalt gilt in den meisten ethischen Traditionen der Menschheit als zentrale Aufgabe der Politik. Deutschland konnte sich seit 1989 leisten, vergleichsweise wenig Geld für Sicherheit auszugeben, weil in Europa weitgehend Frieden herrschte und die USA unsere Sicherheit garantierten. Beides fällt nun weg, und um sein Sicherheitsversprechen dennoch einzuhalten, muss der Staat viel Geld in die Hand nehmen. Und dass die Infrastruktur ausgebaut werden muss, wird einem bei jeder Reise in Deutschland leidvoll bewusst. Auch das ist eine zentrale Aufgabe des Staates, von der die gesamte Bevölkerung profitiert.
"Aus Sicht der zukünftigen Generationen ist jeder Euro, den wir heute für die sozial-ökologische Transformation unserer Gesellschaft und für den Erhalt der Europäischen Union und ihrer Wertordnung aufwenden, gut angelegt"
Kritiker sprechen von einem "Wortbruch" angesichts der Schuldenbremse. Wie lässt sich ein solches Dilemma zwischen fiskalischer Verantwortung und akuter Notwendigkeit ethisch einordnen?
Lohmann: Als 2009 die Schuldenbremse ins Grundgesetz aufgenommen wurde, konnte niemand ahnen, dass sich das politische Umfeld Deutschlands innerhalb von 15 Jahren so dramatisch ändern würde. Und schon damals gab es Kritik an ihr von wissenschaftlicher Seite, sich ohne Not die Möglichkeit zu nehmen, bei besonderen Herausforderungen flexibel und anti-zyklisch, im Sinne eines Konjunkturprogramms, zu reagieren. Aus Sicht der zukünftigen Generationen ist jeder Euro, den wir heute für die sozial-ökologische Transformation unserer Gesellschaft und für den Erhalt der Europäischen Union und ihrer Wertordnung aufwenden, gut angelegt. Ich sehe darin kein unverantwortliches Handeln.
Welche Werte sollten bei sicherheitspolitischen Entscheidungen im Vordergrund stehen – Gerechtigkeit, Schutz, Frieden, Freiheit?
Lohmann: Das sind vier Werte, die allesamt wichtig sind. In der Friedensethik hat sich in den letzten Jahrzehnten das Leitbild des gerechten Friedens durchgesetzt. Dieser gerechte Frieden hat vier Dimensionen: Schutz vor Gewalt, Förderung von Freiheit, Abbau von Not, Anerkennung kultureller Verschiedenheit. Das eine ist nicht ohne das andere zu haben. Realpolitisch wird man hier und da Abstriche machen müssen, zum Beispiel in der Ukraine, für die ein Waffenstillstand mit Russland wohl unvermeidlich mit ungerechten Gebietsabtretungen verbunden sein wird. Aber dennoch möchte ich am Ideal eines gerechten Friedens in seinen vier Dimensionen festhalten.
Was heißt in Ihren Augen heute: politisch verantwortlich handeln – in einer Zeit, in der sich die Weltlage dramatisch verändert?
Lohmann: Ich knüpfe mal an das an, was Max Weber vor gut 100 Jahren zur Politik als Beruf gesagt hat: nicht prinzipienlos handeln, aber zugleich immer die Folgen des eigenen Handelns für das Ganze im Blick behalten. Der Populismus erfüllt keine dieser beiden Forderungen, denn er ist opportunistisch und kurzsichtig. Verantwortlich wäre eine anti-populistische Politik, die auf wissenschaftlicher Basis, langfristig und gemeinwohlorientiert vorgeht.
Welche Rolle spielt eigentlich die Ethik an einer Institution wie der Bundeswehr-Universität?
Lohmann: Wir haben zwei Ethik-Professuren an der ganzen Universität – das ist nicht sehr viel und entspricht in etwa dem, was andere Universitäten haben. Mein katholischer Kollege und ich unterrichten nur an einer von zehn Fakultäten, der Fakultät für Staats- und Sozialwissenschaften. Das heißt natürlich nicht, dass Ethik sonst überhaupt nicht vorkommt. So gibt es zum Beispiel wie an anderen Universitäten eine Ethikkommission, die Vorhaben für Forschung mit Probandinnen und Probanden ethisch beurteilt.
Ist es überhaupt möglich, eine ethisch reflektierte Verteidigungspolitik zu betreiben – oder ist Sicherheit letztlich immer auch ein schmutziges Geschäft?
Lohmann: Gerade da, wo die Gefahr, unethisch zu handeln, besonders groß ist, sind ethische Reflexion und die Berücksichtigung ethischer und rechtlicher Regeln besonders wichtig, also auch und gerade in militärischen Konflikten. Das ist auch grundsätzlicher Konsens – die vier Genfer Konventionen sind wirklich von allen Staaten dieser Welt ratifiziert worden. Ebenso gibt es Verträge für zum Beispiel Waffenhandel und Regeln für Rüstungsexporte. Bei der Bundeswehr und in der deutschen Verteidigungspolitik sehe ich ein großes Bemühen, sich daran auch zu halten.
"Ich halte es für verfehlt, im Blick auf das Sondervermögen und die wachsenden Verteidigungsausgaben von einer Militarisierung der Gesellschaft zu sprechen"
Welche Rolle können Theologie und Kirche bei der Frage spielen, wie viel Militarisierung eine demokratische Gesellschaft verträgt?
Lohmann: Ich halte es für verfehlt, im Blick auf das Sondervermögen und die wachsenden Verteidigungsausgaben von einer Militarisierung der Gesellschaft zu sprechen. War die bundesdeutsche Gesellschaft während des Kalten Kriegs militarisiert? Und doch wurden damals kontinuierlich circa drei Prozent des BIP (Bruttoinlandsprodukt, Anm. d. Red.) in Rüstung investiert. Theologie und Kirche haben die Aufgabe, das Ideal des gerechten Friedens in der Gesellschaft hoch- und wachzuhalten. Aber wenn zu diesem gerechten Frieden auch der Schutz vor Gewalt gehört, dann hat eine Verteidigungsarmee wie die Bundeswehr in ihm ihren legitimen Platz.
Was würden Sie sich im aktuellen Diskurs wünschen – von Medien, Politik, aber auch von kirchlichen Akteuren?
Lohmann: Aktuell scheint mir die Ehrlichkeit besonders wichtig, die die Zumutungen, die angesichts der Welt- und Klimalage unvermeidlich sind, nicht verschweigt.
Und zuletzt: Was gibt Ihnen persönlich Hoffnung in einer Zeit, in der sich so vieles wandelt?
Lohmann: Neulich auf dem Kirchentag war ich auf einem Forum zur globalen Umweltkrise, und dort haben mich die Worte eines afrikanischen Klimaaktivisten beeindruckt, der sinngemäß sagte: Wir haben die Sklaverei abgeschafft, wir haben den Kolonialismus beendet, und wir werden auch Lösungen gegen den Klimawandel finden. Ich weiß nicht, ob ich diese Hoffnung teilen würde, denn der Vergleich zeigt doch nur, wie ungleich schwieriger das mit dem Klimawandel ist. Er findet statt, und abschaffen können wir ihn nicht mehr, nur noch etwas verträglicher machen. Aber den Gedanken, dass wir als Menschheit doch schon einiges erreicht haben, was Hoffnung für die Herausforderungen der Gegenwart gibt, mache ich mir gern zu eigen.