Besuch im größten Jugendgefängnis

David Lamers schließt Gefängnistür auf
© epd-bild/Jens Schulze
Pressesprecher der JA Hameln, David Lamers, berichtet über den Alltag junger Gefangener.
Junge Straftäter
Besuch im größten Jugendgefängnis
Bundesweit haben in diesem Jahr Tötungsdelikte unter Teenagern für Entsetzen gesorgt. In der JA Hameln kümmern sich Vollzugsbeamte, Psychologen und Sozialarbeiter um Hunderte junger Gefangene. Ein Besuch in Deutschlands größtem Jugendgefängnis.

Grauer Himmel, grauer Beton, grauer Stacheldraht: Die Jugendanstalt (JA) Hameln sieht an diesem trüben Herbsttag besonders trostlos aus. Regen peitscht über das 20-Hektar-Gelände des größten Jugendgefängnisses Deutschlands südlich von Hameln in Niedersachsen. Ein paar Jungs schieben mit hochgezogenen Schultern eine Sackkarre - neugierig schauen sie hoch, einige lächeln scheu.

417 junge Männer sitzen zurzeit in der JA Hameln - unter ihnen Sexualstraftäter und Mörder. Ein heute 15-Jähriger, der im Januar in Wunstorf einen Mitschüler ermordet hat, ist hier inhaftiert: zehn Jahre mit vorbehaltlicher Sicherungsverwahrung. Ebenso ein zur Tatzeit 14-Jähriger, der im Sommer 2022 in Salzgitter eine 15-Jährige tötete. Das Urteil: acht Jahre.

Nachdem die Jugendkriminalität über Jahrzehnte zurückgegangen war, zeigt die Polizeistatistik für 2022 einen Anstieg. Laut Bundesinnenministerium waren 2022 etwa 93.000 Kinder tatverdächtig, das ist ein Plus von rund 16 Prozent gegenüber dem Vor-Corona-Jahr 2019. Bei den Delikten handelt es sich meist um Diebstahl, Beleidigungen, leichte Körperverletzungen. Tötungsdelikte sind bei Jugendlichen trotz aller Schlagzeilen weiterhin selten.

Für junge Straftäter ist die JA Hameln ein Zuhause auf Zeit, Ziel ist die Resozialisierung. Dieser Gedanke wird im Jugendstrafrecht großgeschrieben. Er kommt laut niedersächsischem Justizvollzugsgesetz noch vor "dem Schutz der Allgemeinheit vor weiteren Straftaten". Der Vollzug sei erzieherisch zu gestalten, heißt es.

Roland Neumann ist Tischler und Ausbildungsmeister in der JA Hameln.

Die Gefangenen leben in Wohngruppen. Zu acht sind sie in Einzelzellen in einem Hafthaus untergebracht, betreut von einem Justizvollzugsfachwirt, so die offizielle Bezeichnung für das, was der Volksmund abfällig "Wärter" nennt. "Die sind wichtige Bezugspersonen, fast wie Mutter oder Vater", sagt JA-Sprecher David Lamers.

Der Tag ist eng getaktet

Die Zellen sind klein, neun Quadratmeter. Ein Bett mit dünner Matratze, ein Schrank schmal wie ein Spind, Tisch, Stuhl, ein vergittertes Fenster, eine Toilette mit Tür. Der Tagesablauf ist eng getaktet. Er beginnt morgens um sechs Uhr mit der "Lebendkontrolle", es folgten Schule, Arbeit, Sozialtherapie, Freizeit - bis die Zellentür sich am Abend wieder schließt.

Einige Gefangene haben einen Fernseher. Wer beleidigt und prügelt, ist das Gerät aber schnell wieder los. "Das will niemand", sagt Lamers. Immerhin verspricht der Fernseher etwas Zerstreuung. Internet und Handys sind in der JA tabu - für Insassen wie Bedienstete. "Unsere Drogenhunde können sogar Speichermedien erschnüffeln."

Die Erziehung in der JA ist geprägt von strengen Regeln, einer klaren Erwartungshaltung und Privilegien für die, die sich an die Vorgaben halten. Nach dieser Bereitschaft werden die Gefangenen eingeteilt. In Haus drei leben die "Verweigerer". Sonderrechte gibt es für sie nicht. Sie können zwar zur Schule oder zur Arbeit gehen, haben aber nur kurze und eng überwachte Freizeitintervalle außerhalb ihrer Zelle.

Wer sich an die Regeln hält, wird belohnt

In Haus neun leben die Kooperationswilligen. Laute Bässe schallen aus einer Zelle. Sozialarbeiterin Linda Faix öffnet die Klappe in der Stahltür. "Machen Sie bitte leise", ruft sie. Sofort ist die Musik aus. Wer sich an die Regeln hält, wird belohnt. In Haus neun dürfen die Gefangenen Privatkleidung tragen, sich eine TK-Pizza in den Ofen schieben. Sie haben längere "Aufschlusszeiten" - zum Beispiel, um Sport zu treiben.

Tischtennis, Spinning, Badminton, Fußball - das Angebot ist groß: Es gibt einen Rasenplatz mit Aschenbahn, einen Basketball- und Beachvolleyballplatz und eine Indoorhalle. "Sport ist im Alltag der JA eine wichtige Säule", sagt Lamers.
Ebenso wie Schule und Arbeit. Es gibt Haupt- und Realschulkurse, Sprach- und Integrationskurse. Dazu kommt die berufliche Ausbildung - etwa zum Mechaniker, Tischler, Maler, Maurer, Koch. 62 Prozent der Inhaftierten haben keinen Schulabschluss, 99 Prozent keine Berufsausbildung.

Für Roland Neumann ist Arbeit das A und O. Breitbeinig und gut gelaunt steht er in der Gefängnistischlerei. Insassen sägen und schleifen, es duftet nach Holz. "Wer nach einem Tag harter Arbeit kaputt nach Hause geht, macht keine Dummheiten mehr", sagt der Tischlermeister. "Hier lernen die Jungs, dass Fähigkeiten zählen und nicht, wer der größte Macker ist."

Fast alle Gefangenen kommen laut Lamers aus "broken homes", einem kaputten Zuhause: Vernachlässigung, Gewalt, Drogen haben ihre Jugend geprägt. Zwei Drittel haben Suchtmittelerfahrung, 45 Prozent sind abhängig, sechs Prozent psychisch auffällig. Für sie gibt es Suchtbehandlungsplätze und eine Psychiatrie.
"Wer sich helfen lassen will, dem helfen wir mit ganzer Kraft", sagt Lamers. Es gibt Trainings für Gewaltfreiheit, Kurse für junge Väter, Schuldnerberatung und eine gründliche Entlassungsvorbereitung.

In einer besonderen Vollzugsabteilung der JA ist außerdem die "Sozialtherapie für Gewalt- und Sexualstraftäter" untergebracht. Dort muss dem Urteil des Landgerichts Hannover zufolge auch der Wunstorfer Jugendliche therapiert werden, der einen Mitschüler getötet hatte.

Stephan Warnecke ist seit Februar Seelsorger in der JA Hameln. Er ist überzeugt: "Reden hilft immer." Die Nachfrage nach Gesprächen, Halt gebenden Ritualen sei groß, sagt der evangelische Pastor. Sein Trumpf: "Gespräche mit mir fallen unter die Schweigepflicht."