Sommerzeit, Ferienzeit, Badezeit. Viele Deutsche zieht es auch in diesem Jahr wieder auf die Nord- und Ostseeinseln. Es locken saubere Strände, gutes Essen und Trinken, freundliche Bedienung. Wie seit gut 200 Jahren, als der deutsche Badetourismus begann sich zu entwickeln. Kaum bekannt aber ist heutigen Urlaubern, dass es an deutschen Badestränden schon im Kaiserreich eine strenge Trennung gab. Es gab Orte, an die Juden reisen konnten. Und Orte, die sich als "judenfrei" bezeichneten und damit sogar im ganzen Deutschen Reich warben. Heute spricht man vom Phänomen des so genannten "Bäder-Antisemitismus." Beispiel Norderney, das von Antisemiten als "Judeninsel" diffamiert wurde.
Wer heute nach Norderney reist, sieht auf den ersten Blick nichts von der jüdischen Geschichte der Insel. Wer Näheres wissen will, muss zum Beispiel ins Bademuseum gehen, wo Stadtarchivar Matthias Pausch monatlich einen Vortrag hält.
"Norderney gehört ab 1797 bzw. 1800 zu den frühen deutschen Bädern. Es war für jüdische Badegäste offensichtlich hier leichter gewesen, sich zu integrieren", erklärt Pausch.
Strenggläubige Badegäste sorgten dafür, dass auf der Insel eine koschere Infrastruktur entstand mit eigener Fleischerei, Bäckerei, Hotels und Pensionen. Von der Gemeinde Norden aus wurde eine Filialgemeinde mit eigener Synagoge errichtet, damit in der Sommerfrische Gottesdienste stattfinden konnten. Sogar ein jüdisches Kindererholungsheim entstand auf Norderney.
Als jüdischer Badegast noch willkommen
"Ich weiß, dass viele jüdische Badegäste sogar aus dem Ausland hergekommen sind, zum Teil aus Russland, aus den damals polnischen Gebieten, die zu Deutschland, Russland, Österreich gehörten. Die sind aber nicht unbedingt hierhergekommen, weil es hier besonders schön gewesen ist", sagt Matthias Pausch weiter.
Jüdische Badegäste nahmen vielmehr die zum Teil weite Anreise in Kauf, weil sie hier auf Norderney ungestört ihren Aufenthalt genießen konnten, ohne ihr Judesein verstecken zu müssen.
Denn längst gab es Urlaubsorte, die sich als "judenfrei" bezeichneten. Allmählich wurde klar, wo Juden hinreisen konnten und wohin nicht. Schon die Nachbarinsel Borkum, die später als Norderney in den Bädertourismus einstieg, wollte keine Juden mehr aufnehmen.
"Borkum war im Badetourismus ein so genannter late comer. Gäste kamen nun vor allem aus der Mittelschicht, die teils starke antisemitische Stereotype mit auf die Insel brachten. Es gibt auch einen Borkum- Reiseführer von 1893, in dem steht: Ein großer Vorzug ist, dass es frei von Juden ist", sagt Stadtarchivar Pausch.
Der Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens gab alsbald Warn-Listen heraus. Die Urlaubsorte, an denen Juden unerwünscht waren, wurden immer mehr. 1899 war das noch ein kurzer Abschnitt mit vielleicht 30 bis 40 Ortschaften. 1929 dann wuchs die CA-Liste auf mehrere Seiten an. Hunderte Einrichtungen, Pensionen und Hotels bis hin zu ganzen Ortschaften waren antisemitisch eingestellt.
Zum Ende der Weimarer Republik hin kippte dann auch auf Norderney die Stimmung. Ende der 1920er Jahre gründete sich hier eine Ortgruppe des deutschnationalen Stahlhelms, der gegen die Juden auf der Insel hetzte. Mit Machtantritt der Nazis erstarb das jüdische Leben auf Norderney dann rasch. Symbol dafür ist die Badedame von Norderney, mit der die Insel schon in den 1920er Jahren warb und mit der heute auch noch das Bademuseum von Norderney wirbt.
"Sie wurde 1933 von den Nationalsozialisten schnell missbraucht. Es gab dann eine Briefverschlussmarke mit dem Spruch ‚Norderney ist judenfrei‘", weiß Matthias Pausch.
Allerdings saßen die Nazis zu dem Zeitpunkt noch nicht ganz fest im Sattel. Gegen den Missbrauch der Badedame gab es eine Protestwelle. Denn die Gastronomen der Insel waren noch auf das Wohlwollen der ausländischen Presse bedacht. Wenn schon Juden unerwünscht waren, so wollte man doch weiterhin zahlungskräftige Badegäste aus dem Ausland beherbergen. Die judenfeindliche Briefverschlussmarke wurde schleunigst wieder aus dem Verkehr gezogen.
Ein studentisches Projekt an der Universität Münster hat dieses Jüdische Leben untersucht. Als das daraus resultierende Buch "Jüdisches Leben auf Norderney" im Juni 2017 in der Inselbibliothek vorgestellt wurde, gab es aber nicht nur Zustimmung, erinnert sich Martin Radermacher, der heute Religionswissenschaftler an der Uni Bochum ist und damals Teil der Studiengruppe war: "Da wurde deutlich, dass gerade die alteingesessenen Norderneyer durchaus Schwierigkeiten mit dem Thema haben und das Echo war gespalten. Es gab Antisemitismus auf Norderney wie überall in Deutschland, das muss aufgearbeitet werden. Und andere, die sagten: Na ja, wenn Ihr hier ankommt unter dem Titel ‚Jüdisches Leben auf Norderney‘, warum dann all diese Geschichten über Ausgrenzung, Vertreibung, Diffamierung, Antisemitismus?"
Auf Nachfrage schreibt der Bürgermeister von Norderney aber, dass sich die Insel heute offen und ehrlich zur jüdischen Geschichte bekenne. In den Insel-Schulen würde das etwa thematisiert. Und auch der Stadtarchivar betont, dass nichts versteckt werde. So gibt es eben auch auf Norderney Stolpersteine. Allerdings nur wenige.
"Bei den Stolpersteinen sind es tatsächlich nur acht Stück. Das liegt daran, dass nach 1933 vielen Norderneyer Juden die wirtschaftliche Grundlage weitestgehend genommen wurde. Sie haben die Insel früh verlassen. Es sind im Grunde genommen drei, vier Familien, die hier noch länger nach 1933 unterwegs gewesen sind", sagt Matthias Pausch.
Auch gibt es eine Gedenktafel für die ehemalige Synagoge in der Stadt. Infotafeln im Bademuseum geben Auskunft über das jüdische Leben auf Norderney. Wer also das jüdische Leben auf Norderney erforschen will, der kann fündig werden. Nur muss man sich dafür erst auf die Suche begeben.
Lesetipp: Lisa Andryszak, Christiane Bramkamp (Hg.), Jüdisches Leben auf Norderney. Präsenz, Vielfalt und Ausgrenzung, Veröffentlichungen des Centrums für religionsbezogene Studien Münster, LIT-Verlag 2016, 360 Seiten, 34,90 €