Filmemacher zieht Bilanz zu Merkels Kult-Satz

Dokumentarfilmer Marcus Vetter in Jenin im Westjordanland im Jahr 2011
epd-bild / Eikon
Dokumentarfilmer Marcus Vetter in Jenin im Westjordanland im Jahr 2011 bei Dreharbeiten zu seinem Dokumentarfilm "Das Herz von Jenin", der mit dem "Robert-Geisendörfer-Preis" der EKD ausgezeichnet wurde.
Markus Vetter rechnet ab
Filmemacher zieht Bilanz zu Merkels Kult-Satz
Zehn Jahre nach Merkels Satz "Wir schaffen das" zieht Filmemacher Markus Vetter eine ernüchternde Bilanz. Im Gespräch mit evangelisch.de beschreibt er, warum die damalige Vision seiner Ansicht nach gescheitert ist, welche Rolle Krieg und gesellschaftliche Spaltung spielen – und wie seine Filme dennoch Brücken schlagen wollen.

evangelisch.de: Wenn Sie heute zurückblicken: Was ist aus Angela Merkels Satz "Wir schaffen das" geworden – hat sich diese Vision erfüllt oder zersplittert?

Markus Vetter: Leider liegt diese Vision in meinen Augen heute völlig in Trümmern. Es war das letzte Aufbäumen eines wahrlich humanistischen Ansatzes, der Deutschland tief gespalten hat. Diejenigen, die die Aussage kritisch gesehen haben, wurden von denen, die sie bejubelt haben, oft ungerechtfertigt als "rechts" abgestempelt. Eine solche gesellschaftliche Herkules-Aufgabe kann man jedoch nur vereint bewältigen, denn die Wahrheit liegt wie immer in der Mitte. Beide Seiten hatten irgendwie recht und hätten das Motto "Wir schaffen das" mit viel mehr Augenmaß und Solidarität angehen müssen.

Heute stehen wir vor einem gesellschaftlichen Scherbenhaufen. Ein Großteil der Gesellschaft befürwortet eine noch nie dagewesen Aufrüstung Europas. Diejenigen die davor warnen, werden oft mundtot gemacht. Die Kriegsrhetorik kommt aus ehemals pazifistisch ausgerichteten Parteien. Die Welt steht Kopf und ist nicht wiederzuerkennen. 

 

Sie erzählen in Ihren Filmen oft von Versöhnung, Identität und gesellschaftlichem Wandel. Welche Geschichten müssten heute erzählt werden, um Integration und Zusammenhalt neu zu denken?

Vetter: Wir müssen die selben Geschichten erzählen. Geschichten, die zeigen, dass man den Teufelskreis der Gewalt durchbrechen kann. Die Menschen sind im Kleinen auch offen für solche Geschichten und lassen sich immer noch davon berühren. Gleichzeitig lassen sie sich jedoch von den gut klingenden Argumenten beeinflussen, dass man zum Beispiel einen russischen Angriffskrieg nur auf dem Schlachtfeld entscheiden kann und dass man ihm nur mit Stärke entgegnen kann. Andere Meinungen werden medial nicht mehr wirklich zugelassen.

Dabei ist das in meinen Augen grundlegend falsch. Der Krieg selbst ist das größte Kriegsverbrechen, wie Ben Ferencz, einst der jüngste Ankläger in den Nürnberger Prozessen formuliert hat. Und er hat recht. Im Krieg gibt es keine Moral und keine Menschlichkeit mehr. Die Wahrheit ist das erste Opfer eines jeden Krieges. In Propaganda-Parolen werden wir darauf eingestimmt, warum Stärke die einzige Antwort ist, denn der Gegner würde uns sonst überrollen.

Als Hermann Göring in Nürnberg gefragt wurde, wie man es geschafft hat, ganz Deutschland für den Angriffskrieg zu vereinen, sagte er: "Natürlich will das Volk keinen Krieg … Aber … das Volk kann man immer aufwiegeln. Das ist ganz einfach. Man muss ihnen nur sagen, dass sie angegriffen werden, und die Pazifisten wegen fehlenden Patriotismus und Gefährdung des Landes diffamieren. Das wirkt in jedem Land gleich."

Wie gehen Sie mit der gegenwärtigen Eskalation in der öffentlichen Debatte um – und welche Rolle spielen dabei Ihre Filme?

Vetter: Es ist für mich sehr schwer, die momentane Entwicklung auszuhalten. Wir sind bereit, immer extremere Positionen einzunehmen. Die einen wollen Gaza dem Erdboden gleichmachen und das Übel mit der Wurzel ausreißen, die anderen schieben die Schuld einzig und allein auf Israel und sind ebenso extrem in ihrer Rhetorik. Es gibt nur noch wenige, die bereit sind, Brücken zu schlagen. 

Ich habe deshalb eine Trilogie von Filmen, die ich in Palästina und Israel zwischen 2008 und 2012 gedreht habe, neu aufbereitet und mit einem vierten Film über den Internationalen Strafgerichtshof erweitert. Letzterer, "War and Justice", ist ein zutiefst pazifistischer Film. Wenn ihn Menschen sehen, sind sie häufig bereit, ihre Haltung zum Krieg nochmal zu überdenken. 

Das "Herz von Jenin" erzählt die Geschichte des palästinensischen Vater Ismael Khatib aus Jenin, dessen Sohn von Israelischen Soldaten getötet wurde, und der trotz seiner tiefen Trauer als Zeichen des Frieden die Organe seines Sohnes an israelische Kinder spendet. "Cinena Jenin - Die Geschichte eines Traums" erzählt, wie hunderte freiwillige Helfer aus aller Welt nach Jenin kommen, um ein altes Kino in Jenin zu renovieren, das während der ersten Intifada geschlossen wurde. "Nach der Stille"
erzählt die Geschichte der Israelin Yael Armanet, die ihren Mann bei einem Selbstmordattentat durch einen Palästinenser aus Jenin verliert und sich aufmacht, die Familie des Selbstmordattentäters in Jenin zu besuchen, um Antworten auf das Geschehene zu bekommen.

Wenn Sie jetzt einen Dokumentarfilm über zehn Jahre nach "Wir schaffen das" drehen würden – welche Menschen, Orte oder Konflikte stünden im Mittelpunkt?

Vetter: Ich produziere derzeit einen Film, der mir sehr am Herzen liegt. Eine junge Deutsch-Taiwanesin hat sich in den Kopf gesetzt, eine Antikriegsflagge auf dem K2 zu hissen, und nimmt den gefährlichen Aufstieg auf den gefährlichsten Berg der Welt auf sich. Ein taiwanesisches Unternehmen möchte den Aufstieg sponsern. Als sie jedoch mitbekommen, dass es ein Projekt gegen den Krieg werden soll, steigen sie aus. Die junge Frau entscheidet sich, das Geld zurückzubezahlen und einen Kredit auf zunehmen.

Doch der Indien-Pakistan-Konflikt stellt sie vor ungeahnte Herausforderungen. Den Film mussten wir komplett vorfinanzieren, weil Filme, die den Krieg kritisch sehen, im Moment keine Konjunktur haben.