TV-Tipp: "Tatort: Vergebung"

Getty Images/iStockphoto/vicnt
19. November, ARD, 20.15 Uhr
TV-Tipp: "Tatort: Vergebung"
Mit seinen durch subtile Bildsprache eingefädelten Rückblenden überzeugt dieser Tatort aus Stuttgart besonders. Wieder einmal ist auch einer aus dem Ermittlerteam in den Fall verwickelt.

Meist fallen solche Sätze, wenn jemand aus der Nachbarschaft einen Mord begangen hat. Da wohnt man seit Jahr und Tag neben einem Menschen und stellt fest: Man kennt ihn gar nicht. Ganz ähnlich ergeht es Lannert und Bootz (Richy Müller, Felix Klare) in diesem sehenswerten "Tatort" aus Stuttgart mit ihrem Kollegen aus der Rechtsmedizin, als Daniel Vogt eines Tages unversehens selbst ins Zentrum der Ermittlungen gerät.

Im Grunde wissen die beiden Hauptkommissare rein gar nichts über den Kollegen. Für Vogt wiederum wird eine Furcht Realität, die ihn schon lange umtreibt: dass eines Tages eine Person auf seinem Obduktionstisch landen könnte, die er gut kennt.

Die Idee hatte Vogt-Darsteller Jürgen Hartmann selbst, das Drehbuch stammt von Katharina Adler und Regisseur Rudi Gaul; die beiden haben auch "Videobeweis" (2022) geschrieben, einen vorzüglich gestalteten und ausgezeichnet gespielten Stuttgarter "Tatort" mit Oliver Wnuk über einen Mord- und "MeToo"-Fall in einem Versicherungsunternehmen.

Die Umsetzung von "Vergebung" hat nicht ganz die Raffinesse des damaligen Films (Kamera hier wie dort: Stefan Sommer), ist aber erneut sehr durchdacht, zumal die Bilder immer wieder Details hervorheben und das aufmerksame Publikum erfreuen, weil zum Beispiel ein Schmetterling aus einer Rückblende viel später noch mal in gänzlich anderer Form und Umgebung auftaucht.

Zu einem besonderen Krimi wird der Film jedoch durch die ungewöhnliche Geschichte: Eine aus dem Wasser geborgene Leiche entpuppt sich als Vogts Jugendfreund Matthias; dessen Frau Sandra (Ulrike C. Tscharre) war einst seine große Liebe. Die drei haben sich seit vierzig Jahren nicht mehr gesehen, und natürlich lassen Adler und Gaul erst mal offen, was Vogt damals bewogen hat, den Kontakt abzubrechen.

Im Blut des früheren Freundes entdeckt der Rechtsmediziner neben Alkohol auch ein opioidhaltiges Schmerzmittel in hoher Konzentration: Matthias hatte Krebs und nicht mehr lange zu leben; womöglich ist er ins Wasser gegangen, um sich das unausweichliche Leid zu ersparen. Lannert und Bootz können sich allerdings durchaus vorstellen, dass die als Altenpflegerin medizinisch versierte Sandra ihren Mann auf dem Gewissen hat, entweder als aktive Sterbehelferin oder weil sie auf ein Geheimnis gestoßen ist, das all’ die vielen Ehejahre wie Lug und Trug erscheinen lässt.

Die Konstellation an sich ist schon recht reizvoll, aber richtig interessant wird die Geschichte, weil Vogt gegenüber Lannert und Bootz nur scheibchenweise mit der Wahrheit rausrückt: Erst behält er für sich, dass er das Opfer kennt, dann verschweigt er seine Gefühle für Sandra, die bei der ersten Begegnung mit der Witwe prompt wieder aufflammen. Schließlich wird das Misstrauen der beiden Kommissare gegenüber dem Mediziner so groß, dass sie vorsichtshalber eine zweite Meinung einholen.

Trotzdem fragen sich Lannert und Bootz, ob sie gerade versuchen, ein Verbrechen aufzuklären, das gar nicht stattgefunden hat. Die Untersuchung durch Vogts Kollegin Yeliz Ünal (Mina Özlem Sagdic) ergibt jedoch, dass beim Ableben des Jugendfreunds Gewalt im Spiel war. Nun wandelt sich "Vergebung" zur Tragödie, weil die in verklärtes Licht getauchten Rückblenden ein furchtbares Ereignis offenbaren, und schließlich gerät auch Vogt, wie schon der Prolog verrät, in Lebensgefahr.

Dass alle Beteiligten mehr als bloß einen normalen Krimi im Sinn hatten, deutet nicht zuletzt Conrad Ferdinand Meyers Gesicht "Lethe" an, dessen melancholische Zeilen ("Ein Lied voll süßer Wehmut") sich wie ein roter Faden durch den Film ziehen. Neben der sorgfältigen Bildgestaltung erfreut "Vergebung" nicht zuletzt durch die harmonische Verknüpfung der beiden Zeitebenen, wenn sich Vogt beispielsweise beim Besuch seines Elternhauses aufs Jugendrad schwingt und Gaul auch mit Hilfe der Musik ("Heroes" von David Bowie) nahtlos in die frühen Achtziger wechseln kann.

Solche aufs optische Stichwort erfolgende Zeitsprünge, wenn etwa Sandras Zigarettenetui bei Vogt prompt eine Erinnerung auslöst, hat der Film mehrfach zu bieten. Zu den Ausstattungsdetails zählen auch die allgegenwärtigen Fotos von der Menschenkette, mit der die Mitglieder der Friedensbewegung 1983 gegen die Stationierung von Pershing-II-Raketen auf der Schwäbischen Alb demonstrierten. Gaul hat unter anderem einen sehenswerten Dokumentarfilm über eine gemeinsame Tournee von Konstantin Wecker und Hannes Wader gedreht ("Wader Wecker Vater Land", 2011) und später mit seinem ebenfalls vom SWR (ko-)produzierten Zwei-Personen-Drama "Das Hotelzimmer" (2015) sein Regietalent unter Beweis gestellt.