Scholz: Antisemitismus vergiftet die Gesellschaft

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Olaf Scholz hat die Gedenkveranstaltung zum 85. Jahrestag der Pogromnacht in der Synagoge Beth Zion besucht.
"Wir dulden ihn nicht"
Scholz: Antisemitismus vergiftet die Gesellschaft
Vor 85 Jahren gingen die Nazis zur offenen Gewalt gegen die jüdische Bevölkerung über. Erschüttert blickten Vertreter der jüdischen Gemeinschaft beim Pogrom-Gedenken auf antisemitische Angriffe heute. Der Kanzler verspricht staatlichen Schutz.

Zum 85. Jahrestag der Gewaltexzesse der Nationalsozialisten gegen die jüdische Bevölkerung im Jahr 1938 haben Bundeskanzler Scholz (SPD) und weitere Mitglieder der Bundesregierung der jüdischen Gemeinschaft staatlichen Schutz und Einsatz gegen Antisemitismus zugesagt. Jede Form von Antisemitismus vergifte die Gesellschaft, sagte Scholz am Donnerstag bei der Veranstaltung zur Erinnerung an die Reichspogromnacht in der Synagoge in Berlin, auf die Mitte Oktober ein Brandanschlag verübt worden war. "Wir dulden ihn nicht", ergänzte er. Das gelte für politisch rechts oder links sowie religiös motivierten Antisemitismus.

Der Präsident des Zentralrats der Juden, Josef Schuster, mahnte, es sei etwas aus den Fugen geraten. "Ich erkenne in den vergangenen Wochen zuweilen dieses Land nicht wieder", sagte er. Es sei zugelassen worden, "dass es sagbar erscheint, öffentlich die Vernichtung Israels und die Auslöschung aller Juden zu propagieren", sagte er vor dem Hintergrund pro-palästinensischer Demonstrationen in Deutschland, bei denen die Terrorangriffe der Hamas auf Israel bejubelt wurden. Scholz nannte die Ausgrenzung von Jüdinnen und Juden, wie sie auch heute noch geschehe, "eine Schande". "Mich empört und beschämt das zutiefst."

Die Gedenkveranstaltung des Zentralrats in der Beth Zion Synagoge, zu der neben Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier auch die obersten Vertreter:innen von Bundestag, Bundesrat und Bundesverfassungsgericht, zahlreiche weitere Mitglieder der Bundesregierung sowie Repräsentanten der Kirchen gekommen waren, fand unter hohen Sicherheitsvorkehrungen statt. Die Straßen um das Gebäude, auf das Mitte Oktober im Zuge der Auseinandersetzungen um den Nahost-Konflikt Molotow-Cocktails geworfen wurden, waren abgesperrt.

Zentralratspräsident Schuster zog eine Linie von den Gewaltakten der Nationalsozialisten im November 1938 zu heutigen Angriffen. Wer verstehen wolle, was Jüdinnen und Juden in diesen Tagen fühlen, der müsse sich der historischen Pogromerfahrungen im jüdischen Denken bewusst sein, sagte er. Zugleich machte Schuster in seiner Ansprache deutlich, was heute "der wohl größte Unterschied zu 1938" sei. "Wurde die Gewalt damals von den Nationalsozialisten geschürt, schützt heute der Staat die jüdische Gemeinschaft", sagte er.

Scholz sicherte den Jüdinnen und Juden diesen Schutz weiter zu. Das Versprechen "Nie wieder", auf dem das demokratische Deutschland gründe, "müssen wir gerade jetzt einlösen", sagte der Kanzler. Das bedeute zuallererst den physischen Schutz von jüdischen Einrichtungen und Gemeinden.

Bei einer Debatte zum Schutz jüdischen Lebens im Bundestag betonte Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD): "Nie wieder, meine Damen und Herren, ist jetzt." Auf der Ehrentribüne im Parlament verfolgten auch die Holocaust-Überlebende Margot Friedländer und der israelische Botschafter Ron Prosor die Debatte.

Dass jüdisches Leben heute wieder sichtbar und hörbar sei, sei ein Geschenk, das Staat und Gesellschaft zu schützen hätten, erklärte Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP). Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) schrieb auf der Plattform X, vormals Twitter: "Es ist unser aller Verantwortung, aus dem Bewusstsein um unsere Vergangenheit unsere Gegenwart zu gestalten."

Nachdem die Nationalsozialisten die jüdische Bevölkerung bereits seit 1933 mit diskriminierenden Regeln zunehmend aus vielen gesellschaftlichen Bereichen ausgegrenzt hatten, gingen sie bei den Novemberpogromen 1938 zu offener Gewalt gegen die jüdische Minderheit über. Höhepunkt war die Reichspogromnacht vom 9. auf den 10. November. Es brannten Synagogen, jüdische Geschäfte und Wohnungen wurden verwüstet und jüdische Bürger misshandelt und getötet. Drei Jahre vor Beginn der systematischen Massendeportationen und Ermordungen erhielt die Verfolgung der Juden mit den Ausschreitungen einen neuen Charakter.