TV-Tipp: "Tatort: Azra"

© Getty Images/iStockphoto/vicnt
29. Mai, ARD, 20.15 Uhr
TV-Tipp: "Tatort: Azra"
"Nur eine Frage der Zeit", versichert Moritz Eisner seiner Kollegin Bibi Fellner gleich mehrfach; der Oberstleutnant ist sich sicher, dass sie Beka Datviani über kurz oder lang festnehmen werden. Das Unterfangen entwickelt sich allerdings schwieriger als erhofft: Datviani ist der Kopf der georgischen Mafia.

Als sein Bruder vor dem familieneigenen Club erschossen wird, geht das Wiener BKA von einem Brudermord aus: Beka will die Organisation modernisieren. Längst verdient die organisierte Kriminalität auf der ganzen Welt viele Milliarden mit Investitionen in Immobilien und ins Finanzwesen. Die Kooperation mit angesehenen Unternehmen soll dem Clan zudem den Anstrich eines seriösen Unternehmens geben, weshalb sich Beka Datviani (Lasha Bakradze) tatsächlich als "Geschäftsführer" bezeichnet.

Der nunmehr tote Bruder, Luka, ein Gangster der alten Schule, wollte dagegen weiterhin auf Drogenhandel und Prostitution setzen und ein größeres Mitspracherecht, doch Beka hat stattdessen seine Tochter zur seiner rechten Hand gemacht; und jetzt ist Luka tot. Da seine Ermordung einer Hinrichtung gleichkam, gehen Eisner (Harald Krassnitzer) und Fellner (Adele Neuhauser) davon aus, dass Beka den Bruderzwist auf klassische Weise gelöst hat. Die Überwachungskameras erweisen sich jedoch als nutzlos, und selbstredend geben die Leibwächter ihrem Boss ein Alibi. 

Fall Nummer 55 für den Oberstleutnant droht somit ungeklärt zu bleiben, aber er hat noch ein Ass im Ärmel. Vor einigen Jahren ist ihm eine junge Frau über den Weg gelaufen, deren Weg in die Kriminalität als Tochter eines Junkie-Pärchens vorgezeichnet zu sein schien. Eisner hat damals erkannt, welches Potenzial in Azra (Mariam Hage) steckt. Sein Versuch, sie zum Besuch der Polizeischule zu überreden, scheiterte zwar, aber sie stellte sich als V-Person zur Verfügung; nun arbeitet sie im Auftrag der BKA-Abteilung für Wirtschaftskriminalität als Türsteherin für den Datviani-Club. Von dem Mord hat sie nichts mitbekommen, doch eine "Beförderung" zu Beka Datvianis Bodyguard würde sie direkt in den inneren Kreis befördern.

Abteilungsleiterin Brunner (Zeynep Buyrac) reagiert stinksauer, als Eisner hinter ihrem Rücken Kontakt zu Azra aufnimmt. Außerdem hält sie einen Aufstieg der Informantin für viel zu gefährlich. Eisner kann sie jedoch überzeugen, dass dies die einzige Möglichkeit sei, den Gangsterboss ins Gefängnis zu bringen; und wenn schon nicht wegen des Mordes, hofft Fellner, dann wenigstens wegen seiner finanziellen Machenschaften. 

Fortan resultiert die Spannung des Films vor allem aus dem Schicksal Azras; sollte sie auffliegen, wäre das ihr Todesurteil. Clever sorgt das Drehbuch dafür, dass ein Platz in der Leibwache frei wird. Nun muss Azra den Boss nur noch von ihren Fähigkeiten überzeugen. Das klappt beinahe mühelos; Datviani junior (Vladimir Korneev) ist selbst mit Messer kein ebenbürtiger Gegner für sie.

Bald darauf berichtet Azra Eisner von einem belauschten Gespräch zwischen dem Clanchef und seiner Tochter, in dem es um ein Schließfach mit brisantem Inhalt ging. Tatsächlich gelingt es ihr schließlich, den Schlüssel an sich zu bringen. Aber kaum hat sie Eisner Vollzug gemeldet, ist sie wie vom Erdboden verschluckt. 

Autorin Sarah Wassermair hat vor ihrer "Tatort"-Premiere für den ORF unter anderem zwei "Landkrimis" geschrieben, beide aus dem Salzburger Land. Der erste, "Das dunkle Paradies" (2020 im ZDF), war kaum der Rede wert, aber der zweite, "Flammenmädchen" (2022 im ZDF), war ein vor allem atmosphärisch interessantes Krimidrama über eine junge Brandstifterin, die versehentlich zur Mörderin wird. "Azra"-Regisseur Dominik Hartl ist nach einigen Kinofilmen ebenfalls "Tatort"-Debütant. Abgesehen von der fesselnden Geschichte, die gegen Ende, als alles klar zu sein scheint, mit einer völlig unerwarteten Handlungswende überrascht, ist seine Inszenierung gerade auch wegen der hochwertigen Bildgestaltung bemerkenswert.

Die Kamera (Ioan Gavriel) ist häufig in Bewegung, viele Szenen sind in ein besonderes Licht getaucht; die optische Qualität ist auch dank der sichtbar sorgfältigen Komposition vieler Einstellungen deutlich höher als beim durchschnittlichen Sonntagskrimi. Schauspielerisch bewegt sich der Film ebenfalls auf hohem Niveau. Besonders interessant ist die Darstellerin der Titelfigur. Die Wienerin Mariam Hage, Tochter einer Serbin und eines Libanesen, hat auch schon in einigen deutschen Produktionen mitgewirkt, bislang aber nur in Nebenrollen; das dürfte sich durch "Azra" ändern.