De Maizière: Freiheit ist wichtiger als Frieden

Thomas de Maizière im Interview
© epd-bild/Tim Wegner
"Beim Kirchentag wollen wir versuchen, eine Zeitendeutung zu machen", sagt der Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentags Thomas de Maizière.
Gespräch zum Kirchentag
De Maizière: Freiheit ist wichtiger als Frieden
Anfang Juni findet in Nürnberg der erste evangelische Kirchentag nach der Corona-Pandemie statt. Präsident des großen Christentreffens ist der frühere Bundesinnen- und Verteidigungsminister Thomas de Maizière.

Im Gespräch mit dem Evangelischen Pressedienst redet er darüber, wie der Kirchentag sich verändert, wie sich die "Zeitenwende" auf die Vorbereitungen auswirkt und was sein Vorwurf an den Pazifismus ist.

epd: Das Kirchentagsmotto lautet "Jetzt ist die Zeit". Wofür?

Thomas de Maizière: Wir erleben einen Krisenstapel, eine Zeitenwende, einen Epochenbruch, erschütterte Gewissheiten - wie immer man das formulieren mag. Da ist diese Losung "Jetzt ist die Zeit" genau richtig. Sie zwingt uns, darüber klar zu werden, was das Besondere an diesen Zeiten ist. Beim Kirchentag wollen wir versuchen, eine Zeitendeutung zu machen.

Gefällt Ihnen der Begriff "Zeitenwende"?

de Maizière: Der Begriff Zeit hat im Griechischen zwei Bedeutungen: "chronos", die Zeit, die einfach abläuft, eine rein quantitative Größe. Und "kairos" - den bestimmten Zeitpunkt, die Gelegenheit, den Moment, auf den es ankommt. Und solch ein Zeitpunkt ist jetzt. Das verstehe ich unter "Zeitenwende".

Was definiert diesen Kairos?

de Maizière: Es sind die erschütterten Gewissheiten. Wir hielten dies für gewiss: In Europa gibt es keinen Krieg mehr, wir leben in einer Überflussgesellschaft, Wachstum ist ewig und wenn etwas funktioniert, dann der deutsche Staat. All das ist erschüttert. Es gibt einen Angriffskrieg von Russland auf die Ukraine. Wir haben plötzlich keinen Hustensaft mehr und Holz wird knapp. Wir freuen uns über 0,1 Prozent Wachstum, was faktisch keines ist. Und wir wissen, dass bei der Staatsorganisation einiges im Argen liegt. All das zusammen macht einen besonderen Moment aus.

Klingt nicht nach einem optimistischen Blick in die Zukunft …

de Maizière: Die Frage ist, wie wir damit umgehen. Die eine Variante ist, wir sehnen uns zurück nach einer angeblich heilen Welt. Dann wäre das Zukunftsbild wirklich sehr pessimistisch, denn ich glaube nicht, dass es einen Weg zurück gibt zu diesem Status quo. Wenn aber aus den erschütterten Gewissheiten die Kraft wächst, etwas zu verändern, ergeben sich Freiheitsräume und Gestaltungsnotwendigkeiten. Das stimmt mich persönlich positiv. Und als Christ füge ich hinzu: Wir sind getragen von einer tiefen Zuversicht, dass die Welt nicht untergeht. Dafür muss man aber auch etwas tun.

"Wir sind getragen von einer tiefen Zuversicht, dass die Welt nicht untergeht"

Bei einem der Hauptpodien beim Kirchentag wird es um die Frage gehen, was und wer in dieser Zeit Halt geben kann. Sind das in Ihren Augen noch die Kirchen trotz Mitgliederverlusten und der Vertrauenskrise infolge des Missbrauchsskandals?

de Maizière: Ja! Wir erleben insgesamt eine große Institutionenkrise. Das betrifft nicht nur die Kirchen, sondern auch Parteien, Medien, große Sportverbände und Gewerkschaften. Das bekümmert mich zutiefst, weil eine pluralistisch-freiheitliche Gesellschaft auch große Institutionen braucht, die Zusammenhalt stiften. Aber trotzdem: Selbst wenn - je nach Zählweise - nur rund die Hälfte der Deutschen Mitglied einer der beiden großen Kirchen sind, ist das zwar weniger als früher, aber immer noch verdammt viel. Wie viele Institutionen binden denn durch formelle Mitgliedschaft die Hälfte der Gesellschaft? Das ist immer noch ein großer Schatz. Den sollte man nutzen, anstatt die Schrumpfbewegung zu bejammern.

"Selbst wenn nur rund die Hälfte der Deutschen Mitglied einer der beiden großen Kirchen sind, ist das zwar weniger als früher, aber immer noch verdammt viel"

Ist das ein Appell für mehr öffentliche Einmischung?

de Maizière: Es gibt bei manchen die Überzeugung, die Kirche könne erst wieder glaubwürdig öffentlich auftreten, wenn die eigenen, inneren Probleme bearbeitet sind. Da widerspreche ich. Wir können doch nicht an unsere Kirche ein Schild "Wegen Umbauarbeiten geschlossen" hängen. Es gibt eine Sehnsucht der Menschen, Stimmen zu hören, die über das alltägliche Geschwätz hinausgehen. Das ist eine Chance für die Kirche, die sie nutzen sollte.

Bei der Friedensethik oder konkret der Frage nach Waffenlieferungen an die Ukraine wird auch innerhalb der evangelischen Kirche um Positionen gerungen. Wie blicken Sie darauf?

de Maizière: Die Debatte ist wichtig. Oft geht es derzeit um taktische Fragen, und alle kennen jetzt den Unterschied zwischen Marder- und Leopard-Panzern. Über ethische Themen wird mir dagegen zu wenig gesprochen. Ich finde auch, es ist Zeit für eine neue Friedensdenkschrift der evangelischen Kirche. Darin darf es dann nicht nur um die Moral gehen. Ethik muss sich auch im Handeln bewähren.

"Ethik muss sich auch im Handeln bewähren"

Wie stehen Sie zum Pazifismus - ist er naiv?

de Maizière: Ja. Aber er ist zugleich nötig als kritischer Maßstab. Es gibt bei diesen schwierigen Abwägungen keine widerspruchsfreien Lösungen. Natürlich verlängert eine Waffenlieferung das Töten und Sterben. Wenn man das ablehnt, muss man sich aber im Klaren sein, dass der Preis dafür wahrscheinlich Unfreiheit ist. Letztlich geht es also um die Frage: Ist Frieden oder Freiheit wichtiger? Für mich ist Freiheit wichtiger als Frieden. Das ist mein Vorwurf an den Pazifismus.

Die führende Stimme des christlichen Pazifismus und Kirchentagsliebling Margot Käßmann hat Ihre Teilnahme am Kirchentag abgesagt. Schmerzt Sie das?

de Maizière: Sie war zu unserem Hauptpodium zur Friedensethik eingeladen - mit dem Generalinspekteur der Bundeswehr. Sie hat abgesagt, das bedauere ich.

Nicht nur zum Ukraine-Krieg, auch bei Fragen des Klimaschutzes wird derzeit scharf diskutiert. Wie sehen Sie die Aktionen der "Letzten Generation", sind Aktivisten zum Kirchentag eingeladen?

de Maizière: Die Klimaaktivisten der "Letzten Generation" sind die schlechtesten Fürsprecher beim Klimaschutz, weil sie das Ziel diskreditieren und die Menschen gegen sich und dieses Ziel aufbringen. Und trotzdem sollte man mit ihnen diskutieren - das habe ich auch schon getan. Solche Debatten werden auch beim Kirchentag stattfinden. Aber an meiner persönlichen Position, dass diese Aktionen nicht nur rechtswidrig, sondern auch schädlich sind, ändert sich deshalb nichts.

Sehen Sie einen Abriss der Kommunikation zwischen der jüngeren Generation und der Politik?

de Maizière: Man darf die Klima-Kleber nicht mit "der jungen Generation" gleichsetzen. Aber nehmen wir "Fridays for Future": Es ist doch berechtigt, dass junge Menschen ungeduldiger sind als ältere Menschen. Nur umgekehrt besteht Politik in der Demokratie eben in geordneter Willensbildung, die zu einem bestimmten Ergebnis führt. Auch in Zeiten des Klimawandels besteht Politik aus Kompromissen und Abwägung. Debatten zwischen Generationen über Tempo und Wege zur Durchsetzung eines Ziels sind normal und fruchtbar für beide.

Dem Kirchentag wird manchmal vorgeworfen, inzwischen eine eigene Blase zu sein. Wie wollen Sie für mehr jüngere Teilnehmer und mehr Diversität sorgen?

de Maizière: Wir haben beschlossen, dass auf jedem Podium ein Mensch unter 30 Jahren sitzen soll. Das ist nicht überall gelungen, aber doch deutlich besser als bei vergangenen Kirchentagen. Wenn wir uns die Teilnehmendenstruktur angucken, sehen wir viel Stammpublikum, was natürlich auch gut ist. Ein Theater oder eine Oper würde ja geschlossen, wenn dort kein Stammpublikum hinkäme. Im letzten Jahr sind 380.000 Menschen aus der Kirche ausgetreten. Das sind die Menschen, die wir auch ansprechen müssen. Die sind noch offen für den Glauben, aber frustriert über die Institution Kirche. Ja, wir wollen und müssen uns auch als Kirchentag verändern und öffnen.

Auf den ersten Blick passen ein CDU-Politiker an der Spitze und das Kirchentags-Milieu nicht immer zusammen. Gibt es Dinge, wo Sie sich verändern mussten oder musste der Kirchentag sich auch verändern?

de Maizière: Ich weiß nicht, ob ich dieser Einschätzung zustimme. Aber verändert haben wir uns hoffentlich beide. Aber selbst wenn es so wäre, wie Sie sagen, würde es höchste Zeit, dass jemand wie ich mal Präsident wird. Wir wollen die Meinungsblase aufstechen und den Kirchentag öffnen. Der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz wird eine Bibelarbeit leiten. Seine Vorgängerin Annegret Kramp-Karrenbauer kommt zur Fuck-up-Night. Michael Kretschmer (CDU) und der Generalsekretär der FDP, Bijan Djir-Sarai, kommen auch. Öffnung ist der Weg, den wir gehen wollen, auch über Politik hinaus.

Fällt es dem Kirchentag schwerer, Spitzenpolitiker für seine Veranstaltungen zu gewinnen?

de Maizière: Unsere Liste von politischen Persönlichkeiten ist schon eindrucksvoll, aber es haben auch einige abgesagt. Früher ließ man für eine Einladung vom Kirchentag alles stehen und liegen. Wir müssen wieder so relevant werden, dass die Personen, die wir einladen, auch sagen, da muss ich unbedingt dabei sein.