"Das Netz: Spiel am Abgrund"

© Getty Images/iStockphoto/vicnt
3. November, ARD, 20.15 Uhr
"Das Netz: Spiel am Abgrund"
Fußballweltmeisterschaften sind so etwas wie eine Lizenz zum Gelddrucken. Weil sie aber nur alle vier Jahre stattfinden, hat der Präsident des Weltfußballverbands (WFA) eine Idee, wie sich noch einige Milliarden mehr verdienen ließen.

Und das in jedem Jahr: mit einer "World League". Jetzt muss er nur noch die Mitglieder des WFA-Rats hinter sich bringen. Eine erste vermeintlich geheime Probeabstimmung führt zu einer knappen Niederlage, aber es gab drei Enthaltungen; und selbstredend kennt der mächtige Strippenzieher Mittel und Wege, um die Wankelmütigen von seiner Linie zu überzeugen.

Das Szenario ist fiktiv. Trotzdem sind die Parallelen zur Wirklichkeit nicht zu übersehen; die Weltligapläne erinnern nicht zufällig an die "Super League", mit der europäische Clubs rund um Real Madrid vor einigen Jahren am Protest der Fans gescheitert sind. Die Frage ist nur: Wie lässt sich rund um diesen Handlungskern eine Serie konzipieren, die acht Folgen lang auf höchstem Niveau fesselt? Die Antwort ist: Liebe. Zentrale Figur von "Spiel am Abgrund" ist die Berliner Anwältin Lea Brandstätter (Birgit Minichmayr). Ihr Freund David (Itay Tiran) ist Talentscout und leitet gemeinsam mit seinem Partner (Tom Wlaschiha) einen Nachwuchscampus am Bodensee: Er hält auf den staubigen Bolzplätzen Schwarzafrikas Ausschau nach begabten jungen Kickern, holt sie nach Deutschland und vermittelt sie im besten Fall für viel Geld an große Clubs. Als David beim Treffen mit einem Sportjournalisten in der Alten Försterei, der Heimspielstätte von Union Berlin, vor Leas Augen in seinem Auto verbrennt, geht die Polizei von einem Unfall aus, aber Hooligan Marcel (Max von der Groeben) hat mitbekommen, dass David zuvor von russischen Schlägern überfallen worden ist; Marcels bester Kumpel ist dabei getötet worden. 

Auf der Figurenebene bezieht die Serie ihren Reiz fortan aus dieser ungewöhnlichen Konstellation: Lea will rausfinden, warum David, der offenbar an einer großen Sache dran war, sterben musste. Marcel, gerade erst aus der Haft entlassen und mehr Muskeln als Hirn, will Rache; also tun sich die beiden zusammen. Lea stößt auf Davids Verbindung zum Weltfußballverband, Marcel erschleicht sich derweil das Vertrauen von Mikhail (Surho Sugaipov), einem Russen, der in einer Industriebrache ein Fitnessstudio betreibt. Hier hat sein Freund gearbeitet, auch die russischen Schläger gehen hier ein und aus. Den Kontrast zwischen dem heruntergekommenen Industriegelände und der glitzernden Welt des Fußballverbands mit seinem Zürcher Hauptquartier und den Luxushotels schöpft die Serie ebenfalls weidlich aus.

Die Ebene mit Marcel und den Russen hätte sich allerdings auch knapper erzählen lassen, zumal Leas Ermittlungen ungleich komplexer sind. Bei ihren Recherchen kommt sie zudem der Europäischen Antikorruptionsbehörde in die Quere, die den Betrügereien des WFA-Bosses Jean Leco endlich ein Ende setzen will. Der Niederländer Raymond Thiry legt den Funktionär ähnlich stoisch an wie seinen brillanten BKA-Profiler in der kurzlebigen Sat.1-Thrillerreihe "Nemez und Sneijder". Leco ist die Spinne in jenem Netz, dem die Serie zumindest dem Anschein nach ihren Titel verdankt. Allerdings verblüffen die Drehbücher (Chefautor: Bernd Lange) gerade in den letzten Folgen durch immer wieder neue und völlig unvorhersehbar Wendungen, sodass sich schließlich zeigt: Im Grunde ist auch Leco bloß eine Figur in einem Spiel. 

Die Geschichte ist von imposanter Komplexität, und das gilt nicht nur für die immer größeren Kreise, die Leas Recherche ziehen, als sie entdeckt, dass es unter den afrikanischen Talenten zu mysteriösen Todesfällen gekommen ist; dank der Sendezeit von rund 360 Minuten konnte das Drehbuchteam zudem eine Vielzahl scheinbar nebensächlicher Details in die Handlung integrieren. Handwerklich bewegt sich die Serie ohnehin auf höchstem Niveau, schon allein die Bildgestaltung (Juan Sarmiento G.) mit ihren satten Farben ist preiswürdig. Trotz all’ des Aufwands mit internationalen Drehorten und mondänen Schauplätzen resultiert die eigentliche Faszination jedoch aus der Ambivalenz vieler Figuren. Der vermeintliche Menschenfreund David zum Beispiel wird im Prolog durch die Off-Stimme eines afrikanischen Spielers als Betrüger und Mörder bezeichnet. Leco wiederum ist dank Thirys subtilem Spiel gar nicht mal unsympathisch, auch wenn er sich sogar gegenüber seinem Sohn allenfalls die Andeutung einer Gefühlsregung erlaubt. Das Ensemble ist auch in den Nebenrollen sehr interessant besetzt, selbst wenn Eva Mattes als Leas mütterliche Freundin und Kanzleipartnerin nicht gerade wie eine Frau wirkt, die einen Schlagring besitzen und benutzen würde. 

"Spiel am Abgrund", eine Koproduktion der ARD-Tochter Degeto mit dem Schweizer Fernsehen, ist das bislang aufwändigste und ambitionierteste Projekt von Rick Ostermann, der nach seinem bedrückenden Langfilmdebüt "Wolfskinder" (2014) über ostpreußische Kriegswaisen vor allem TV-Krimis gedreht hat. Unter dem Sammeltitel "Das Netz" (Gesamtkonzept: Martin Hartmann, Pinio Bachmann) ist zeitgleich ein weiteres Projekt entstanden: In der österreichischen Serie "Prometheus" (eine Koproduktion mit Servus TV) geht es um eine sehr spezielle Form der Ausbeutung junger Spieler, die beiden Produktionen überschneiden sich inhaltlich. Die weiteren Folgen zeigt die ARD morgen und übermorgen ab 21.45 Uhr.