TV-Tipp: "Polizeiruf 110: Blackbox"

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3. Juli, ARD, 20.15 Uhr
TV-Tipp: "Polizeiruf 110: Blackbox"
Der Mord in einem Zug bekommt in diesem "Polizeiruf" eine tiefenpsychologische Dimension. Nicht nur der Mörder und sein Umfeld, sondern auch die Kommissarin hat ihr eigenes Trauma. Die filmische Umsetzung begeistert unseren Autor.

Klarer kann ein Fall kaum sein: Ein junger Mann hat im Magdeburger Nahverkehrszug einen Fahrgast ermordet. Rätselhaft sind allerdings die Begleitumstände: Der Täter hat wie von Sinnen mit einem Nothammer auf das ihm völlig unbekannte Opfer eingeschlagen. Für die Polizei ist die Sache dennoch erledigt. Mord, Körperverletzung mit Todesfolge oder Totschlag: Damit soll sich das Gericht befassen.

Kommissarin Brasch (Claudia Michelsen) spürt jedoch, dass mehr hinter dieser scheinbar sinnlosen Tat steckt. Sie ist überzeugt, dass Adam Dahl (Eloi Christ) unter einem verschütteten Trauma leidet, das durch den hochgradig aggressivem Tonfall, in dem das Opfer vor seinem Tod telefoniert hat, geweckt worden ist.

Sie beginnt, in seiner Biografie zu graben, stößt aber umgehend auf Widerstand: Dahl senior (Sven-Eric Bechtolf) ist ein früherer LKA-Direktor, Gattin Gloria (Corinna Kirchhoff) eine renommierte klinische Psychologin. Weil Adam während der Vernehmung versucht hat, sich mit Braschs Waffe umzubringen, droht ihr der alte Dahl mit einem Disziplinarverfahren. Natürlich lässt sich die Polizistin nicht einschüchtern. Tatsächlich hatte Familie Dahl in Adams Kindheit ein schockierendes Erlebnis; aber die komplette Wahrheit ist viel grausamer.

Schon allein dieser Teil der Handlung würde alle Voraussetzung für einen herausragenden Krimi mit sich bringen, aber Autorin Zora Holtfrete setzt noch eins drauf, denn Brasch leidet ebenfalls unter einem Trauma: Zum Schluss des letzten Films, "Der Verurteilte" (2020), ist sie nur knapp mit dem Leben davon gekommen. Diese Erfahrung hat sie bis heute nicht verarbeitet; immer wieder wird sie von den in blutrotes Licht getauchten Erinnerungen heimgesucht. Kein Wunder, dass ihr Vorgesetzter (Felix Vörtler) sie nicht für diensttauglich hält und schließlich suspendiert.

Die Verknüpfung dieser beiden Ebenen ist Holtfrete, die unter dem Namen Zora Holt einige vorzügliche Drehbücher für die ZDF-Reihe "Unter anderen Umständen" geschrieben hat, ungemein gut gelungen: Brasch, die seit der Attacke unter Klaustrophobie leidet, sich aber nicht in psychotherapeutische Behandlung begeben will, ist neben der Spur; und gerade das schafft überhaupt erst die Voraussetzung, um Adams Tat nachvollziehen zu können.

Der psychologische Hintergrund ist ohnehin ähnlich fesselnd wie die kriminalistische Ebene. Selbstredend ist es kein Zufall, dass Gloria Dahl als Koryphäe auf dem Gebiet der Gedächtnisforschung gilt. Auch diesen Aspekt hat Zoltfrete kunstvoll in ihr Drehbuch integriert: Während einer Hypnosesitzung benutzt Adam ein Wort, das sich Brasch als "Krapp" notiert. Die Spur führt nach Halle, wo sie am früheren Lehrstuhl der Mutter auf deren Nachfolger Krabb trifft.

Das Gedächtnis, erfährt sie, sei ein komplexes und fehleranfälliges System, das sich leicht manipulieren lasse, wie der Psychologe ihr im Rahmen eines Experiments vor Augen führt. Außerdem versucht das Gehirn, sich vor belastenden Erinnerungen zu schützen, indem sie sie wegschließt, was jedoch eine bewusste Auseinandersetzung unmöglich macht – und damit kommt wiederum Braschs eigenes Posttraumatisches Belastungssyndrom ins Spiel.

"Krapp" oder "Krabb", im südlichen Teil des deutschen Sprachraums der Name einer fiktiven Figur, mit denen Eltern ihren Kindern früher Angst gemacht haben ("Wenn du nicht brav bist, holt dich der Nachtkrabb"), ist nur eins der vielen cleveren Details, aus denen Zoltfrete ihr Drehbuch zusammengesetzt hat. Ein anderes sind die witzigen Begegnungen Braschs mit dem Dorfpolizisten im früheren Wohnort der Dahls. Wie sie aus den vielen Puzzlestücken tatsächlich erst ganz am Schluss ein komplettes Bild entstehen lässt, ist große Erzählkunst.

Auf diesem Niveau bewegt sich auch die Inszenierung durch Ute Wieland, die gemeinsam mit Kamerafrau Eeva Fleig für eine angemessene optische Umsetzung von Braschs Panikattacken gesorgt hat. Gegenstück zu den roten Erinnerungsfetzen sind die in ein kühles Blau getauchten Revierszenen. Ganz ausgezeichnet ist auch die Arbeit mit dem Ensemble. Eloi Christ verkörpert sehr nachvollziehbar Adams zunehmende Verzweiflung angesichts einer Tat, die er sich selbst nicht erklären kann; er hat verständlicherweise Angst, den Verstand zu verlieren. Gruselig gut sind auch Sven-Eric Bechtolf und Corinna Kirchhoff als Eltern, die versichern, ihr Sohn habe die beste Kindheit gehabt, die man sich wünschen könne; und dann stellt sich raus, dass die beiden selbst unter einem Trauma leiden.