Der stumme Gelähmte

Mann erklettert isch seinen Weg auf einem Felsen mit Hilfe
© Mark Mcgregor/Unsplash
Frank Muchlinsky macht sich Gedanken darüber, ob man andere Menschen zu etwas Gutem drängen, oder ihnen einfach nur Hilfestellung anbieten sollte.
Zuversichtsbrief - Woche 83
Der stumme Gelähmte
Soll man andere Menschen dazu drängen, zum Arzt zu gehen? In der Bibel tragen einige Menschen ihren kranken Freund sogar zu Jesus. Frank Muchlinsky macht sich Gedanken darüber.

Und nach etlichen Tagen ging er wieder nach Kapernaum; und es wurde bekannt, dass er im Hause war. Und es versammelten sich viele, sodass sie nicht Raum hatten, auch nicht draußen vor der Tür; und er sagte ihnen das Wort. Und es kamen einige, die brachten zu ihm einen Gelähmten, von vieren getragen. Und da sie ihn nicht zu ihm bringen konnten wegen der Menge, deckten sie das Dach auf, wo er war, gruben es auf und ließen das Bett herunter, auf dem der Gelähmte lag. Da nun Jesus ihren Glauben sah, sprach er zu dem Gelähmten: Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.
Es saßen da aber einige Schriftgelehrte und dachten in ihren Herzen: Wie redet der so? Er lästert Gott! Wer kann Sünden vergeben als Gott allein? Und Jesus erkannte alsbald in seinem Geist, dass sie so bei sich selbst dachten, und sprach zu ihnen: Was denkt ihr solches in euren Herzen? Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin? Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden – sprach er zu dem Gelähmten: Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim! Und er stand auf und nahm sogleich sein Bett und ging hinaus vor aller Augen, sodass sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben solches noch nie gesehen.

Markus 2,1−12 in der Übersetzung der Lutherbibel von 2017, hier gelesen von Helge Heynold.

Liebe Verstreute,

gehören Sie zu denen, die gern eingreifen? Tragen Sie andere sprichwörtlich zum Jagen? Oder zum Arzt? Ich kenne ausgesprochen viele Menschen, die schnell dabei sind, anderen zu helfen. Sie legen sich für andere Menschen ins Zeug, nehmen ihnen Lasten und Wege ab und scheuen auch nicht davor zurück, Menschen, denen es offensichtlich schlecht geht, zu einem Arztbesuch zu drängen. Wenn es um sie selbst geht, können diese Menschen allerdings sehr zögerlich werden. Das mag widersprüchlich klingen, manche würden es vielleicht sogar heuchlerisch nennen. Da ich selbst zu diesen Menschen gehöre, enthalte ich mich solcher Urteile und versuche zu erklären, wie es wohl zu einem solchen Widerspruch kommen kann: Wer andere besorgt anschaut, fühlt sich oft hilflos. Das ist ein schreckliches Gefühl. Man möchte helfen, man möchte Besserung oder doch zumindest Linderung für das geliebte Gegenüber. Da liegt es nah, einen Gang zum Arzt anzuraten. Es ist entlastend, wenn man eine Herzensperson wenigstens einer anderen Person anvertrauen kann, der man vertraut.

Ist man selbst in der Lage, dass andere einen zum Arzt drängen, gesellt sich neben der eigenen Bequemlichkeit die Sorge vor einer schlimmen Diagnose. Allerdings hat man auch als Betroffener einen viel direkteren Zugang zu dem, was einen gerade quält. Man kann es ja spüren und versuchen, sich damit einzurichten unter dem Motto „So schlimm ist es ja noch nicht!“. Vielleicht ist es auch hier wiederum die Angst, die sich Bahn bricht. Allerdings weiß manch ein kranker Mensch tatsächlich gut, wie er mit seiner Krankheit umzugehen hat. Vor allem chronisch kranke Leute können bestätigen, dass man mit Einschränkungen und Behinderungen gut leben kann, wenn man selbst und die Menschen um einen herum diese akzeptieren.

In der heutigen Bibelgeschichte wird ein Mensch im Wortsinn dorthin getragen, wo sich seine Freunde Heilung für ihn erhoffen. Wir erfahren in der Episode eine Menge über die Motivation seiner Freunde. Als sie erkennen, dass es keinen Zutritt zu Jesus durch die Vordertür gibt, steigen sie auf das Dach, decken es kurzerhand auf und graben sich durch die Decke, bis das Loch groß genug ist, dass sie den gelähmten Freund mitsamt seiner Liege hinunterlassen können. Als Jesus das sieht, ist auch er beeindruckt von ihrem Glauben. Man erfährt auch etwas über diejenigen, die sich über Jesus ärgern, weil er dem gelähmten Menschen anstatt ihn zu heilen die Sünden vergibt. Erstaunlicherweise ist überhaupt nicht die Rede davon, was der Mann auf der Liege zu der ganzen Sache zu sagen hat.

Weder wird erzählt, wer auf die Idee kam, sich zu Jesus zu begeben, noch wie der Mensch darauf reagierte, als man plötzlich anfängt, neben ihm ein Loch in ein fremdes Wohnhaus zu buddeln. Es ist durchaus möglich, dass er der Antreiber der ganzen Aktion war. Er kann seinen Freuden seit Tagen oder Wochen in den Ohren gelegen haben mit der Bitte „Wenn Jesus in der Nähe ist, bringt ihr mich zu ihm, ja? Egal, wie ihr es anstellt, ich will, dass er mich heilt und ich gehen kann“. Er kann auch die Idee mit dem Dach selbst gehabt haben. Es kann aber genauso gut sein, dass man ihn überhaupt nicht gefragt hat. Seine Freunde können sich ihn geschnappt haben und mit dem Ruf „Vier Mann, vier Ecken!“ haben sie den widerstrebenden Mann mitsamt seinem Bett geradezu entführt. Der Mensch bleibt die ganze Geschichte über vollkommen stumm. Selbst als ihm die Sünden vergeben werden und als er wieder laufen kann, steht nichts über seine Reaktion in der Bibel. Freute er sich? War er verwirrt? Erleichtert? Ärgerlich über die Behandlung?

Geht es überhaupt um ihn in dieser Geschichte? Oder wird sie lediglich erzählt, damit Jesus sich einen eleganten Schlagabtausch mit seinen Kritikern liefern kann? Immerhin hat „der Gelähmte“ es in die Überschrift dieser Perikope geschafft, auch wenn er sich die teilen muss: „Die Heilung eines Gelähmten und die Vollmacht zur Sündenvergebung“ lautet die Überschrift in der Lutherbibel. Ich habe große Sympathie für diesen stummen Geheilten. Anscheinend lässt er das Gute, das ihm die anderen tun, geschehen. Ich möchte mich heute mit ihm freuen. Ganz gleich, ob er es war, der zu Jesus wollte, oder ob es seine Freunde waren, am Ende kann er das Bett, auf dem er immer liegen musste, selbst tragen. Das ist ein Grund zur Freude. Ich wünsche ihm, dass er sich auch über die Vergebung seiner Sünden freuen kann, die er quasi als „Bonus“ von Jesus geschenkt bekommen hat. Ich möchte schließlich unbedingt hoffen, dass seine Freunde ihn nicht tatsächlich gegen seinen Willen zu Jesus getragen haben. Es besteht ein Unterschied dazwischen, ob wir unsere Lieben drängen, einen Arzt aufzusuchen, oder ob wir sie zwingen.

Die Wochenaufgabe lautet darum so: Lassen Sie sich anstiften, wenn jemand Sie drängt, etwas zu tun, von dem Sie im Innersten wissen, dass es das Richtige ist! Lassen Sie sich dabei helfen, wenn es nötig ist!

Haben Sie eine gute Woche!

Ihr Frank Muchlinsky