TV-Tipp: "Mordkommission Istanbul: Entscheidung in Athen"

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TV-Tipp: "Mordkommission Istanbul: Entscheidung in Athen"
29. Mai, ARD, 20.15 Uhr
Mit der Entführung einer jungen Frau bekommt es Kommissar Mehmet Özakin in seinem neusten Fall zu tun. Die Ermittlungen führen in die griechische Hauptstadt Athen.

Weil deutsche Produktionsfirmen aus naheliegenden Gründen schon seit einiger Zeit nicht mehr in der Türkei drehen wollen, ermittelt Mehmet Özakin (Erol Sander) bereits zum zweiten Mal in Folge im Ausland. sein erstes Auswärtsspiel hatte ihn 2018 nach Asien geführt. „Einsatz ihn Thailand“ war ein über 180 Minuten spannender Thriller, in dem sich der Istanbuler Kommissar mit gleich zwei Gangsterbanden anlegte. „Entscheidung in Athen“ ist sogar noch besser. Der Action-Prolog zu Beginn hat zwar mit der eigentlichen Handlung nichts zu tun, setzt aber den Maßstab für die folgenden 85 Minuten: Gerade noch hat Özakin die Scheidungspapiere seiner zukünftigen Exfrau bekommen, da meldet sie sich mit einem Notruf. Sevim (Idil Üner) hält sich im Auftrag des Goethe-Instituts gemeinsam mit ihrem neuen Freund und dessen Tochter in Athen auf. Teenager Clara (Alexandra Kolaiti) ist beim Einkaufsbummel spurlos verschwunden. Und Steffen, der Vater des Mädchens, ein investigativer Journalist, reagiert nicht auf Sevims Anrufe.

Während die einheimische Polizei das alles für harmlos hält, braucht Özakin nicht lange, um rauszufinden, dass Clara entführt worden ist. Eigentlich haben es die Gangster jedoch auf Steffen (Michael Rotschopf) abgesehen. Einziger Anhaltspunkt für dessen Recherchen ist eine Straßenkarte, auf der mehrere Strände markiert sind. Die Einheimischen wollen zwar nicht mit der Sprache rausrücken, aber der Kommissar ahnt, dass der Journalist an einer großen Sache dran war. Schließlich findet er Sevims Freund schwer verletzt in einem Krankenhaus. Er leidet unter einer partiellen Amnesie, weiß aber noch, dass es um Dokumente geht, die den mächtigen Bauunternehmer Tsanidis (Yorgos Glastras) belasten, und ausgerechnet dessen Neffe Hector (Yiannis Niarros) wird zu Özakins wichtigstem Verbündeten.

Im mittleren Drittel kommt es zu einem kurzzeitigen Spannungsabriss, aber der Schlussakt ist umso packender. Dafür sorgt vor allem die mit griechischen Elementen durchsetzte Musik: Komponist Alex Komlew hat zuletzt schon die „Sarah Kohr“-Episode „Schutzbefohlen“ auf ein höheres Thriller-Level gehoben. Auf ähnlichem Niveau bewegt sich die Bildgestaltung (Aljoscha Hennig). Regisseur Ismail Şahin, als Schauspieler 2008 in einer kleinen Rolle auch am ersten „Mordkommission Istanbul“-Film beteiligt („Der Tote in der Zisterne“), hat 2014 mit seinem ungewöhnlichen Regiedebüt „Nicht schon wieder Rudi“ auf sich aufmerksam gemacht. Es hat dann trotzdem ein paar Jahre gedauert, bis er sich beim ZDF mit einigen Beiträgen zur Hebammen-Reihe „Lena Lorenz“ (wie „Mordkommission Istanbul“ eine Produktion von Ziegler Film) beweisen durfte. „Entscheidung in Athen“ ist in jeder Hinsicht von ganz anderem Kaliber; die ARD-Tochter Degeto hat ihm auch die beiden nächsten „Amsterdam-Krimis“ anvertraut. Die Qualität von „Entscheidung in Athen“ ist gleich doppelt eindrucksvoll, wenn man weiß, dass Şahin während der Dreharbeiten als Corona-Erstkontakt acht Tage in Quarantäne verbringen musste; während dieser Zeit hat er dank einer Videoverbindung zum Team und der live übertragenen Kamerabilder vom Hotelzimmer aus Regie geführt.

Der auch mit Hilfe des Schnitts (Peter Kirschbaum) zwischendurch sehr flott erzählte Film ist so gut geworden, dass sich selbst über die übliche Schwäche der deutschen Auslandsproduktionen hinweghören lässt: Außer den Hauptfiguren sind sämtliche Sprechrollen mit Einheimischen besetzt worden, und deren Synchronisation hat schlicht kein Kinoformat. Immerhin sind die wichtigsten männlichen Mitwirkenden interessante Typen: Yorgos Glastras ist angemessen janusköpfig als Baulöwe aus einfachen Verhältnissen, der ein großes Herz für die kleinen Leute hat, aber nicht nur im übertragenen Sinn über Leichen geht, um seine Pläne durchzusetzen. Yiannis Niarros ist für die gelegentlichen heiteren Momente zuständig und initiiert am Ende den Beginn einer griechisch-türkischen Freundschaft; die Ressentiments zwischen den beiden Ländern sind ebenso Thema des Drehbuchs wie die in Griechenland nach wie vor sehr präsenten Folgen der Finanzkrise.

Ohnehin ist den Autoren Stefan Kuhlmann und Claus Stirzenbecher ein facettenreiches Wechselspiel gelungen, und das nicht nur, weil sie die Entführung in einen größeren politischen Zusammenhang betten. Auch emotional ist der Film fesselnd: Steffen muss ausgerechnet dem wildfremden Ex seiner Freundin das Leben seiner Tochter anvertrauen; und natürlich liebt Özakin seine Frau nach wie vor. Andererseits erinnern kurze Einschübe mit Clara daran, dass es um mehr als nur eine große Story geht. Spannungssteigernde Maßnahmen, etwa eine Flucht des Mädchens, haben zur Folge, dass der Film bis auf den Durchhänger im Mitteldrittel stetig fesselt. Die Musik bleibt ohnehin hochklassig, die agile Kamera ist viel in Bewegung, aber stets auf elegante Weise, und die Drohnenaufnahmen sind keine Spielerei, sondern sinnvoll eingesetzt. Ein kleines Kunstwerk ist eine Szene, in der ein TV-Interview Steffens Gedächtnis auf die Sprünge hilft und seine Wahrnehmung des Monitors in ein ganz ähnliches Bild übergeht, als er durch ein Fenster Zeuge eines Mordes wurde. Im Unterschied zu anderen Auslandsproduktionen der Degeto gerät „Entscheidung in Athen“ trotz eines Rundflugs um die Akropolis zudem nie in den Verdacht, Tourismusfernsehen mit anderen Mitteln zu sein, und so ist Özakins 23. Fall ein würdiger Abschluss der Reihe. Die Degeto hat bereits 2019 bekannt gegeben, dass sie eingestellt wird, allerdings ausnahmsweise nicht aus Quotengründen: Man kann „Mordkommission Istanbul“ nicht gut dauernd im Ausland spielen lassen.