"Die Kirche wird bunter aussehen"

Kreuz vor Himmel mit Luftballons
© Markus Bormann/stock.adobe
"Die Kirche wird bunter aussehen", sagt Landesbischof Ralf Meister aus Hannover.
"Die Kirche wird bunter aussehen"
Der hannoversche Landesbischof Ralf Meister über Kirchenaustritte und Kirchensteuer
Rund 540.000 Menschen haben im vergangenen Jahr in Deutschland der evangelischen oder der katholischen Kirche den Rücken gekehrt. Mehr als 30.000 waren es in den 1.235 Gemeinden der Evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers, der größten deutschen evangelischen Landeskirche. Ein großer Teil von ihnen nennt dafür finanzielle Gründe. Landesbischof Ralf Meister aus Hannover will dennoch im Grundsatz am Modell der Kirchensteuer festhalten. Meister ist auch Leitender Bischof der Vereinigten Evangelisch-Lutherischen Kirche Deutschlands (VELKD).

Herr Landesbischof, 2019 gab es so viele Kirchenaustritte wie noch nie. Muss die Kirche jetzt nicht strukturelle Antworten finden, etwa durch Änderungen bei der Kirchensteuer?

Ralf Meister: Ich bin skeptisch, ob Veränderungen am Kirchensteuermodell oder die Höhe der Kirchensteuer wirklich etwas an den Austrittszahlen ändern würden. Wir haben ja schon jetzt die Möglichkeit, dass Kirchenmitglieder, die durch die Corona-Krise in großen finanziellen Schwierigkeiten sind, auf Antrag ihre Kirchensteuer reduzieren und später nachzahlen können. Aber strukturelle Veränderungen sind ohne Zweifel notwendig. In den Kirchenkreisen und Kirchengemeinden wird sehr intensiv daran gearbeitet, die Angebote noch viel stärker auf die jeweilige Bedürfnisse der Menschen vor Ort auszurichten. Und ich denke, dass die kirchliche Landschaft in einigen Jahren noch viel unterschiedlicher und bunter aussehen wird als heute.

Viele empfehlen jetzt das Modell einer Mandats- oder Kultursteuer nach italienischem Vorbild. Dabei müssen alle Bürger eine Steuer zahlen, können sich aber aussuchen, an welche Organisation ihr Geld fließt. Was halten Sie davon?

Meister: Das hört sich zunächst interessant an, aber es gibt auch Argumente, die sehr deutlich dagegen sprechen. Und damit meine ich nicht, dass wir dann womöglich weniger Einnahmen zur Verfügung hätten als aktuell. Im Moment ist es so, dass die Kirchensteuer von den Kirchen erhoben wird und wir den Staat dafür bezahlen, dass er sie für uns einzieht. Bei der Mandats- oder Kultursteuer ist es so, dass sie vom Staat erhoben wird, der sie dann an Kirchen und andere Religionsgemeinschaften und Organisationen weiterreicht. Da finanziert also der letztlich der Staat die Kirchen und Religionsgemeinschaften. Da haben wir eine andere Tradition, die sich bewährt hat. Und zudem schränkt so eine Mandats- oder Kultursteuer die freie Entscheidung der Bürgerinnen und Bürger ein, weil sie verpflichtend ist. Das heißt: Ich kann zwar entscheiden, wofür ich die Abgabe zahle. Aber ich kann nicht entscheiden, die Abgabe nicht zu zahlen. Ich bin skeptisch, ob das auf große Akzeptanz stoßen würde.

"Wenn ich nicht genau weiß, wofür die Kirche eigentlich mein Geld ausgibt, dann fällt es wesentlich leichter auszutreten"

Was halten Sie von ermäßigten Kirchensteuersätzen speziell für Berufseinsteiger, die ja besonders häufig austreten, wenn sie das erste Mal die Kirchensteuer auf ihrem Lohnzettel sehen?

Meister: Das kann man überlegen, aber ich glaube auch da, dass ein ermäßigter Satz nicht viele Kirchenaustritte verhindern würde. Es geht doch um die Grundentscheidung: Ist mir die Arbeit, die die Kirche tut, es wert, dass ich sie dafür mit einem Teil meines Einkommens unterstütze - oder eben nicht. Wo wir noch deutlich besser werden müssen, ist, unsere Kirchenmitglieder darüber zu informieren, was durch ihre Kirchensteuer alles ermöglicht wird, etwa im Sozialbereich oder im Bildungssektor. Das ist oft gar nicht bekannt. Und wenn ich nicht genau weiß, wofür die Kirche eigentlich mein Geld ausgibt, dann fällt es wesentlich leichter auszutreten.

Viel diskutiert wird auch eine Art Mitgliedschaft auf Probe, also für einen begrenzten Zeitraum. Wäre das aus Ihrer Sicht vielversprechend?

Meister: Grundlegend für die Mitgliedschaft in der Kirche ist die Taufe, und die kann es nicht auf Probe geben. Aber es ist ja schon jetzt möglich, dass ich mich in der Kirche ehrenamtlich engagieren und nicht Kirchenmitglied bin. Das haben wir in den vergangenen Jahren erlebt als es darum ging, die Menschen, die zu uns geflüchtet sind, kurzfristig zu versorgen. Da waren auch viel Helferinnen und Helfer in den Kirchengemeinde dabei, die nicht Mitglieder waren. In unseren Chören singen nicht selten Menschen, die keine Kirchenmitglieder sind. Und ich weiß von kirchlichen Stiftungen, die wesentlich vom Engagement von Nicht-Kirchenmitgliedern leben. Es gibt also schon viele Möglichkeiten. Aber sicherlich müssen wir noch mehr daran arbeiten, Menschen einzuladen, sich bei uns zu engagieren.

Ist für Sie eine Kirchenmitgliedschaft auch ohne Taufe denkbar?

Meister: Nein, eine Mitgliedschaft ohne Taufe ist nicht vorstellbar.

Wie tief ist der Schmerz über die hohen Austrittszahlen?

Meister: Jeder Austritt ist schmerzlich und sehr ernüchternd, weil in ganz vielen Kirchengemeinden und kirchlichen Einrichtungen sehr gute und engagierte Arbeit geleistet wird.

Sollten die Gemeinden vor Ort das Werben um distanzierte Kirchenmitglieder verstärken?

Meister: Ja, aber das ist nicht in erster Linie nur Aufgabe der Gemeinden. Das ist auch Aufgabe der Landeskirche. Wir müssen die distanzierten Kirchenmitglieder erreichen und sei es nur mit einem Dankeschön - dafür, dass sie in der Kirche sind und mit Informationen, was durch ihre Kirchensteuer alles ermöglicht wird. Hier müssen wir besser werden, und da sehe ich durch die Digitalisierung gute Chancen, um eine niedrigschwellige und einfach umzusetzende Kommunikation möglich zu machen.

Muss sich die Kirche schlicht und einfach damit abfinden, dass sie kleiner wird?

Meister: Im dem Begriff "abfinden" klingt so etwas Resignatives mit. Wir werden weniger werden, wahrscheinlich sogar deutlich weniger. Aber davon müssen wir uns doch nicht entmutigen lassen. Denn das ändert ja nichts daran, dass wir gute und sinnvolle Arbeit für die Menschen, für unsere Gesellschaft und zum Lob Gottes machen! Ich bin sicher, dass es Kirche auch in 50 oder 100 Jahren an ganz vielen Orten überall in Niedersachsen geben wird. Wahrscheinlich wird sie ganz anders aussehen als heute. Sie wird individueller, digitaler und ökumenischer sein als im Jahr 2020. Und ganz sicher wird sie mit deutlich weniger Geld auskommen. Aber in ihrem Auftrag bleibt sie sich und Gott treu.